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Archiv "„Ich habe gelebt und gelebt und gelebt . . .„" (23.03.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

FEUILLETON

Das Jahr 1974 bezeichnet mit drei wichtigen Neuerscheinun- gen den Beginn der neuen, ent- schieden auf Selbstverwirkli- chung auch des weiblichen Indi- viduums pochenden "Frauenli- teratur" in der DDR: mit Irm- traud Morgners „Leben und Abenteuer der Trobadora Beat- riz", Gerti Tetzners „Karen W."

und mit Birgitte Reimanns nach- gelassenem Roman „Franziska Linkerhand". Er ist inzwischen auch in der Bundesrepublik zu einer Art Longseller geworden.

Von der Autorin wußten wir bis- lang wenig; sie starb 1974, noch nicht vierzigjährig, an Krebs.

Zehn Jahre nach ihrem Tod wird uns jetzt eine Auswahl ihrer Briefe und Tagebuchaufzeich- nungen zugänglich — weibliche Selbstzeugnisse von einer In- tensität, die den Leser nicht wie- der losläßt. Wer war Brigitte Rei- mann? Was fasziniert uns an diesem Lebensweg?

Sie selbst sagt 1963, auf dem Höhepunkt ihrer schriftstelleri- schen Laufbahn, über ihr Le- ben:

„Übrigens ist es unbequem und anstrengend, und ich singe kei- ne Hymnen, aber schön ist es doch, mit aller Unruhe und Het- zerei, und wenn ich zehn Jahre früher sterbe, dann mit dem Ge- danken: Ich war glücklich, ich habe gelebt und gelebt und ge- lebt."

Es ist die ungestüme Intensität, die schöpferische Unruhe einer Aufbruchsgeneration, die in die- sen Lebenszeugnissen exem- plarisch wird, vor allem aber äu- ßert sich hier eine Lebensdirekt-

heit, die betroffen macht, wie et- was, das uns mehr und mehr ab- handenzugehen droht.

Aus dem im Frühjahr 1984 er- scheinenden Buch nachfolgend einige Leseproben:

27.12. 59 Dan sagt, ich sei ein Arbeitstier.

Und in der Tat, wenn ich zwei oder drei Tage nicht zum Schreiben gekommen bin — durch irgendwelche läppischen und zeitfressenden Haushalts- geschäfte —, werde ich krank und hysterisch. Ich brauche die Arbeit wie — wirklich beinahe wie ein Rauschmittel, sie ist ein- fach ein Glück, eine Selbstbe- friedigung, ein zugleich egoisti- sches und altruistisches Vergnü- gen . .. Abgesehen von jenen Schriftstellern, die für Geld oder zur bloßen Information und Tat- sachenvermittlung schreiben, habe ich noch keinen ernsthaf- ten und ernstzunehmenden Au- tor gefunden, der die Stirn hatte, zu behaupten, er schriebe in Gedanken an den Leser; für je- den ist die Arbeit eine Auseinan- dersetzung mit sich selbst, und vermutlich besteht die Kunst eben darin, diese Selbstverstän- digung allgemein interessant und für einen möglichst großen Leserkreis nachempfindbar zu machen.

Petzow, 7. 4. 62 Kulturkonferenz im Kombinat.

Ich hielt meine erste öffentliche Rede, eine glanzvolle Rede (ich hatte sie mir aber vorher aufge- schrieben) über das hohe Ver- gnügen des Denkens und über die heitere Landschaft der

Kunst. Nachts lese ich meinen geliebten Stendhal — seine Ta- gebücher. Ich fühle mich ihm sehr verwandt, seiner Eitelkeit, seiner Sucht nach Selbstbetrug, seinem Größenwahn. Ich notier- te mir seinen Satz: „Ein Talent, das nicht wächst, verlöscht."

Petzow, 4. 11. 62 Manchmal denke ich darüber nach, wie oft ich geliebt habe, wie oft ich geliebt wurde, ich ha- be ein wunderschönes Leben, ich bedaure nichts.

Einmal traf ich eine Jugendliebe wieder, den K., der damals, in unserer Schulzeit, ein schlanker schöner Junge gewesen war, mit blonden Locken, den Kopf voller Pläne und kühner Ideen für später. Er hat jetzt einen Bauch und nur einen spärlichen Haarkranz, er ist Lehrer ohne Ehrgeiz, ist verheiratet, nicht glücklich, nicht unglücklich, er ist satt, er verlangt nichts mehr.

Ich fühlte auf einmal, wie jung ich gegen ihn bin, wie aufre- gend mein Leben ist: immer neue Menschen, immer wieder neue Leidenschaften, immer Ehrgeiz, eine Arbeit, die mir Zu- friedenheit nicht gestattet — ein herrliches Leben voller Entdek- kungen. Ich werde nie alt. Meine ehemaligen Schulfreunde, mei- ne Schülerinnen sogar schon, sind in den Hafen eingelaufen, breite behäbige Schiffe — ich fahre jeden Tag wieder aufs Meer hinaus. Ich bin ein glück- licher Mensch.

24. 3. 63 Vielleicht komme ich in das Al- ter, da man eine Freundin braucht — die letzte hatte ich mit dreizehn, vierzehn Jahren. Du kennst das: Arm um die Hüfte, Rundungen messen, diese ge- wisse Zärtlichkeit, die man heu- te, erfahren, zwischen Lächeln und leiser Scham als frühe lesbi- sche Neigungen erkennt ..

Dann kamen die „Jungs" (übri-

„Ich habe

gelebt und gelebt und gelebt . . .”

Tagebücher und Briefe von Brigitte Reimann

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 12 vom 23. März 1984 (101) 937

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Huldigungen an Max Beckmann

Anläßlich des hundertsten Geburtstages von Max Beck- mann wird der Künstler mit mehreren Ausstellungen ge- ehrt. Das Haus der Kunst in München zeigt bis zum 22.

April 1984 eine Retrospektive,

Max Beckmann: Selbstbildnis, 1922

die danach vom 18. Mai bis zum 29. Juli in der National- galerie in Berlin zu sehen sein wird. Sie geht dann zum St. Louis Art Museum und da- nach zum County Museum of Art in Los Angeles. Der Kata- log ist im Prestel-Verlag er- schienen und kostet beim Ausstellungsbesuch 45 DM, im Buchhandel 68 DM.

Bis zum 28. März 1984 zeigt die Galerie Poll in Berlin, Lüt- zowplatz 7, Werke von dreißig zeitgenössischen Malern und Bildhauern als Hommage ä Max Beckmann. Der Katalog kostet 20 DM. Die Berliner Ausstellung geht über Dü- ren (4. bis Ende April) nach Athen, New York, Chicago und St. Louis.

Die Kölner Kunsthalle präsen- tiert Beckmann vom 19. April bis zum 24. Juni.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Brigitte Reimann: Hoffnung

gens nicht zu mir, denn ich lag ein Jahr gelähmt im Bett, ver- säumte die Tanzstunde und Schülerliebe), und später, als ich in meine Klasse zurückkam, war ich schon bei Goethe und Stendhal, während die Mädchen noch irgendwo in der Gegend von der „Heiligen und ihrem Narr" herumkrebsten. Ich bin nicht arrogant, hörst Du, es war wirklich so, ich habe damals an- gefangen zu schreiben, und wahrscheinlich stammt aus die- ser Zeit einer verpaßten Jugend auch das krankhafte Nachholbe- dürfnis, das sich zuweilen noch meldet.

Du hast mich nur im Zauberberg kennengelernt oder, wenn Du so willst, im Hörselberg. Es war der Ferien-Feuerzauber, und wenn Du mich hier sähest, in meinem verdammten geliebten Kombi- nat, so wärst Du — wenn schon über nichts andres — über meine Wandlungsfähigkeit erstaunt.

Berlin, 6. 8. 63 Komme allmählich wieder zu mir. Draußen ist ein rasend hei- ßer, ein erstickender, ein herr- licher August. Ich sterbe vor Un- geduld. Ich will raus hier. Lese viel.

Berlin, 11.8. 63 Morgen darf ich nach Hause. Die letzten Tage waren häßlich, aus einer Nahtstelle sickerte unauf- hörlich schwärzliches Blut. Mei- ne Brust sieht wüst aus, wie von Säbelhieben zerhackt, der Arzt sagt aber, die Narben würden mit der Zeit ganz verschwinden.

16. 1. 72 Drück mir bloß die Daumen, daß ich mit diesem verdammten Buch doch noch über die Run- den komme. Wäre schade um die vielen .Seiten, von denen manche recht hübsch geraten

sind, und schade um die viele Zeit. Nur eins spielt keine Rolle, da bin ich sicher: Ehrgeiz, das Verlangen, wieder mal an die Öf- fentlichkeit zu kommen. Das ha- be ich mir in all den Jahren ab- getan, und es macht mir nichts aus. Ich bin vergessen, na und?

Eine wirklich gute Schriftstelle- rin — wie ich es früher erträumte

— werde ich doch nicht mehr, und alles was ich der deutschen Literaturgeschichte zu bieten habe, ist der dubiose Begriff

„Ankunftsliteratur". Graue Vor- geschichte. Offenbar bin ich heute guter Stimmung — ich ha- be endlich mal wieder geschla- fen, sieben Stunden lang.

Die Leseproben und der einleitende Text von Ingrid Krüger wurden entnom- men aus: Brigitte Reimann: Die geliebte, die verfluchte Hoffnung, Tagebücher und Briefe 1948 bis 1973, herausgege- ben von Elisabeth Elten-Krause und Wal- ter Lewerenz, Luchterhand Verlag, Darmstadt, 1984, ca. 300 Seiten, Leinen, ca. 30 DM

Seit drei Wochen raufe ich mich wieder mit meiner Kreisleitung, versuche meiner Brigade Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen (auch mit Hilfe des

„Kredits", über den wir mal sprachen) und mich mit den technischen (und psychologi- schen) Problemen der Automati- sierung vertraut zu machen. Die Kenntnis der ökonomischen Ge- setze ist für einen Schriftsteller genauso wichtig wie die der menschlichen Seele, und was Zola und Balzac recht war ...

Warum sollten wir, hundert Jah- re später, es für unvereinbar mit der Würde des Schriftstellers halten, wenn er das Wirtschafts- gefüge seiner Gesellschaft gründlich kennt? Aber wozu agi- tiere ich Dich? Das weißt Du ja alles. Übrigens ist es unbequem und anstrengend, und ich singe keine Hymnen, aber schön ist es doch, mit aller Unruhe und Het- zerei, und wenn ich zehn Jahre früher sterbe, dann mit dem Ge- danken: Ich war glücklich, ich habe gelebt und gelebt und ge- lebt.

938 (102) Heft 12 vom 23. März 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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