M E D I Z I N
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A2632 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 404. Oktober 2002
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as hyperkinetische Syndrom (auch als Aufmerksamkeitsdefizit-Hy- peraktivitäts-Syndrom [ADHS]bezeichnet) und die Legasthenie (Dys- lexie) sind bedeutsame psychische Stö- rungen bei Kindern des Vorschul- und Schulalters, die seit einiger Zeit nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die Diskussion in der Öffentlichkeit be- herrschen. Dies hat verschiedene Grün- de, die nicht zuletzt in den Gemeinsam- keiten liegen, die beide Störungen kenn- zeichnen.
> Beide Störungen sind häufig. Et- wa zwei bis drei Prozent der Vorschul- kinder und der Schulkinder bis zum 12.
Lebensjahr leiden an einem hyperki- netischen Syndrom und fünf bis sieben Prozent der Zweit- beziehungsweise Drittklässler in Grundschulen an einer Legasthenie.
> Beide Störungen haben beträcht- liche Auswirkungen auf das Lern- und Leistungsverhalten der Schülerinnen und Schüler.
> Sowohl das hyperkinetische Syn- drom als auch die Legasthenie sind häufig assoziiert mit emotionalen Störungen und mit Störungen des Sozi- alverhaltens, die zusätzliche Probleme bereiten.
> Die beiden Störungen kommen häufig gemeinsam vor: Etwa 20 Pro- zent der Kinder mit einem hyperkine- tischen Syndrom leiden auch an einer Legasthenie und etwa 20 bis 30 Pro- zent der Kinder mit einer Legasthenie an einem hyperkinetischen Syndrom.
> Beide Störungen gehören zu den überdauernden psychischen Störungen, das heißt, bei einem Großteil der Kin- der setzen sich die Störungen (sowohl das hyperkinetische Syndrom als auch die Legasthenie) bis ins Erwachsenen- alter fort und bereiten auch in dieser Lebensphase weiterhin Probleme.
> Neuere Erkenntnisse der For- schung zeigen, dass bei beiden Störun- gen sowohl genetische Faktoren eine Rolle spielen als auch Störungen im Bereich der Neurotransmitter (hyper- kinetisches Syndrom) beziehungswei- se der zentralen Informationsverarbei- tung (Legasthenie).
> Für beide Störungen gibt es wirk- same Therapieansätze, die zu bedeut- samen Behandlungserfolgen führen, jedoch die Störung nicht völlig beseiti- gen können.
> Untersuchungen zum Langzeit- verlauf zeigen, dass ein Teil der hyper- kinetischen Kinder später zu Drogen- abhängigkeit, dissozialem Verhalten und Delinquenz neigen, wohingegen Erwachsene mit einer Legasthenie nicht nur ungünstige berufliche Chan- cen haben, sondern ebenfalls häufig dissoziale und delinquente Verhaltens- weisen entwickeln.
Diese Punkte sowie weitere Fragen unter anderem zur Diagnostik, zur Ätio- logie, zum Verlauf und zur Behandlung der beiden Störungen wurden beim 26.
Interdisziplinären Forum der Bunde- särztekammer „Fortschritt und Fortbil- dung in der Medizin“, das vom 10. bis 12.
Januar 2002 in Köln stattfand, erörtert.
Hyperkinetisches Syndrom
Martin Heinrich Schmidt, Mannheim, berichtete, dass das hyperkinetische Syndrom bereits lange bekannt ist, nicht zuletzt durch den „Zappelphi- lipp“ im „Struwwelpeter“ des Psychia- ters Heinrich Hoffmann, und dass be- reits 1937 Charles Bradley Kinder mit dieser Störung mit Stimulanzien be- handelte. Bezüglich der Diagnostik, so Schmidt, wird heute nach den Kriterien der beiden psychiatrischen Klassifika-
tionssysteme ICD-10 und DSM-IV vor- gegangen, wobei es darum geht, die drei Hauptmerkmale der Störung: Auf- merksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität, möglichst genau und standardisiert zu erfassen und auch festzustellen, ob diese Symptomatik situationsübergreifend (zum Beispiel in der Schule, zu Hause und in der Frei- zeit) vorkommt. Hierfür gibt es Skalen wie die Conners-Skala oder die Child Behavior Checklist (CBCL), aber auch standardisierte Beobachtungen und Geräte, die es erlauben die drei Sym- ptome gleichzeitig während einer Auf- merksamkeitstestung zu objektivieren.
Differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden muss das hyperkinetische Syn- drom zunächst von der normalen mo- torischen Aktivität im Kindesalter, fer- ner von Störungen des Sozialverhal- tens, die vorwiegend das Merkmal der Impulsivität zeigen, von Intelligenz- minderungen mit Hyperaktivität und autistischen Störungen, erläuterte Schmidt. Bezüglich der Ätiologie geht man heute von einem Zusammenwir- ken genetischer und Umweltfaktoren aus, wobei ein Ungleichgewicht im do- paminergen System eine zentrale Rol- le zu spielen scheint. Für eine Subgrup- pe hyperkinetischer Kinder, nämlich solche mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, wurde bereits ein Polymorphismus in einem Allel des D4-Rezeptors gefunden.
Zum Verlauf stellte Schmidt fest, dass 30 bis 70 Prozent der Betroffenen ihre Symptomatik beibehalten, wobei sich das klinische Bild dahingehend än- dert, dass die Hypermotorik zurück- geht, aber die Aufmerksamkeitsstörung und die Impulsivität mehr oder weniger erhalten bleiben.
Beate Herpertz-Dahlmann und Sabi- ne Herpertz,Aachen, wiesen darauf hin,
Kongressbericht
Hyperkinetisches Syndrom und Legasthenie
Diagnostik, Ätiologie, Krankheitsverlauf und Behandlung
Helmut Remschmidt
dass Störungen des Sozialverhaltens, umschriebene Entwicklungsstörungen, Angst und affektive Störungen sowie Tic-Störungen häufig gemeinsam mit dem hyperkinetischen Syndrom vor- kommen und dass Kinder mit einem hy- perkinetischen Syndrom, die gleichzei- tig eine Störung des Sozialverhaltens haben, die ungünstigste Prognose auf- weisen. Sie entwickeln häufig eine anti- soziale Persönlichkeitsstörung im Er- wachsenenalter mit kriminellem Ver- halten. Dabei ist es wichtig, dass sich diese Subgruppe hyperkinetischer Kin- der bereits im Kindesalter von der an- deren Gruppe (ohne Störungen des So- zialverhaltens) durch eine verminderte autonome Reaktivität (gemessen als Veränderung des Hautwiderstandes) unterscheiden lässt.
Hinsichtlich der Therapie des hyper- kinetischen Syndroms betonte Gerd Lehmkuhl, Köln, dass die Behand- lungsstandards der Deutschen Gesell- schaft für Kinder- und Jugendpsychia- trie und Psychotherapie sowie der American Academy of Child and Ado- lescent Psychiatry grundsätzlich von ei- nem multimodalen Behandlungskon- zept ausgehen, das sowohl eine medi- kamentöse als auch eine psychothera- peutische Behandlung der Kinder und psychoedukative Maßnahmen bezüg- lich der Eltern umfasst. Die meisten empirischen Studien, so Lehmkuhl, be- legen eine geringfügig bessere Wirk- samkeit der multimodalen Behandlung im Vergleich zu einer ausschließlichen Behandlung mit Stimulanzien. Lehm- kuhl wies darauf hin, dass sich die Ver- ordnung von Methylphenidat zwischen 1991 und 1999 mehr als verzehnfacht hat, was zu einem kleinen Teil wahr- scheinlich auf eine nicht indizierte Indi- kation zurückzuführen ist.
Legasthenie
Auch die Legasthenie wird heute nach den beiden diagnostischen Klassifika- tionssystemen ICD-10 und DSM-IV diagnostiziert und ist dort als eine
„Entwicklungsstörung schulischer Fer- tigkeiten“ beschrieben, erklärte An- dreas Warnke, Würzburg. Die Sympto- matik (Rechtschreibstörungen, Ver- tauschen von Wörtern im Satz, Un-
fähigkeit, Gelesenes wiederzugeben und anderes) kann bereits im ersten Schuljahr festgestellt und spätestens im zweiten sicher diagnostiziert wer- den. Hierfür gibt es standardisierte Tests. Im Hinblick auf die Legasthe- nie geht man heute von einer hohen Bedeutung genetischer Faktoren aus, die für die besonderen Schwierigkei- ten der sprachlichen und visuellen In- formationsverarbeitung, insbesondere der phonologischen Information, ver- antwortlich sind. Auch ein Zeitfaktor spielt eine wichtige Rolle. Differenzial- diagnostisch geht es um die Abgren- zung von neurologischen Erkrankun- gen, Sinnesstörungen (Seh- oder Hör- störungen) sowie von Störungen der Lese-Rechtschreib-Fähigkeit infolge anderer psychiatrischer Erkrankungen (zum Beispiel Schizophrenie). Bezüg- lich des Langzeitverlaufes wies Warn- ke darauf hin, dass Kinder mit einer Legasthenie auch später als Heran- wachsende und Erwachsene im Hin- blick auf ihre soziale Integration und die berufliche Entwicklung erheblich beeinträchtigt sind und dass das Delin- quenzrisiko im Alter von 18 Jahren et- wa um das Fünffache höher sei als bei Gleichaltrigen, die nicht an einer Le- gasthenie leiden.
Einen zentralen Stellenwert in der Ätiologie der Legasthenie nehmen phonologische Defizite ein, berichtete Bernd Blanz, Jena. Trotz zunehmender Lesekompetenz im Verlaufe der Ent- wicklung bleibt bei Menschen mit Le- gasthenie ein Defizit erhalten, welches darin besteht, dass die an der Sprach- verarbeitung beteiligten Hirnareale nicht synchron aktiviert werden. Die Anwendung bildgebender Verfahren, mithilfe derer bereits die genannten Ergebnisse erarbeitet wurden, so Blanz, verspricht in den nächsten Jah- ren ein weitergehendes Verständnis der zugrunde liegenden pathogeneti- schen Prozesse zu befördern.
Angesichts der Hartnäckigkeit der Störung und ihrer Persistenz stellt sich die Frage, ob es überhaupt effektive therapeutische Interventionen gibt.
Dass dies der Fall ist, erläuterte Gerd Schulte-Körne, Marburg. Die Förde- rung im Grundschulalter orientiert sich am Entwicklungsmodell des Schrift- sprachenerwerbs. Unter Berücksichti-
gung dieser Konzeption werden über- wiegend Förderkonzepte eingesetzt, die auf der alphabetischen (phonologi- schen) und auf der orthographischen Entwicklungsstufe ansetzten (symptom- orientierte Förderkonzepte). Zusätzlich zu diesen, deren Wirksamkeit belegt ist, haben Methoden, die ausschließlich auf eine Förderung von Wahrnehmungs- vorgängen abzielen, ihre Wirksamkeit noch nicht demonstrieren können, be- tonte Schulte-Körne. Ein großes Hin- dernis im Hinblick auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ei- ner Legasthenie sind die sozialrechtli- chen Probleme, denn die Legasthenie wird nicht zu den Erkrankungen im Sinne des SGB V gerechnet. Daher, so Schulte-Körne, ist die Abrechnung der Behandlung von Kindern mit Lese- Rechtschreib-Schwäche auch nicht als vertragsärztliche Leistung möglich.Aus- nahmen bestehen nur dann, wenn zu- sätzliche Entwicklungsstörungen oder psychische Störungen vorliegen. Die Kosten für die außerschulische Förde- rung von Kindern und Jugendlichen mit einer Legasthenie sind jedoch im Rahmen der Bestimmungen des Kin- der- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) abrechenbar; Entsprechendes ist im
§ 35 a dieses Gesetzes geregelt. Voraus- setzung ist, dass eine drohende seeli- sche Behinderung vorliegt, die die Ein- gliederung des Betreffenden entschei- dend behindert. Diese Voraussetzun- gen sind allerdings erwartungsgemäß nicht bei allen Kindern mit einer Le- gasthenie erfüllt. Schulte-Körne be- zeichnete dies als eine eklatante Lücke im Hinblick auf den anerkannt hohen Versorgungsbedarf, die gefüllt werden muss.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt Klinik und Poliklinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität
Hans-Sachs-Straße 6 35039 Marburg M E D I Z I N
Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 404. Oktober 2002 AA2633