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Abwägung Staatsangehörigkeitsprinzip – Aufenthaltsprinzip

III. Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsprinzip in den Mitgliedstaaten

3. Abwägung Staatsangehörigkeitsprinzip – Aufenthaltsprinzip

Bei der Abwägung, welchem Anknüpfungsprinzip der Vorrang einzuräumen ist, muss beach-tet werden, dass das seit Jahrzehnten dominierende Staatsangehörigkeitsprinzip nicht mit der Begründung abgelehnt werden kann, es sei heute im Einzelfall nicht mehr Ausdruck einer engen Verbindung zwischen einer Person und einem Staat. Vielmehr muss die Verbindung einer Person zu ihrem Aufenthaltsort im Vergleich zu ihrem Heimatstaat die vermutlich enge-re sein und letzteenge-re nur noch in Ausnahmefällen eine nahe Beziehung zur Person begründen.

Ob das tatsächlich der Fall ist, kann der internationale Trend hin zur vermehrten Aufenthalts-anknüpfung indizieren. Diese Wende darf jedoch, um für „Rom III“ relevant zu sein, kein Zufallsprodukt sein, sondern muss vielmehr auf Gründen beruhen, die auch in Zukunft Gel-tung haben werden.

a) Tatsächlicher Trend vom Staatsangehörigkeitsprinzip zum Aufenthaltsprinzip und seine Begründung

Ein tatsächlicher Wechsel im autonomen Kollisionsrecht der Mitgliedstaaten, wie oben be-reits angesprochen557, unterstützt die Argumente für eine Fokussierung auf das Aufenthalts-prinzip; entscheidend ist aber, wie die einzelnen Schritte dieser Entwicklung jeweils vom Gesetzgeber und der Wissenschaft begründet wurden. So wurde bereits im internationalen Kindschaftsrecht im Haager Unterhaltsabkommen von 1956 die Anknüpfung an den Wohn-sitz und den gewöhnlichen Aufenthalt zu Lasten des Staatsangehörigkeitsprinzips als die „so-zialere und humanitärere Art“ begründet.558 Ähnlich ist es in den Reformen zum Kindschaftsrecht durch Gesetz vom 16. 12. 1997559 geschehen. Der Gesetzgeber hat die im internationalen Kindschaftsrecht vorherrschende Anknüpfung an das Ehewirkungsstatut durch die regelmäßige Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ersetzt. Aber auch schon im Kinderschutzübereinkommen von 1996560, welches das Haager Minderjährigenschutzab-kommen vom 5. 10. 1961 ablösen soll, fehlt diejenige Regelung, in welcher das Heimatrecht des Kindes noch eine Rolle spielt, Art. 3 MSA. Die Verdrängung des Staatsangehörigkeits-prinzips erfolgte hier aus materiellrechtlichen Schutzerwägungen und um eine einheitliche Rechtsanwendung unter der inländischen Wohnbevölkerung aufgrund spezieller

557 S. o. die Darstellungen zum Staatsangehörigkeitsprinzip und seinen Entwicklungen: Dritter Teil 3. Ab-schnitt § 4. I.

558 Dok. 8 (1957), 127.

559 Siehe die Änderungen in Art. 19-21 EGBGB.

560 Haager Übereinkommen vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerken-nung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnah-men zum Schutz von Kindern, s. Jayme/Hausmann, Nr. 55. Eine Ratifikation des KSÜ soll möglichst noch vor dem 1. 1. 2005 erfolgen: Solomon, FamRZ 2004, S. 1414.

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„Rom III“

127 gungen zu gewährleisten.561 Innerhalb der EU gelten ab dem 1. 3. 2005 die Art. 8 ff. EheVO II für die internationale Zuständigkeit des Gerichts im Bereich des Kindschaftsrechts. Auch dort wird an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes angeknüpft. Ebenso kehrt man im Un-terhaltsrecht vom Staatsangehörigkeitsprinzip ab.562 Im Haager Übereinkommen über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht vom 2. Oktober 1973563 ist in Art. 4 vorrangig auf das Recht am (neuen, Abs. 2) gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten abzustel-len. Nur ausnahmsweise richtet sich der Unterhaltsanspruch gemäß Art. 5 nach dem Heimat-recht des Unterhaltspflichtigen oder, was dem häufig gleichkommt, im Falle einer Scheidung nach dem Ehescheidungsstatut, vgl. Art. 8. Der Grund für diese Regelung liegt auf der Hand:

Die Gründe, nach denen sich der Unterhaltsbedarf berechnet, liegen dort, wo der/die Berech-tigte lebt. Die Höhe entspricht nur dann dem wirklichen Bedarf des UnterhaltsberechBerech-tigten, wenn auch das Rechtssystem angewendet wird, das die individuellen Lebensverhältnisse ge-setzlich bewertet und ordnet. Aus diesen Gründen richtet sich auch die internationale Zustän-digkeit gemäß Art. 5 Abs. 2 EuGVO nach dem Wohnsitz der einen oder anderen Partei.

Auch in den meisten Mitgliedstaaten, die ehemals vorrangig oder ausschließlich vom Staats-angehörigkeitsprinzip beherrscht wurden, zeigte sich in gewissen Rechtsbereichen eine Wen-de zur Anknüpfung an das Aufenthaltsprinzip. In Deutschland war es allgemein Wen-der Niedergang des nationalistischen Bewusstseins des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der die Staatsangehörigkeit in den Hintergrund und die funktionellere Anknüpfung an den Wohn-sitz in den Vordergrund rückte.564 Zum zweiten waren es zu einem späteren Zeitpunkt mate-rielle Schutzinteressen, die den Gesetzgeber bewegten, bei Kindern das sachnächste Recht, also das Recht des Staates, in dem das Kind sich aufhält, anzuwenden. Den Ehegatten sollte bspw. der Schutz durch das Gewaltschutzgesetz zugute kommen.565 Es kam vielfach zu Durchbrechungen des Staatsangehörigkeitsprinzips im EGBGB, die zeigten, dass diese rein

561 Eingehend dazu Mansel in: Jayme, Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, S. 126 ff. Ders. dort auch ausführlich zum Wechsel vom Staatsangehörigkeitsprinzip zum Aufenthaltsprinzip im deutschen Kol-lisionsrecht.

562 Vgl. dazu mit eingehender Begründung Henrich, FS für Stoll, S. 437 ff.

563 Das Übereinkommen ist für die BRD im Verhältnis zu Frankreich, Italien, Japan, Luxemburg, den Nieder-landen, Portugal, der Schweiz, Spanien und der Türkei am 1. 4. 1987 in Kraft getreten. Siehe Jay-me/Hausmann, Nr. 41.

564 Hellwig, S. 34 ff.; ebenso Schwind, FS für Müller-Freienfels, S. 554. Schwind spricht von der „Funktionali-tät des IPR“, eine optimal rechtliche Konfliktlösung zu gewährleisten: „Dort, wo jemand wohnt, wo er sich dauernd aufhält, dort lebt er auch in der Rechtsgemeinschaft und die Anwendung des dort geltenden Rechts ist funktional näher liegend.“. Anders noch Gollrad, S. 154.

565 MüKo/Sonnenberger, Einl. IPR, RN 636: „Während die Staatsangehörigkeit in Angelegenheiten, in denen die Kontinuität des Heimatbezugs im Vordergrund steht, weiterhin maßgeblich ist, musste sie in Fragen weichen, in denen insbesondere Fürsorgebedürfnisse der betroffenen Personen im Staate ihres gewöhnli-chen Aufenthalts als vorrangig anerkannt sind.“. Vgl. Art. 18 Abs. 1 S. 1, Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB.

mechanische Anknüpfung den Interessen der Parteien häufig nicht gerecht wurde.566 Dies kommt auch in der bereits genannten niederländischen Regelung zum Ausdruck, nach der die Staatsangehörigkeit als nicht bestehend fingiert wird, wenn sie sich als offensichtlich ineffek-tiv herausstellt.567 Anfang des 19. Jahrhunderts löste in den Niederlanden die Staatsangehö-rigkeitsanknüpfung das Wohnsitzprinzip ab. Sie wurde aber wiederholt von Rechtsprechung und Lehre durchbrochen.568 Zunächst erwies sich das Staatsangehörigkeitsprinzip im Ver-gleich zum Wohnsitzprinzip nur im Bereich des Kinderschutzes und im Falle von Mehrstaa-tern als nicht praktikabel und interessengerecht. In Anlehnung an die Haager Abkommen (s.

o.) bildete sich in den Niederlanden eine Einstellung heraus, die in einem Urteil der Recht-bank Amsterdam vom 18. 6. 1980 treffend dargestellt wurde. Demnach könne „das Leben beider Parteien mit einem anderen Staat als dem der Staatsangehörigkeit verbunden sein und die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Indiz eines Bandes mit einer Rechtsordnung gelten.“569 Ähnliche Entwicklungen zeigten sich auch in Belgien, Italien und in geringem Maße in Öster-reich. In Belgien wurde um 1804 an die „Nationalität“ angeknüpft. Damit war allerdings nicht die Staatsangehörigkeit von Ausländern gemeint, sondern nur jene von Belgiern im In- und Ausland. Abgelöst würde diese Anknüpfung durch das Staatsangehörigkeitsprinzip. Im Be-reich des internationalen Familienrechts wurde es inzwischen aber bei einer gemischt-nationalen Ehe durch das Aufenthaltsprinzip ersetzt.570 Herrschte in Österreich noch Mitte des 19. Jahrhunderts, orientiert an v. Savigny, die Anknüpfung an den Wohnsitz, so kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Vesque von Püttlingen zu einem Wechsel zum Heimatprinzip.571 Der Ursprung des Staatsangehörigkeitsprinzips beruhte aber nicht wie übli-cherweise auf dem Bewusstsein kultureller Identität. In Österreich war entscheidend, dass eine Zugehörigkeit zum Staatenverband in einem Vielvölkerstaat gesucht wurde. 572 Dieses Bestreben führte anders als etwa in der Schweiz nicht zum Wohnsitz-, sondern zum Staatsan-gehörigkeitsprinzip. An dessen vorrangiger Position hat sich zwar bis heute nichts geändert.

Jedoch wird vielfach im Besonderen Teil des österreichischen Internationalen Privatrechts zumindest subsidiär an den gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft.

566 Kropholler, Internationales Privatrecht, § 4 IV.

567 Siehe dazu näher Boele-Woelki, RabelsZ 1984, S. 785.

568 Dazu ausführlich Stille, Abweichung von der Staatsangehörigkeitsanknüpfung bei ineffektiver Staatsange-hörigkeit von Monostaatern – Die aktuelle Entwicklung in den Niederlanden, in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 223 ff. (225) m. w. N.

569 Vgl. Stille, a. a. O., in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 231.

570 Dazu ausführlich Lenaerts, Der Staatsangehörigkeitsgrundsatz im belgischen Internationalen Privatrecht, in:

Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 165 ff. (174 ff.) und oben Erster Teil 1. Abschnitt § 3.

571 Ausführlich zur Entwicklung der Anknüpfungspunkte im österreichischen Internationalen Privatrecht: Rei-chelt, Staatsangehörigkeit und Internationales Privatrecht in Österreich – Vesque von Püttlingen, in: Jay-me/Mansel, Nation und Staat, S. 125 ff.

572 Reichelt, a. a. O, in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 133.

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129 Während im italienischen Internationalen Privatrecht von 1865 bis 1942 über den Stand, die Fähigkeit von Personen und die Familienverhältnisse noch ausschließlich durch das Nationali-tätsprinzip bestimmt wurden, veränderten gesellschaftliche Entwicklungen im Land die Schwerpunktanknüpfung: So führte die vermehrte Auswanderung von italienischen Staats-bürgern sowie die Zurückdrängung des Vatervorranges durch den Gleichberechtigungsgrund-satz zu der Feststellung, dass die Anknüpfung an das eigene nationale Recht mittlerweile nutzlos geworden sei.573 Nach einer Vielfalt von Vorschlägen, die verstärkt die Erfordernisse des Einzelfalles bzw. das Effektivitätsprinzip beachteten, herrschen heute im Internationalen Privatrecht Italiens Staatsangehörigkeits-, Domizilprinzip und das Prinzip der engsten Ver-bindung. Zwar ist die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit primärer Anknüpfungspunkt geworden und wird es auch vorläufig bleiben.574 Allerdings ist dadurch, dass das Domizil-prinzip und das Prinzip der engsten Verbindung hinzugetreten sind, eine Abkehr vom unab-dingbaren Nationalitätsbewusstsein, einem entscheidenden Grundstein des Staatsangehörigkeitsprinzips, zu verzeichnen.

Auch in den finnischen IPR-Reformgesetzen wurde – im Gegensatz zu dem Gesetz von 1929 – das Aufenthaltsprinzip als vorrangiger Anknüpfungspunkt normiert.575

Zwei aufeinander folgende entscheidende Erkenntnisse kommen in den Entwicklungen dieser Mitgliedstaaten zum Ausdruck: Zum einen, dass die Suche nach der engsten Verbindung zu einem Ergebnis führt, das den Individualinteressen der Beteiligten und damit der Aufgabe des Internationalen Privatrechts am nächsten kommt. Zum zweiten, dass die engste Verbindung eher zum Aufenthaltsort als zum Heimatstaat besteht.576

An diesem zweiten Punkt scheiden sich noch heute die Geister. Doch auch schon in Bezug auf die positiven Nebeneffekte des Aufenthaltsprinzips gehen die Meinungen auseinander:

Die Befürworter eines vorrangigen Aufenthaltsprinzips577 sehen die neuen Erkenntnisse und

573 Lettieri, Die beabsichtigte italienische IPR-Reform unter besonderer Berücksichtigung des Staatsangehö-rigkeitsprinzips, in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 210 ff.

574 Lettieri, a. a. O., in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 219; siehe dazu ausführlich auch Sturm, FS für Schnyder, S. 761 ff. (767).

575 Staudinger/Hausmann, Anhang zu Art. 4 RN 142.

576 Welche Anforderungen an die engste Verbindung im europäischen (Scheidungs-) Kollisionsrecht zu stellen sind, und warum der gewöhnliche Aufenthalt sie erfüllt, wird später (Dritter Teil 3. Abschnitt § 4. IV. 4. c)) näher erläutert. Anderer Ansicht in Bezug auf die Entwicklungen in Deutschland ist nach wie vor Mansel, a. a. O., in: Jayme, Kulturelle Identität, S. 129. Seiner Ansicht nach sind es ausschließlich Schutzinteressen des Staates und die Erwägung, die inländische Wohnbevölkerung gleichzustellen.

577 U. a. MüKo/Sonnenberger, Einl. IPR, RN 545; Siehr, ebenda, zu Art. 19 EGBGB; Rohe, FS für Roethoft, S. 19, 31; Braga, RabelsZ 1953, S. 246; Neuhaus/Kropholler, FamRZ 1980, S. 753; Levante, S. 294; Base-dow, Das Staatsangehörigkeitsprinzip im Einwanderungsland – Zu den soziologischen und ausländerpoliti-schen Grundlangen der Nationalitätsanknüpfung im Internationalen Privatrecht, in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 13 ff.; gegen eine völlige Ersetzung des Staatsangehörigkeitsprinzips trotz starker Bevorzu-gung des Aufenthaltsprinzips: Wagner, IPRax 2001, S. 519, Pirrung, FS Lüderitz, S. 552, Henrich, FS für

den Wandel zum Aufenthaltsprinzip lediglich als Konsequenz veränderter Umstände: Nach ihrer Ansicht ist es vor allem der ständig steigende Ausländeranteil578, insbesondere etwa in Deutschland579, gewesen, der ein Umdenken erforderte. Früher hätten die Staatsangehörigkeit und der Aufenthaltsort bzw. der Wohnsitz einer Person in den meisten Fällen übereinge-stimmt, sodass eine Unterscheidung zwischen beiden keine praktischen Auswirkungen auf die Beurteilung ihrer persönlichen Verhältnisse und die Gerichtspraxis gehabt hätte. Wenn dage-gen heute stets an die Staatsangehörigkeit angeknüpft würde, käme vermehrt ausländisches Recht zur Anwendung. Damit seien die Gerichte vielfach überfordert. Zudem sei es der Integ-ration abträglich, wenn in einem Land die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nach unter-schiedlichen Rechtsordnungen leben würden.580

Dagegen wenden einige Stimmen ein, die Anwendung fremder Rechtsordnungen ließe sich nicht durch die generelle Einführung des Aufenthaltsprinzips verhindern und eine Gleichbe-handlung von Personengruppen in einem Land sei nicht möglich.581 Hellwig ist der Ansicht, dass viele Personen mangels einer mehrjährigen Aufenthaltsdauer ohnehin keinen gewöhnli-chen Aufenthalt begründen würden.582 Weiterhin bedeute doch nicht der Aufenthalt verschie-dener Personen in einem Staat, dass alle deshalb auch gleich behandelt werden müssten.

Diese Ansicht verkennt, dass es nicht das Ziel eines europäischen Kollisionsrechts sein kann, die Anwendung ausländischen Rechts gänzlich auszuschließen und jegliche fehlende Integra-tion innerhalb Europas vollständig zu beheben. Das Zusammenleben verschiedener NaIntegra-tionali- Nationali-täten wird stets tatsächliche und rechtliche Reibungspunkte in sich bergen. Die Gerichte können und müssen daher gar nicht vor der Anwendung ausländischen Rechts verschont wer-den. Ein Fortschritt wäre es schon, wenn die Anzahl der Fälle sinkt, in denen fremdes Rechts anzuwenden ist. Dieser positive Nebeneffekt eines neuen Scheidungskollisionsrechts ist mit

Stoll, S. 437 ff.; Braga, Staatsangehörigkeitsprinzip oder Wohnsitzprinzip?, S. 55; v. Schilling, RabelsZ 1931, S. 637; Kropholler, Internationales Privatrecht, § 38 III.

578 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2000, S. 14 ff. Tabellen 2, 3 und 5.

579 Braga bezieht sich in seiner Argumentation auf alle Staaten, die sich als Einwanderungsland verstehen:

Braga, RabelsZ 1953, S. 229. S. a. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2000, S. 13 Tabellenteil 1; Statistisches Bundesamt, Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit 2001 (down-load).

580 Vgl. Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, S. 220 m. w. N. in FN 603; Braga, Staatsangehörigkeitsprinzip oder Wohnsitzprinzip, S. 39 f.; Basedow/Diehl-Leistner, Das Staatsangehörigkeitsprinzip im Einwanderungs-land, in: Jayme/Mansel, Nation und Staat, S. 42 f.

581 Hellwig, S. 126 f. Hellwig bezieht sich zwar auf Deutschland, ihre Argumentation beansprucht aber Allge-meingültigkeit. Sie befürwortet zwar Durchbrechungen des Staatsangehörigkeitsprinzips. Im Scheidungs-recht jedoch nicht, weil in einem derart intimen Rechtsbereich die Bindung zum Heimatstaat besonders eng sei: Hellwig, S. 135. In dieselbe Richtung gehend: Mansel, Personalstatut, S. 74; ebenso die Meinung des MPI 1980: MPI, RabelsZ 1980, S. 344 f. Vgl. des Weiteren zur Kritik am Aufenthaltsprinzip Base-dow/Diehl-Leistner, a. a. O., S. 39 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, S. 219; s. a. Ficker, FS für Nipper-dey, S. 316 m. w. N.

582 Hellwig, S. 126, 181.

Die Vereinheitlichung des internationalen Scheidungsrechts –

„Rom III“

131 der vorrangigen Aufenthaltsanknüpfung zu erreichen. Entgegen Hellwigs Behauptung ist schließlich ein mehrjähriger Aufenthalt zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts gar nicht erforderlich, weil eine feste Zeitdauer kein Kriterium, sondern nur ein Indiz ist583. Selbst wenn für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, so werden sie doch auf einen Großteil der im Ausland lebenden Personen zutref-fen. Gleiches gilt für die integrationsfördernde Gleichbehandlung der im Ausland lebenden Menschen. Hellwig584 ist zwar zu Recht der Meinung, Integration sollte eher in den sozialen und gesellschaftlichen als in den regelnden Bereichen stattfinden. Damit übersieht sie aber, dass fehlende integrationsfördernde Maßnahmen im gesetzlichen Bereich ein Hindernis für die soziale und gesellschaftliche Integration sein können. Denn ist es nicht für den Ausländer einfacher, sich in einem neuen Staat einzuleben, wenn er sich auch den Rechtsregeln dieses Staates unterwirft? Daher ist es der Integration durchaus förderlich, wenn die meisten Aus-länder diese Chance erhalten. Die Auswirkungen des Aufenthaltsprinzips entsprechen somit durchaus Verkehrs-, Ordnungs- und Integrationsinteressen.

Entscheidend dafür, welches Anknüpfungsprinzip in einem europäischen Scheidungskollisi-onsrecht vorrangig normiert werden sollte, ist jedoch, ob mit Hilfe des Aufenthalts- oder des Staatsangehörigkeitsprinzips den Parteiinteressen am ehesten entsprochen wird. Die Meinun-gen von Befürwortern und Gegnern585 eines vorrangigen Aufenthaltsprinzips unterscheiden sich primär in der Frage, worin das Parteiinteresse überhaupt besteht. Hinter dem internatio-nalen Trend verbirgt sich ein Wandel des vom Staatsangehörigkeitsprinzip getragenen Konti-nuitätsinteresses hin zum fortschreitenden Integrations- bzw. Anpassungsinteresse586. Trotzdem vermuten die Gegner des Aufenthaltsprinzips ein nach wie vor bestehendes Konti-nuitätsinteresse der Parteien. Das ehemals viel gepriesene KontiKonti-nuitätsinteresse wurde und wird noch heute damit begründet, dass die Rechtsvorstellungen, nach denen eine Person ihr Leben ausrichtet, durch die kulturellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse

583 Siehe bereits die Feststellung oben Dritter Teil 3. Abschnitt § 4. II. FN 518.

584 Hellwig, S. 127.

585 MPI, RabelsZ 1980, S. 345 ff.; Fischer, a. a. O., in: V. Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internati-onales Privatrecht, S. 164; Kegel/Schurig, IPR, § 13 II 3.; Jayme, Pasquale Stanislao Mancini, S. 40; Lüde-ritz, FS für Kegel, S. 47 befürwortet das Staatsangehörigkeitsprinzip bei Änderungen von familienrechtlichen Verhältnissen, nicht aber in Bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung; Hellwig, S. 126 ff.; Sturm, FS zum 50-jährigen Bestehen des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, S. 165; Mansel, Personalstatut, S. 75 ff., 466 ff., gestützt auf Überlegungen von Wengler, Beitzke und Boele-Woelki. Er bezieht sich jedoch im Wesentlichen auf die Si-tuation Anfang der 80-er Jahre, die sich mittlerweile erheblich verändert hat.

586 Das Anpassungsinteresse wurde schon früh im Hinblick auf die vermögensrechtlichen Auswirkungen des Personalstatuts bejaht: Fischer, a. a. O., in: V. Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, S. 165; Gollrad spricht von der „Umweltbezogenheit“ des Unterhaltsstatuts: Gollrad, S. 157;

ebenso: Lüderitz, FS für Kegel, S. 36; BGHZ 56, 193.

prägt würden, unter denen sie aufgewachsen sei.587 Das waren damals die Verhältnisse des Heimatstaates. Davon ging auch der deutsche Gesetzgeber aus, als er die Beibehaltung des vorrangigen Staatsangehörigkeitsprinzips begründete. Seiner damaligen Ansicht nach sind die Menschen bei den auf Dauer angelegten Statusverhältnissen und deren Änderungen an Stabi-lität und Sicherheit interessiert.588 Diese Begründung war schon seinerzeit nicht schlüssig.

Der Gesetzgeber erkannte nämlich gleichzeitig, dass die internationale Beweglichkeit der Be-völkerung zunehme. Warum sollte der Wunsch der Menschen, ihr Leben nicht unbedingt im Heimatland fortzuführen, konträr zu dem Interesse verlaufen, nach einer bestimmten Rechts-ordnung geschieden zu werden? Heute, zwanzig Jahre später, ist der Ort, an dem eine Person aufwächst oder ihr Leben verbringt, nicht unbedingt mehr der Heimatstaat. In der Regel iden-tifiziert sie sich mit den Werten, den Grundeinstellungen und somit auch mit dem Rechtssys-tem des Staates, in dem sie lebt. Das ist die Grundvoraussetzung für die eigene und heute vielfach angestrebte Integration. Noch vor etwa vierzig Jahren entsprach es dem Kontinuitäts-interesse, dass Rechtspositionen trotz Wohnsitzwechsels erhalten blieben. Dagegen ist ge-genwärtig das Bemühen um die Integration sowohl seitens der EU-Bürger als auch des nationalen und europäischen Gesetzgebers viel stärker als früher, weil die Migration der Bür-ger zugenommen hat und der Rückzug in das Heimatland nicht mehr selbstverständlich ist.589 Soll ein seit fünf Jahren in Deutschland lebender Österreicher, dem das österreichische Ehe-recht die Scheidung mangels Ablaufs der sechsjährigen Trennungsfrist versagt, nirgends in Europa das Eheband lösen können? Soll er dafür gar seine Staatsangehörigkeit wechseln?

Selbst wenn er sich dazu entschließen würde, könnte das österreichische Staatsangehörig-keitsrecht darüber entscheiden, wann die Ehe geschieden wird. Derartige Vorstellungen sto-ßen heute auf Unverständnis. Diesen gesellschaftlichen Wandel und seine Konsequenzen übergeht Hellwig. Sie vermutet ohne nähere Begründung, dass Personen, die sich nur wenige Jahre in einem Land aufhalten, keine Orientierungsvorgaben nach dortigem Recht wollten.

Richtig daran ist, dass sich der Betroffene entweder bei einer beabsichtigten oder bei einer tatsächlichen Rückkehr ins Heimatland vermutlich nach wie vor der Rechtsordnung des Hei-matlandes unterstellen möchte. Von den beiden Varianten kann im Rahmen einer Untersu-chung der Nähebeziehung nur die erste betrachtet werden: Bei einer bereits vollzogenen

587 So etwa Fischer, a. a. O., in: V. Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, S. 164; Mansel, Personalstatut, S. 72 ff.; Jayme, IPRax 1996, S. 242: Nach Jayme sagt die

587 So etwa Fischer, a. a. O., in: V. Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, S. 164; Mansel, Personalstatut, S. 72 ff.; Jayme, IPRax 1996, S. 242: Nach Jayme sagt die