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uf der Anklagebank des Berliner Strafgerichtes sitzen normaler- weise „schwere Jungs“ – Mörder, Räuber, Betrüger. Am Mittwoch ver- gangener Woche sollte Dietrich Koch, Leiter der Beratungsstelle für Fol- teropfer Xenion, auf der Holzbank des Amtsgerichts Tiergarten Platz nehmen.Wie ein schwerer Junge wirkt der Psy- chotherapeut allerdings nicht. Seine Augen blicken freundlich, und seine Stimme ist leise, als er unmittelbar vor Verhandlungsbeginn seine zahlreich erschienenen Unterstützer begrüßt.
Noch ahnt er nicht, dass das Gericht wenig später den Prozessauftakt platzen lassen wird. Dessen Be- gründung: Neue Beweise müssen eingesehen wer- den.
Koch und seiner ebenfalls angeklagten Sekretärin wird „Wi- derstand gegen Voll- streckungsbeamte“
vorgeworfen. Beide ha- ben sich schützend vor ei- nen Patienten gestellt, als Polizi- sten in die Räume der psychologi- schen und ärztlichen Beratungsstelle Xenion eindrangen. Zwei Jahre ist dies jetzt her. Ein Ende der juristi- schen Aufarbeitung ist durch die Ver- tagung des Prozesses in weite Ferne gerückt.
Rückblende: Am 24. November 2000 macht sich Davut K. auf den Weg zu ei- nem Therapiegespräch bei Xenion. In der U-Bahn fällt er bei einer Fahraus- weiskontrolle auf. Als die Polizei geru- fen wird, reagiert der damals 17-jährige panisch. Wenige Monate zuvor war der junge Kurde nach schweren Miss- handlungen in türkischen Gefängnissen nach Deutschland geflohen, gezeichnet von deutlich sichtbaren körperlichen
Folterspuren. Sein Asylbegehren wurde indes abgelehnt. Ihm drohen Abschie- bung in seine Heimat und weitere elf Jahre Gefängnis. Davut K. flieht vor der herbeieilenden Polizei in die Räume von Xenion. Die Beamten folgen dem Flüchtigen und verschaffen sich mit ge- zogenen Waffen Einlass in das Thera- piezentrum. Xenion-Leiter Koch und
seine Sekretärin versuchen vergebens die Polizisten aufzuhalten. In einer Kurzschlusshandlung springt Davut K.
aus einem Fenster im dritten Stock des Gebäudes und verletzt sich lebensge- fährlich an der Wirbelsäule. Davut K.
überlebt – leidet aber noch heute an den Folgen des Sprungs.
Auch zwei Jahre nach der Verzweif- lungstat hält Koch daran fest, dass es richtig war, sich der „Staatsgewalt“ in den Weg gestellt zu haben. „Ich liefere keinen Patienten aus. Bei Davut wuss- te ich genau, wie groß seine Angst vor
einer Abschiebung war“, erklärt Koch.
Eine Position, die von anderen Hilfsin- stitutionen geteilt wird. Für Britta Jen- kins, Sprecherin des ärztlichen Be- handlungszentrums für Folteropfer, Berlin, steht außer Frage, dass man sich auch in ihrer Einrichtung ähnlich verhalten hätte. Das Behandlungszen- trum sucht gemeinsam mit Xenion und anderen Nichtregierungsorgani- sationen in einem „Arbeitskreis Ge- sundheit“ nach Lösungen für derlei Probleme.
Gegenüber dem Deutschen Ärzte- blatt kritisiert Koch insbesondere die Härte des Polizeieinsatzes. Die Beam- ten hätten mit der bewaffneten Erstür- mung der Therapieräume und mit dem bewussten Übergehen der Warnungen durch die Mitarbeiter völlig unverhält- nismäßig reagiert. Das Risiko von Panikreaktionen der Traumatisierten bei erneuter Traumaexposition sei un-
ter Experten unstrittig.
Verteidiger Rüdiger Jung hofft, mit dem Prozess grundsätz- lich klären zu kön- nen, wie sich die Polizei in solchen Fällen zu verhal- ten habe. „Unabhän- gig davon sollten Polizisten generell anders in eine Therapieein- richtung reingehen als bei einer Schlä- gerei in einer Eckkneipe“, fordert Jung.
Für den Prozess rechnet der Verteidiger mit einem Freispruch. Unklar ist noch, wann das aufgeschobene Verfahren be- ginnen kann. Zunächst will das Gericht prüfen, ob überhaupt ein richterlicher Abschiebehaftbefehl vorlag. „Wir wis- sen, dass es lediglich ein Festnahmeer- suchen der Ausländerbehörde gab“, er- klärt Jung. Dieses würde für einen Schuldspruch vermutlich nicht reichen.
Glück im Unglück hatte Davut K.
Die öffentliche Aufmerksamkeit des Falles brachte Bewegung in sein Asyl- verfahren. Das Gericht war bereit, sich der Sache noch einmal anzunehmen, und kam zu dem Schluss, dass seine An- gaben über Verfolgung und Folter in der Türkei der Wahrheit entsprachen.
Der junge Kurde ist jetzt anerkannter Asylbewerber und kann vorerst in Deutschland bleiben. Der Preis für sein Bleiberecht war hoch. Samir Rabbata P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4325. Oktober 2002 AA2827
Prozess
In den Weg gestellt
Weil die Polizei eine Beratungsstelle für Folteropfer stürmt, stürzt sich ein Patient aus dem Fenster. Der Leiter der Einrich- tung wollte ihn schützen und steht deshalb vor Gericht.
Darf die Polizei in Therapiezentren eindrin- gen, um von Abschiebung bedrohte Patienten zu verhaften? Foto: BilderBox