Zweite Indikation berücksichtigen
Schubert und Mitarbeiter unterneh- men in ihrer Arbeit „Methylphenidat bei hyperkinetischen Störungen“ den verdienstvollen Versuch, mittels Ver- brauchsanalysen festzustellen, ob die Bevölkerung mit Methylphenidat über- oder unterversorgt ist. Dabei machen sie in meinen Augen einen gravierenden Fehler: Sie gehen davon aus, dass die Gesamtmenge des Me- thylphenidats zur Behandlung von hy- perkinetischen Störungen eingesetzt wird. Methylphenidat hat jedoch noch eine zweite Indikation, nämlich die Narkolepsie. Möglicherweise wird ein erheblicher Teil der Methylphenidat- Verordnungen für die Behandlung der Narkolepsie eingesetzt, da diese ganz überwiegend bei Erwachsenen auf- tritt, die höhere Dosen erhalten als hy- perkinetische Kinder. Zwar steht seit einiger Zeit zur Behandlung der Nar- kolepsie mit ganz ähnlicher Indikation die Substanz Modafinil zur Verfügung, die kein Psychostimulanz vom Am- phetamin-Typ ist. Ob diese Substanz jedoch das Methylphenidat in der Be- handlung der Narkolepsie zurzeit schon so weit verdrängt hat, dass die Narkolepsie-Indikation bei der Me-
thylphenidat-Menge quantitativ ver- nachlässigt werden kann, ist nach mei- ner Ansicht nicht ausreichend unter- sucht.
Prof. Dr. med. Wolfgang Poser Psychiatrische Klinik
Georg-August-Universität Von-Siebold-Straße 5 37075 Göttingen
Gesellschaftliche Ursachen
Es ist schon interessant, dass die Ver- ordnung von Methylphenidat in den letzten zehn Jahren um circa 1 500 Prozent (!) angestiegen ist. Ein richti- ger Boom ist ausgebrochen. Da wird eine psychotrope Substanz bei so ge- nannten hyperkinetischen Kindern ver- ordnet, die ihre Konzentration bün- deln soll und sie leistungsmäßig an die Gesellschaft anpassen kann, aber kei- ner fragt nach den Ursachen der hy- perkinetischen Störung. Es ist viel ein- facher, eine Pille zu verschreiben, statt nach den wirklichen Ursachen zu su- chen.
Die Ursachen für hyperkinetische Störungen bei Kindern werden wohl vielmehr im veränderten gesellschaft- lichen Zusammenleben zu suchen sein, wie beispielsweise der heutigen Medienunkultur mit gewaltverherrli- chenden und irrealen Darstellungen, Videospielen, Vereinzelung und Auf- lösung von traditionellen Familien- strukturen. Oft ist kein Elternteil mehr vorhanden, der sich den ganzen Tag liebevoll und zugewandt um die Kinder kümmern kann, da beide El- tern arbeiten (müssen). Vielleicht soll- te man seine eigene Kinderzeit Revue passieren lassen und mit der heutigen Realität von Kindern vergleichen.
Diese Veränderungen im täglichen Leben würden auch erklären, warum die Zunahme an Verordnungen zuerst in Amerika aufgetreten ist, wo derarti- ge gesellschaftliche Umbrüche schon viel länger zurückliegen. Es bräuchte eine wirkliche Forschung nach den Ursachen der hyperkinetischen Stö- rung und daran anschließend eine ur- sachengerechte Behandlung. Es ist immer besser, das Übel an der Wurzel zu packen, statt nur das Symptom zu kaschieren.
Alle Kollegen und Eltern sollten dies vor einer Verschreibung einer psychotropen Substanz an Kinder überdenken. Die Wirkungsweise von Methylphenidat ist mit einer Droge vergleichbar. Die Kinder steigern ihre Leistung, aber in ihrer Beziehungs- fähigkeit bleiben sie auf dem Stand stehen, an dem mit der Verordnung begonnen wurde. Es kann nicht ange- hen, einfach Kinder durch Verabrei- chung von Pharmaka ruhig zu stellen und stromlinienförmig anzupassen, damit kein Problem mehr sichtbar ist.
Echte Hilfe setzt an der Ursache an und die ist noch nicht klar identifiziert.
Auch ist die Hypothese von einem Übergewicht bestimmter Transmitter im Gehirn zu einfach. Warum sollte das plötzlich jetzt und gehäuft auftre- ten und nicht schon vor Urzeiten in der Evolution? Vielleicht müssten wir die Gestaltung unseres täglichen Le- bens neu überdenken!
Dr. med. Jürgen Maiß Wellerstädter Weg 4 91083 Baiersdorf E-Mail: j.maiss@t-online.de
Auditive Tests verfälscht
Aus phoniatrisch-pädaudiologischer Sicht hat mich der Artikel sehr inter- essiert, da wir in unserem Fachgebiet häufig mit hyperkinetischen Kindern zu tun haben, die mit Methylphenidat behandelt werden. Diese Kinder wer- den uns vorgestellt zur Abklärung ei- ner möglicherweise vorhandenen au- ditiven Wahrnehmungsstörung bezie- hungsweise zentralen Fehlhörigkeit.
Dabei ergibt sich für uns das Problem, dass durch Methylphenidat eventuell die audiometrischen und sprachge- bundenen Testergebnisse verfälscht werden könnten. Sicherlich wird bei diesen Kindern nicht das originäre Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Kommunikationsniveau unter- sucht, sondern ein durch psychotrope Drogen verändertes Verhalten. Daher stellt sich für uns die Frage, ob Tests der auditiven Wahrnehmungsfähig- keit nach Einnahme von Methyl- phenidat überhaupt sinnvoll sind. Wir müssen uns fragen, was wir bei derart M E D I Z I N
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A2284 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 36½½½½7. September 2001
zu dem Beitrag
Methylphenidat bei hyperkinetischen Störungen
Verordnungen in den 90er-Jahren
von
Dr. rer. soc. Ingrid Schubert Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl Dipl.-Psych. Axel Spengler Prof. Dr. sc. hum.
Manfred Döpfner Priv.-Doz. Dr. med.
Liselotte von Ferber in Heft 9/2001
DISKUSSION
mit Psychopharmaka behandelten Kindern eigentlich untersuchen und messen. Da die Ergebnisse der Test- batterien durch das Psychopharmakon sicherlich beeinflusst werden und so- mit verfälscht sind, macht es meines Erachtens keinen Sinn, bei Kindern während der Methylphenidat-Thera- pie die auditive Wahrnehmung zu un- tersuchen. Um derart verfälschte Un- tersuchungsbedingungen und Mess- ergebnisse zu vermeiden, sollte über- legt werden, ob Methylphenidat zwei bis drei Wochen vor den Untersuchun- gen der auditiven Wahrnehmung ab- gesetzt werden kann, um originäre und unverfälschte Testergebnisse zu gewährleisten. Dass dies nicht in je- dem Einzelfall möglich sein wird, ist mir durchaus bewusst. Allerdings soll- te die Problematik vor jeder Untersu- chung der auditiven Wahrnehmungs- fähigkeit bedacht und berücksichtigt werden.
Prof. Dr. med. Wolfgang Angerstein
Leiter der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
E-Mail: angerstein@med.uni-duesseldorf.de
Ist die Verordnungszunahme berechtigt?
In den 80er-Jahren konnte man beim Literaturstudium zu hyperkinetischen Störungen den Eindruck gewinnen, dass die Stimulationstherapie zugun- sten verhaltenstherapeutischer Maß- nahmen abnehmen würde. 1989 nahm der Hersteller von Methylphenidat das Präparat in Italien selbst vom Markt. Jetzt soll es dort wieder einge- führt werden (3).
Die von den Autoren sehr ein- drucksvoll beschriebene Zunahme des Verordnungsverhaltens in den 90er- Jahren hierzulande erscheint vorder- gründig mit einer evidenzbasierten Medizin gut vereinbar: Ein neuerer sy- stematischer Review zu diesem The- ma (2) mit 77 randomisierten Studien kommt zu dem Schluss, dass Stimulan- zien zumindest kurzzeitig wirksam sind, untereinander hinsichtlich Wirk- samkeit vergleichbar sind, und wirksa-
mer erscheinen als andere medika- mentöse oder nichtmedikamentöse (beispielsweise psychologische) The- rapien (4). Wenig ist jedoch zu Ergeb- nissen wie schulischem und späterem beruflichen Erfolg oder sozialer An- passung bekannt. Der Review ver- weist zudem auf eine Reihe elementa- rer methodischer Mängel mancher dieser Studien, wie zu kleine Stichpro- ben, unzureichende Beschreibung der Randomisierungs- und Verblindungs- techniken oder Umgang mit Studien- abbrechern.
Zurückhaltung ist auch geboten, weil die Forschung zu nichtmedika- mentösen Konkurrenztherapien fi- nanziell chronisch schlechter ausge- stattet ist. Es wurde deshalb schon dis- kutiert, der pharmazeutischen Indu- strie eine der Tabaksteuer vergleich- bare Sonderabgabe aufzuerlegen, mit der dann solche Therapien finanziert werden sollen, zumal inzwischen in den USA ein Pharmahersteller dazu überging, seine Produktwerbung di- rekt beim Betroffenen und seiner Fa- milie zu platzieren (1).
Literatur
1. Diller LH: The ritalin wars continue. West J Med 2000; 173: 366–367.
2. Jadad AR, Boyle M, Cunningham C et al.: Treatment of attention deficit/hyperactivity disorder. Rockville, MD: Agency for Healthcare Research and Quality, 2000.
3. Timimi S, Bonati M, Impicciatore P et al.: Evidence and belief in attention deficit hyperactivity disorder.
BMJ 2001; 322: 555.
4. Zwi M, Ramchandani P, Joughin C: Evidence and be- lief in ADHD. BMJ 2000; 321: 975–976.
Dipl.-Psych. Dr. med. Dr. phil. Peter Schuck Dipl.-Soz.-Päd. Hans Eckert
Dipl.-Psych. Dr. phil. Horst Müller Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft
Lindenstraße 5, 08645 Bad Elster
Restriktiver verschreiben
Der Nachweis der 20-fachen Zunahme der Verschreibung von Methyl- phenidat innerhalb des Zeitraums von 1991 bis 1999 bei Kindern mit dem ADHD-Syndrom lässt aufhorchen.
Was in dem Artikel nicht genügend zum Ausdruck kommt, ist eine War- nung, noch kritischer bei der Ver- schreibung von potenten Psychosti-
mulantien bei Kindern vorzugehen.
Dies geschah dann unter der Über- schrift „Gefährliche Psychopharma- ka“ im Heft 10/2001 des Deutschen Ärzteblatts, und zwar durch keine ge- ringere Instanz als den Internationa- len Suchtkontrollrat der UN.
Zu vermuten ist, dass der Hauptan- teil dieser Verschreibungen von un- genügend kinderpsychiatrisch und psychotherapeutisch ausgebildeten Kinderärzten vorgenommen wird so- wie von Kinderpsychiatern, die die Indikation bei diesen schwer „hand- habbaren“ Kindern zu wenig restriktiv stellen. Eine weitergehende Untersu- chung der Frage, wer die Verschrei- bungen vornimmt, wäre von daher wichtig.
Meiner Meinung nach greift die Therapie dieser Kinder mit dem Amphetaminderivat Methylphenidat, auch in Kombination mit Verhal- tenstherapie, zu kurz. Es kann nicht nur darum gehen, wie diese Kinder da- zu gebracht werden können, schnell wieder zu funktionieren. Die umfas- sende Untersuchung der oft komple- xen Hintergründe dieser kindlichen Verhaltensstörung zeigt, dass ursäch- lich schwerwiegende emotionale und/
oder soziale Mängel sowie familiäre Konflikte auslösende und aufrechter- haltende Faktoren bilden. Es sind in der Regel die daraus für das Kind re- sultierenden Ängste und Spannungen, die zu der motorischen Unruhe und Aufmerksamkeitsstörung dieser Kin- der führen.
Die psycho- und familiendynami- schen Hintergründe sowie die erfolg- reiche tiefenpsychologische und psy- choanalytische Therapie von Kindern mit dem ADHD-Syndrom sowie de- ren Eltern wurden schon 1993 in ei- nem Themenheft (2) der Kinderanaly- se belegt.
Zu fordern wäre (endlich) eine multidisziplinäre Forschung, bei der Neuropädiater, Kinder- und Jugend- psychiater, Kinder- und Jugendlichen- psychotherapeuten, Familientherapeu- ten sowie Sozialwissenschaftler fach- übergreifend tiefergehende Erkennt- nisse über diese Störung an den Tag bringen.
Die Suche nach anderen Möglich- keiten der Behandlung der Kinder als M E D I Z I N
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der Einsatz von hochpotenten Phar- maka, die Nebenwirkungen (Kopf- schmerzen, Appetit- und Schlafstö- rungen) hervorrufen, späteres Sucht- verhalten bahnen sowie möglicher- weise lebenslange Abhängigkeiten zur Folge haben können, wäre ganz im Sinne des genannten unabhängigen Kontrollorgans für die Einhaltung der Drogenkonvention der Vereinten Na- tionen.
Dr. med. Terje Neraal Höhenstraße 33a 35435 Wettenberg
Zu kurz gegriffen
Lobenswert ist das Bemühen der Au- toren, der Mär von der viel zu häufi- gen Anwendung dieser Substanz bei Kindern in Deutschland durch Ver- wendung von unstrittigem Zahlenma- terial entgegenzutreten. Weniger posi- tiv ist die Beschränkung der Pharma- kotherapie auf Personen zu bewerten, bei denen „die hyperkinetischen Auf- fälligkeiten sehr stark ausgeprägt sind“, da dies meines Erachtens dem Anliegen einer adäquaten Betreuung nicht entspricht. Eine solche Eingren- zung macht aus einem effizienten, lernbiologisch und daher die Persön- lichkeitsentwicklung unterstützenden Pharmakon doch nur wieder die „Pille für den Störenfried“. Solange man aber hierzulande den fehlleitenden Begriff des hyperkinetischen Syn- droms (noch) verwendet, wird man in Kauf nehmen müssen, dass einer wohl ebenso großen Anzahl bedürftiger Personen mit nichthyperaktivem ADS und dringlichem Bedarf medika- mentöse Begleitung verweigert wird und die hinlänglich dokumentierten Sekundärphänomene (Sucht, Zwang, Dissozialität) erwachsen. Die Versor- gungsvakanz wird noch erschrecken- der, zählt man die betroffenen Er- wachsenen hinzu, die unter persistie- renden Symptomen der ADHS leiden, aber kaum auf fachkundige ärztliche Hilfe rechnen können. Die Psychiater der BRD haben hier wohl ein bedeu- tendes Kapitel übersehen und dürfen sich nicht wundern, halten ihnen kun- dige Patienten Texte aus dem Internet
unter die Nase. Auch in der kinderpsy- chiatrischen Zunft gelten viele Sym- ptome der ADHS noch immer als Zei- chen psychischer Traumata, und so ist denn auch die Behandlungsstrategie ausgerichtet mit logischerweise gerin- ger Effizienz. Dann trägt der Patient die Verantwortung für ausbleibende Effekte. Er aber fühlt sich wiederholt unverstanden und das „Kunstmärchen von der psychogenen Verursachung“
der meisten seelischer Störungen, wie es Nissen schon 1985 in diesem Blatt beschrieb, wird fleißig weiter gepflegt.
Wie lange noch?
Dipl.-Med. Thomas Greger Johann-Sebastian-Bach-Straße 6 04552 Borna
Schlusswort
Die Kommentare spiegeln die aktuelle und überwiegend polarisiert geführte Diskussion über die medikamentöse Therapie hyperkinetischer Störungen (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperakti- vitätsstörungen, ADHS) mit Methyl- phenidat wider und bieten Gelegen- heit, auf die vorhandene empirische Datenlage zu verweisen. Die Mehrzahl der Diskussionsbeiträge beklagt die zunehmende Verordnung von Methyl- phenidat und geht davon aus, dass ge- sellschaftliche Einflüsse und eine ver- änderte Familienstruktur zu einer Zu- nahme des Störungsbilds geführt ha- ben.
Die in den letzten Jahren stark an- gestiegene empirische Literatur über die Effekte von pharmakologischen und psychotherapeutischen Ansätzen legt jedoch ein Vorgehen nahe, das auch in den Leitlinien der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaf- ten seinen Ausdruck gefunden hat. Hier wird festgestellt, dass die Pharmako- therapie möglichst im Rahmen eines multimodalen Behandlungsvorgehens erfolgen sollte, das Beratung und ko- gnitive Intervention einschließt. Es wird ausdrücklich vermerkt, dass die Wirksamkeit nichtdirektiver oder tie- fenpsychologischer Therapien zur al- leinigen Behandlung der hyperkineti- schen Kernssymptomatik nicht belegt ist. Eine Stimulanziengabe ist immer
dann indiziert, wenn eine stark ausge- prägte situationsübergreifende hyper- kinetische Symptomatik mit krisenhaf- ter Zuspitzung (wie drohende Um- schulung, Sonderschule, starke Be- lastung der Eltern-Kind-Beziehung) vorliegt. Die erst vor kurzem publizier- ten Ergebnisse der Multimodal Treat- ment Study of Children With Attention- deficit/Hyperactivity Disorder (MTA- Studie), in die 579 Kinder einbezogen wurden, zeigen deutlich den positiven Effekt einer Methylphenidat-Behand- lung (2, 4). Diese sollte nach sorgfälti- ger Titrierung und Kontrolle einsch- ließlich Beratung der betroffenen Kin- der und ihrer Eltern erfolgen. Ein mul- timodales Vorgehen, das behaviorale Maßnahmen mit einbezog, verbesserte den Effekt nur in einigen Bereichen und nur geringfügig. Einschränkend muss gesagt werden, dass diese Ver- besserungen für einen Zeitraum von 14 Monaten nach Therapiebeginn festge- stellt wurden und langfristige verglei- chende Aussagen noch nicht möglich sind. In einer neueren Studie konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass im Vorschulalter familienbezogene Inter- ventionen die medikamentöse Behand- lung meist überflüssig machen (1).
Insofern ergibt sich ein differen- ziertes therapeutisches Vorgehen, das auch Entwicklungsaspekte und den Schweregrad der Störung mit einzube- ziehen hat (3).
Der Meinung, dass allein gesell- schaftlichen Faktoren eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung des Störungsbilds spielen, muss widerspro- chen werden. Die Studien der letzten Jahre weisen vielmehr eindeutig darauf hin, dass psychosoziale Variablen eine geringere Rolle als biologische für die Entstehung hyperkinetischer Störun- gen spielen. Da häufig komorbide Störungen wie Angst, depressive Stö- rungen oder auch soziale Störungen vorliegen, sollten diese in einem Thera- piekonzept ebenfalls berücksichtigt werden. Psychoanalytische Ansätze bei Kindern mit dem ADHS sind bislang empirisch kaum untersucht und in dem genannten Themenheft der Zeitschrift
„Kinderanalyse“ werden nur Einzelfäl- le beschrieben. Eine tiefenpsycholo- gisch orientierte Behandlung mag dann erfolgreich sein, wenn die begleitenden M E D I Z I N
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A2286 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 36½½½½7. September 2001
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komorbiden Störungen wie Angst und Depression im Vordergrund stehen, al- lerdings ist auch dann eher unwahr- scheinlich, dass die hyperkinetische Kernsymptomatik nachhaltig beein- flusst werden kann. Auch der kritische Einwand, dass die Gabe von Stimulan- zien die Kinder „ruhigstellt und strom- linienförmig anpasst“, ist aufgrund des Wirkungsprofils nicht aufrechtzuerhal- ten. Zu achten ist auf eine exakte Ti- trierung der Dosierung, eine Kontrolle der Effektivität, wobei bis zu 30 Pro- zent Nonresponder auftreten. Es liegen keine Hinweise für eine körperliche Abhängigkeit oder Langzeitgewöh- nung vor.
Audiometrisch oder sprachgebun- dene Testergebnisse können unter Methylphenidat nur insofern beein- flusst werden, wie die Aufmerksam- keitsleistung in die Bearbeitung der Aufgaben mit einfließt. Sollten hierfür entsprechende Hinweise vorliegen, wä- re eine entsprechende Untersuchung vor und unter Stimulanziengabe sinn- voll, um diesen Effekt zu erkennen.
Aufgrund der bekannten Prävalenzen von hyperkinetischen Störungen und Narkolepsie ist davon auszugehen, dass die Zunahme der Stimulanzienverord- nung, die insbesondere durch Pädiater und Kinderpsychiater erfolgt ist, fast ausschließlich die Indikation der hyper- kinetischen Störung betrifft.
Literatur
1. Döpfner M, Frölich J, Lehmkuhl G: Hyperkinetische Störungen. Göttingen: Hogrefe 2000.
2. MTA Cooperative Group: A 14month randomized clinical trial of treatment strategies for attention defi- cit/hyperactivity disorder. Archives of General Psy- chiatry 1999; 56: 1088–1096.
3. Sonuga-Barke, EJS, Daley D et al.: Parent-based the- rapies for preschool attention-deficite/hyperactivity disorder: a randomized, controlled trial with a com- munity sample. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2001; 40: 402–408.
4. Vitiello B, Severe JB et al.: Methylphenidate dosage for children with ADHD over time under controlled conditions: Lessons from the MTA. J Am Acad Adole- sc Psychiatry 2001; 40: 188–196.
Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl Prof. sc. hum. Manfred Döpfner Dr. rer. soc. Ingrid Schubert Dipl.-Psych. Axel Spengerl
Priv.-Doz. Dr. med. Lieselotte von Ferber Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Universität zu Köln
Robert-Koch-Straße 10, 50931 Köln
Unvollständige und unrichtige Angaben
Die Jenaer Autoren stellen ein Verfah- ren vor, das als neu bezeichnet wird, in dem ein mittels CT-Datenaufnahme ge- neriertes virtuelles Patientenmodell zur computergestützten Planung, Konstruk- tion und Fertigung eines individuellen Implantats dient. Dieses Verfahren ist nicht neu, es wurde bereits Ende der 80er-Jahre durch Priv.-Doz. Dr. med. A.
Laubert (damals Medizinische Hoch- schule Hannover) erstmals für den Kopfbereich umgesetzt (3, 4), was sein- erzeit noch computertechnisch limitiert war. In der ersten Hälfte der 90er-Jahre gelang der eigenen Arbeitsgruppe an der Ruhr-Universität Bochum – begün- stigt durch die Weiterentwicklung der CAD/CAM-Systeme – die standardi- sierte und rationelle Umsetzung des Verfahrens, das bis heute in mehr als 200 Anwendungen an 37 europäischen kopf- chirurgischen Zentren erfolgreich war und beispielgebend ist.
Selbstverständlich sind die Entwick- lungen im Computerbereich nicht stehen geblieben, sodass die eigene sowie ande- re Arbeitsgruppen andere stetig neue Aspekte in das „alte“ Verfahren inte- grieren. Ebenso selbstverständlich er- laubt diese Technik die Konstruktion und Fertigung jedweder Geometrie und
die Verwendung grundsätzlich aller Ma- terialien, die gefräst, geformt, gepresst, gegossen oder mit Rapid-Prototyping- Techniken bearbeitet werden können.
So wurde von den Bochumer Forschern neben Titan, das aus verschiedenen Gründen bevorzugt wird, eine Vielzahl anderer Materialien bereits verwendet, und Implantate wurden durchaus auch fern von Trepanationsdefekten einge- setzt. Aus klinischer Erfahrung muss aber äußerste Reserve vor alloplasti- schen Materialien in offenem Kontakt zu den Nasennebenhöhlen gezeigt werden, da dies bei guten Abflussbedingungen bestenfalls zu chronisch-entzündlich to- lerierten Zuständen führen kann. Die Behauptung, das Einbringen alloplasti- scher Materialien könne Liquorfisteln therapieren, erscheint noch weniger glaubwürdig, wenn nicht andere Maß- nahmen im Rahmen dieser Einbringung erfolgen. Auch für die einzeitige Resekti- on und Rekonstruktion am Hirn- und Gesichtsschädel hat die Bochumer Ar- beitsgruppe – entgegen der Behauptung im Beitrag – Techniken entwickelt, kli- nisch eingesetzt und wiederholt publi- ziert (1, 2). Vorgetragen wurden sie zu- letzt in Gegenwart von Teilen der Auto- renschaft des hier diskutierten Beitrags auf dem Leopoldina-Meeting der Sekti- on Ophthalmologie, Oto-Rhino-Laryn- gologie und Stomatologie (Implantate – Transplantate) der Deutschen Akade- mie der Naturforscher Leopoldina (Hal- le [Saale], 13. bis 14. 10. 2000) und auf dem 2. Jenaer Workshop „CAE – Glas- keramikimplantate und ihre klinische Anwendung“ (Jena, 8. Dezember 2000).
Aus klinischer Perspektive problema- tisch erscheint weiterhin die Fixierungs- frage der eingebrachten Implantate, die offenbar durch Nähte gelöst werden soll, wie sogar die Abbildung eines offensicht- lich nicht exakt passenden Implantats verdeutlicht. Die Möglichkeit der Osteo- synthese wird im Text kurz erwähnt, scheint aber für spröde Glaskeramiken nicht unproblematisch. Entsprechend dokumentieren die Angaben in der ver- öffentlichten Tabelle zu den bisherigen klinischen Versorgungen offenkundig neben geometrischen Abweichungen auch eine Implantationsdislokation. Zu- dem erscheinen die erfolgten Anwen- dungen im Hirnschädelbereich auf klei- ne Defekte beschränkt, die den Einsatz zu dem Beitrag
3-D-Referenzimplantate für den Gesichts- und Hirnschädel
von
Prof. Dr. med. habil.
Eggert Beleites
Dr. med. Gerlind Schneider Priv.-Doz. Dr. Ing. habil.
Wolfgang Fried
Prof. Dr. Dr. med. habil.
Dieter Schumann Prof. Dr. med. habil.
Werner Linß in Heft 5/2001