V A R I A
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 39½½½½29. September 2000 AA2549
Das Colon irritabile galt bis- her als ein Beispiel für eine primär psychogene Erkran- kung. Tatsächlich zeigen viele Patientinnen – die Erkran- kung tritt bei Frauen viermal so häufig wie bei Männern auf – oft psychologische Auffällig- keiten von Somatisierungen, bis hin zu manifesten Depres- sionen und Zwangsneurosen.
Nicht selten führen die Patien- tinnen selbst die Erkrankung auf psychologische Trigger wie Stress zurück, was durchaus plausibel ist, da in Experimen- ten Stress auch bei Gesunden den intrakolonischen Druck erhöhen kann.
Neuere Untersuchungen bestätigen, dass es eine Ver- bindung zwischen Hirn und Darm gibt – allerdings nicht nur auf der Ebene der Psyche, sondern auch in neurologi- schen Schaltkreisen. Danach liegt den Symptomen des Co- lon irritabile zweierlei zu- grunde. Einmal führt eine ge- störte intestinale Motilität zur verkürzten Transitzeit und damit zur Diarrhö. Zum an- deren scheint die viszerale Perzeption gesteigert zu sein, was die heftigen subjektiven Beschwerden erklärt. An bei- den Störungen könnten Neu- rotransmitter des enteralen Nervensystems beteiligt sein.
Diskutiert werden Störun- gen im Bereich von 5-Hy- droxytryptamin (5-HT3, 5- HT4), Cholezystokinin, Dopa- min, Substanz P oder auch alpha-2-adrenergen Stimuli.
Dies hat zur Entwicklung einer
Reihe neuer Therapieprinzipi- en geführt (siehe Tabelle). Am weitesten ist die Firma Glaxo Wellcome mit dem 5-HT3-An- tagonisten Alosetron. Alose- tron hemmt die Wirkung des enterischen Neurotransmitters 5-HT, der in den enterochro- maffinen Zellen des Darms ge- bildet wird. Das soll sowohl die zentralnervöse abdominelle Schmerzwahrnehmung min- dern, als auch die abdominale Motilität und Schleimsekreti- on reduzieren – also beiden pa- thophysiologischen Verände-
rungen beim Colon irritabile entgegenwirken.
Das Unternehmen hat zwei placebokontrollierte Phase- III-Studien durchgeführt, de- ren Ergebnisse kürzlich in Hamburg vorgestellt wurden.
Die wichtigste, weil größ- te mit Reizdarm-Patientinnen
durchgeführte Studie (647 Teilnehmerinnen mit überwie- gender Diarrhö) wurde in Lan- cet (2000; 355: 1035–1040) pu- bliziert.
Die Therapie von zweimal täglich 1 mg Alosetron führte bereits nach der ersten Wo- che zu einer besseren Linde- rung der Schmerzsymptome als in der Placebogruppe. Der Unterschied erreichte in der zweiten Woche Signifikanzni- veau und die Verbesserung von Stuhldrang, Stuhlkonsi- stenz und -frequenz blieben bis zum Ende der gesamten zwölf Behandlungswochen bestehen. Nach Ende der Be- handlung kehrten die Sym- ptome allerdings rasch auf das Ausgangsniveau zurück.
Vor allem die Tatsache, dass damit erstmals für ein Medikament eine Wirksam-
keit in placebokontrollierten Studien (insgesamt 1 273 Pati- entinnen) nachgewiesen wur- de, veranlasste die FDA, das Medikament im Februar zur Behandlung von Frauen mit Colon irritabile (bei überwie- gender Diarrhö) zuzulassen.
In beiden Studien berichteten
zwischen 50 bis 60 Prozent der Frauen über eine Linderung der Schmerzen, während es in der Placebogruppe 35 bis 45 Prozent waren. Damit be- stätigt die Studie indirekt auch die gute Wirksamkeit einer psychologischen Intervention, selbst wenn diese vorwiegend auf einer Placebowirkung be- ruhen sollte. Die vermehrte Zuwendung in der Studie, vielleicht auch allein der Glau- be, jetzt von den Experten ein wirksames Arzneimittel zu er- halten, führte jedenfalls auch in der Placebogruppe zu er- staunlichen Ergebnissen.
Bei 30 Prozent der Alo- setron-Patientinnen (Placebo drei Prozent) entwickelte sich eine subjektiv empfundene Obstipation, die 30 Prozent dieser Patientinnen zum Ab- bruch der Behandlung veran- lasste (Laxanzien waren nicht erlaubt). Außerdem entwik- kelten in den Studien insge- samt vier Patientinnen eine akute Colitis. Sie besserte sich nach Absetzen des Medi- kamentes sofort wieder, und es muss nicht unbedingt eine kausale Beziehung bestehen.
Vielleicht bringt die erste medikamentöse Therapie mit nachgewiesener Wirksamkeit Bewegung in die wissenschaft- liche Untersuchung des Colon irritabile. Die Krankheit führt ein wenig ein Schattendasein, obwohl in Deutschland etwa zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter 65 Jahren an den Symptomen eines Reiz- darmsyndroms leiden soll. Gla- xo Wellcome hat die Zulassung in Europa beantragt. Mit einer Entscheidung rechnet der Her- steller aber nicht vor dem er- sten Quartal 2001. Der Kon- kurrent Novartis prüft zur- zeit, ob sein 5-HT3-Antagonist auch bei männlichen Patienten wirksam ist. Rüdiger Meyer
Colon irritabile
Neue Therapieansätze beim Reizdarmsyndrom
´ TabelleCC´
Kommende Therapieansätze des Colon irritabile 5-HT3-Antagonist Alosetron, Cilansetron Partieller 5-HT4-Agonist Tegaserod
5-HT4-Agonist Prucaloprid*
Cholecystokinin-A-(CCKA)-
Antagonist Dexoxyglumid
Dopamin-2-Antagonist Levosulprid Substance-P-Antagonist NN M3-cholinergische-Rezeptor
Antagonist NN
Alpha-2 adrenergischer Agonist NN Kappa-Opioid-Agonist NN
* für funktionelle Konstipation Quelle: Lancet