im Lichte neu gefundener Handschriften Von Fuad Sezgest, Frankfurt
Ich möchte hier ein Problem behandeln, über das nun schon seit
70 Jahren diskutiert wird. Dabei werde ich zuerst die Frage noch einmal
aufgreifen, wann der islamische Chemiker Öäbir b. Hayyän gelebt hat.
Die über dieses Problem erschienenen Arbeiten stammen aus einem Zeit¬
raum, in dem wir einen nur unvollkommenen Überblick über die auf uns
gekommenen Materialien aus diesem wie aus allen anderen Gebieten der
islamischen Kultur hatten. Aber es bestand immer die Hoffnung, daß
man Quellen auffinden würde, welche die bestehenden Unklarheiten
nach und nach beseitigen würden. Und tatsächlich sind vmter den
Materialien, die ich bei meiner Vorbereitung eines Supplements zu
Beockelmanns Geschichte der Arabischen Literatur untersucht habe,
solche, die unsere bisherigen Kenntnisse von der islamischen Chemie in
großem Maße zu erweitern geeignet sind. Um einen Begriff von der Trag¬
weite dieser neu aufgefundenen Quellen zu geben, kann man sagen, daß
sie ungefähr den gleichen Umfang haben wie alle bisher auf diesem
Gebiet zugänglich gewesenen Quellen zusammengenommen. Diese
Quellen bestehen nicht etwa aus zweiten oder dritten Kopien bereits
bekannter Handschriften; es handelt sich vielmehr um aus verschiedenen
Jahrhunderten stammende, völlig neuentdeckte Werke bereits bekannter
oder trotz ihrer großen Bedeutung für die islamische Chemie unbekannt
gebliebener Autoren. Gegenstand dieser Erörterungen werden nur die¬
jenigen dieser Werke sein, die Hinweise auf die Persönlichkeit Gäbirs
oder die Zeit, in der er gelebt hat, enthalten. Bei der Feststellung, wann
öäbir gelebt hat oder ob er überhaupt gelebt hat, geht es nicht lediglich
um die Person irgendeines Chemikers. Ganz im Gegenteil stellt Öäbir
den Schwerpunkt der gesamten islamischen Chemie dar. Aber auch bei¬
spielsweise hinsichtlich der Frage der ersten islamischen Chemiker und
der Bedeutung öäbirs für die allgemeine Geschichte der Chemie können
wir nur weiterkommen, wenn wir zuvor eindeutig bestimmt haben, wann
öäbir gelebt hat.
Als erster hat im Jahre 1893 M. Beethelot zusammen mit O. Houdas
einige arabische Abhandlungen Öäbirs herausgegeben. Im Jahre 1906
fand er die lateinische Übersetzung der sog. ,,70 Bücher" öäbirs, unter¬
suchte sie und kam zu dem Ergebnis, daß es sich um apokryphe Werke
lateinischer Autoren des 13. Jahrhunderts handele, die diese dem Öäbir
zugeschrieben hätten. Nach Beethelot seien mit diesen völlig nach
abendländischen Methoden geschriebenen Büchern den Arabern positive
Ideen zugeschrieben worden, die sie nie besessen hätten, wodurch die
gesamte Geschichte der Wissenschaften verfälscht worden sei.
Im Jahre 1919 hat Lippmann gezeigt, daß Beethelot in seinem Urteil
ungerecht war, und er hat sich bemüht, auf die Schwäche seiner Argu¬
mente und seiner Beurteilungsweise hinzuweisen.
Von 1922 ab griff auch Holmyaed in die Diskussion um das Problem
öäbir ein. In seinen Untersuchungen, bei denen er aus einem reichhal¬
tigen Material Nutzen ziehen konnte, behauptete er, daß die Werke, die
einem Autor mit dem latinisierten Namen Geber zugeschrieben wurden,
Übersetzungen von in Arabisch verfaßten Werken öäbirs seien, daß
dieser im 8. Jh. christlicher Zeitrechnung gelebt habe, der wirkliche
Begründer der modernen Chemie sei und an Bedeutung etwa Boylb
und Lavoisiee gleichkomme.
Gleichzeitig mit Holmyaed schaltete sich JuLitrs Ruska in die
Diskussion ein. Er akzeptierte die Behauptung, daß öäbir im 8. Jh.
gelebt habe. Dagegen waren nach seiner Meinung die von Berthelot
herausgegebenen Abhandlungen öäbirs gefälschte Bücher imd ein
großer Teil der von Ibn an-Nadim zitierten Namen falsch. Ebenso seien
die dem Geber zugeschriebenen lateinischen Übersetzungen nichts
anderes als Fälschungen.
1928 gab Holmyaed elf Abhandlungen öäbirs heraus. Die Auffindung
der sog. ,,70 Bücher" durch Ruska veranlaßte Diskussionen über ganz
neue Probleme bezüglich der islamischen Chemie.
Im Jahre 1930 befaßte sich Paul Keaus mit den Problemen um
öäbir. Er bemühte sich festzustellen, wann Öäbir gelebt habe, und eine
Chronologie seiner Werke aufzustellen. 1935 fand er einige unbekannte
Werke von ihm und gab sie heraus. In den Jahren 1942/43 legte er seine
Untersuchungen über öäbir b. Hayyän in einem zweibändigen Werk^
nieder, das bis heute die ausführlichste und bedeutendste Arbeit auf
diesem Gebiet überhaupt geblieben ist. Seine Ansichten über öäbirs
Leben und seine Werke werden seitdem überall anerkannt^.
Den ersten Band seines Buches hat ICeaus dem literarischen Studium
der Bücher öäbirs gewidmet; er bestreitet jedoch deren Echtheit und
behauptet, es seien apokryphe Werke einer schütischen Schule von
1 Contribution ä l'histoire des idees scientifiques dans l'islam. Vol. I, Le corpus des 6crits Jabiriens, 1943, Caire; Vol. II, Jabir et la science grecque,
1942, Caire (Memoires presentes ä ITnstitut d'Egypte).
2 Ausgenommen E. J. Holmyabd, der trotz seiner Würdigimg der
Arbeit von P. Kbaus über öäbir bei seiner Auffassung über die Echtheit
des öäbir-Corpus im wesentlichen geblieben zu sein scheint, cf. seine Alche¬
misten des Islam im Mittelalter, in Endeavour, 1955.
Chemikern aus der zweiten Hälfte des 9. und dem Anfang des 10. Jh.,
die diese einem Manne namens öäbir zugeschrieben hätten.
Im zweiten Band setzt er sich mit dem eigentlichen wissenschaftlichen
Inhalt des Corpus Öäbirs auseinander und sucht nach dem Ursprung
seiner Ideen. Nach seiner Meimmg haben die chemischen Theorien
Öäbirs sehr wenig mit der antiken Chemie gemeinsam. So lehnte er z.B.
die Verwendung von Symbolen und Allegorien ab, machte den Körper
von Lebewesen zum Gegenstand seiner chemischen Untersuchungen und
arbeitete mit dem der Antike unbekannten Ammoniak. Nach Kbaus ist
der Ursprung von öäbirs System im Orient zu suchen, vielleicht in
Indien, vielleicht sogar in China.
Am Ende seines Buches gibt er der Tatsache Ausdruck, daß man auf
alle derartigen Fragen noch keine endgültige Antwort geben könne, da
die Studien über die Geschichte der islamischen Wissenschaften noch
nicht weit genug fortgeschritten seien.
In der Tat scheint heute, nachdem viele neue Materialien zugänglich
geworden sind, eine Überprüfimg seiner Ergebnisse notwendig geworden
zu sein.
Hier werde ich die Materialien behandeln, die uns vor allem Auf¬
schlüsse darüber geben, daß Öäbir — entgegen der Meinung von Kraus
— im 8. Jh. n.Chr. gelebt hat. Wenn wir die Richtigkeit dieser traditio¬
nellen Zeitangabe beweisen können, dann entstehen völlig neue Fragen
bezüglich der Quellen öäbirs. Nach meiner Meinung sind bei Kraus
einige Fehler in Bezug auf die Quellen Öäbirs entstanden, deren Grund
in der falschen Festlegung der Zeit öäbirs liegt, andererseits aber sind
einige Vorurteile gegenüber den Quellen der Grund für eben diese falsche
Festlegung von öäbirs Zeit.
Die Zweifel an der geschichthchen Persönlichkeit öäbirs sind schon
ziemlich alt. Bereits im 10. Jh. christlicher Zeitrechnung hat Ibn an-
Nadim^ sie aufgegriffen und zu widerlegen versucht. Obwohl er nicht
sagt, wer solche Zweifel geäußert hat, wird es doch deutlich, daß er die
folgende Angabe seines Zeitgenossen Abü Sulaimän al-Mantiqi meint*:
,,Ich habe einen Freund namens al-Hasan b. an-Nakad al-Mausili.
Der pflegte Bücher zu verfassen und dem öäbir zuzuschreiben und
brachte sie dann zu Liebhabern der Chemie, womit er eine schöne
Stange Oeldes vordiente".
Kraus mißt dieser Angabe von Abü Sulaimän al-Mantiqi eine großo
Bedeutung bei. Er sagt, daß dessen Freund al-Hasan b. an-Nakad al-
Maugili nach dem Jahre 320 der Higra, also 932 der christlichen Zeit¬
rechnung, die sog. ,,500 Bücher" des Corpus öäbirs verfaßt und die
' Fihrist ed. Flügel, 354ff.
* Cf. Kbaus, Contribution I, Vorwort LXIII-LXIV.
18 ZDHO 114/2
übrigen redigiert bzw. neu ediert habe. Er fügt freihch hinzu, er habe
leider keine weitere Angabe über einen Chemiker dieses Namens finden
können. Unter diesen Büchern, die Kraus dem Freunde des Mantiqi
zuschreiben möchte, sind eine ganze Menge solcher, aus denen Ibn
Umail, der ein Jahrhundert früher als jener lebte, Stücke entlehnt hat.
Allerdings muß man zugeben, daß Kraus glaubte, Ibn Umail habe im
4. und nicht im 3. Jh. der Higra gelebt.
Der wichtigste Beweis, den Kraus gegen die traditionelle Lebenszeit
öäbirs vorbringen kann, ist der, daß in einem seiner Bücher, dem Kitäb
al-Ihräg, bei der Behandlung des Problems der Emanation neben indi¬
schen und Mazdak-Philosophen auch die Karmaten zitiert werden. Tat¬
sächlich ist die Entstehung der Karmaten in der zweiten Hälfte des
3. Jh. der Higra anzusetzen. Dieses hätte ein Verfasser, der ein Jahr¬
hundert früher gelebt haben soll, nicht schreiben können. Es ist jedoch
nicht von solcher Wichtigkeit als daß es die Echtheit des ganzen Corpus
in Gefahr bringen könnte. Wir besitzen nämlich kein Autograph des
Verfassers, sondern finden diese Nachricht nur in einem ziemlich späten
Exemplar. Es ist schon möglich, daß bei einem Corpus von fast 3000
Abhandlungen die Überlieferer oder die Schüler oder auch die späteren
Kopisten, die der Schi'a oder der Karmatenbewegung angehörten, in
einer oder mehreren dieser Abhandlungen solche Hinzufügungen gemacht
haben.
Wir wollen nun über die Beweise für die im allgemeinen im islamischen
Bereich angenommene Lebenszeit öäbirs sprechen. Der bis heute älteste
Beweis wurde schon von Holmyard vorgebracht^. Er fand in dem Buche
al-Ahbär at-tiwäl von Abü Hanifa ad-Dinawari, der im Jahre 282/895
starb, den Hinweis auf einen schütischen Drogisten Hajiyän, der Anfang
des 2. Jahrh. der Higra gelebt habe und für die Schiiten und Abbasiden
tätig gewesen sei. Dieser Hayyän soll Yaqtin gekannt haben, den Vater
des 'Ali, den wiederum öäbir in seinem Corpus als seinen eigenen Zeit¬
genossen erwähnt^. Nach Holm yard muß dieser Haj^än also öäbirs
Vater sein. Kraus fand dieses eine kluge Konstruktion, als Beweis jedoch
sehr schwach'.
Die von mir als Beweis vorzubringenden neuen Materialien für die
Lebenszeit öäbirs lassen sich in zwei Gruppen aufteilen : die Zitate von
öäbirs Zeitgenossen und die Zitate von Chemikern, die im auf öäbir
folgenden 3. Jh. gelebt haben. Ich werde nicht sprechen von den von
mir neu gefundenen Materialien, die aus einer etwas späteren Zeit
^ An Essay on Jäbir ibn Hayyän, in Studien zur Oeschichte der Chemie,
Berlin, 1927, 28ff.
* K. al-Ahbär at-tiwäl, hrsg. v. Guibgass, Leiden 1888, S. 334—7.
' Contribution 1, Vorwort XLVI.
■
stammen, nämlich von al-Magriti, Ibn Miskawaih und Muhammad b.
Bisrün^, die ungefähr der Zeit von Abü Sulaimän al-Mantiqi angehören,
demselben, der von Kraus als ein starker Beweis gegen Öäbir gebraucht
wird.
Meiner Meinung nach finden wir den wichtigsten Beleg dafür, daß
Öäbir im 2. Jh. gelebt hat, bei Sälim al-Harräni, der ebenfalls dem 2. Jh.
angehört. Sälim ist der berühmte Gründer der Akademie ,,Bait al-Hikma"
zur Zeit des Chalifen Ma'mün*. Er ist im Griechischen als ,, Salmanas"
bekannt, unter welchem Namen uns eine Abhandlung über Edelsteine
in einer Übersetzung aus der byzantinischen Zeit in der Colleetion des
anciens alchimistes grecs (II, 364) erhalten geblieben ist. In den Istanbuler
Bibliotheken finden wir von Harräni das Exemplar einer Abhandlung
über ,,Die Natur der Dinge" und zwei Exemplare einer Abhandlung über
,,Elixiere"i''. In der Abhandlung über ,,Die Natur der Dinge" sagt er,
daß er 15 Jahre lang unter dem Einfluß der falschen Vorstellungen des
Arius über die Zusammensetzung der Materie gestanden habe und erst
durch Heraklius und durch Öäbirs Kitäb ar-Rahma sich davon habe
befreien körmen. Die genannte Abhandlung des Sälim ist auch insofern
wichtig, als sie uns zeigt, was für ein großes Interesse die Chemie im
2. Jh. in der islamischen Welt genoß. Außerdem enthält sie Beweise
gegen die negative Stellungnahme Julius Ruskas bezüglich der
Beschäftigung des Kaisers Heraklius mit der Chemie und der Zu¬
sammenarbeit christlicher und muslimischer Chemiker in dieser frühen
Periodeii.
Die aus dem 13. Jh. christlicher Zeitrechnung stammende Kopie eines
Sammelbandes, die in der Fatih-Bibliothek erhalten ist, enthält 2
weitere Hinweise für die Lebensdaten Öäbirs. Sie finden sich im Kitab
al-Gämi' von Ostan und in dem dazu geschriebenen Supplement seines
Übersetzers Yahyä b. Hälid al-Gassäni, denn sowohl im Original als auch
im Supplement wird öäbir häufig erwähnt. Wenn wir auch noch nichts
darüber sagen können, ob Yahyä b. Hälid al-6assäni mit Yahyä b.
Hälid al-Barmaki, der im 2. Jahrh. gelebt hat und über die Chemie ge¬
schrieben hat^^, identisch ist, so versteht es sich doch aus einer Be¬
merkung im Vorwort zum Werk Ostans, daß er Ostans Zeitgenosse war.
Wie man weiß, ist Ostans Zeit und Buch ziemlich heftigen Diskussionen
8 Sezgin, Üq. macmü'at ar-rasä'il in Review of The Inst, of Isl. Stud.
Istanbul, II, 2—4, S. 238—9
» Cf. Kraus, Contribution Vol. II, 39; Sezgin, Üq macmü'at ar-rasä'il S. 242.
1" Cf. Sezgin, Üq macmü'at ar-rasä'il, S. 242.
11 s. Arabische Alchemisten, Heidelberg, 1924, I, S. II, 12.
12 Cf. Ibn an-Nadim, S. 353 und Kraus, Contribution I, Vorwort XXXVIII ;
Isis, XV, 23fr.
18*
unterworfen gewesen^^. Das Kitäb al-Öämi' Ostans war vor der Auffindung
des Bandes in der Fatih-Bibliotliek in zwei Exemplaren vorhanden^*.
Daß öäbirs Name oft erwähnt wird, wurde von Kraus als apokryph
betrachteti5. Ich glaube, daß die Auffindung des Exemplars der Fatih-
Bibhotheki* für die Feststellung der Echtheit von Ostans Buch wichtig
ist. Wir erfahren, daß dieses Buch zuerst vom Verfasser selbst aus seiner
Muttersprache (vermutlich Syrisch) ins Griechische übersetzt worden ist,
dann von 'Ubaidalläh b. Ahmad al-Hindi aus dem Griechischen ins
Persische, von Öa'far b. 'Omar al-Färisi in den Dialekt von Nord-
Horäsän, und dann aus diesem Dialekt von Yahyä b. Hälid ins Iraq-
Arabische.
Den fünften derartigen Hinweis auf öäbir kann das Buch von Yahyä
b. Abi Bakr b. al-Barmaki liefern. Das Buch, nämlich das Kitäb Sarh
ar-rahma wa-z-zulma, ist in zwei Exemplaren, in Kairo und Teheran,
erhalten. Im Vorwort dazu erwähnt der Verfasser, daß er ein Schüler
von Öäbir b. Hayyän ist. Leider wurde dieses Buch von Kraus auch als
apokryph bezeichnet, weil im Vorteil der Name 'Öäbir' erwähnt ist^'.
Von den Chemikern, die im folgenden Jahrhundert lebten und öäbir
als Quelle benutzt haben, will ich auf drei Persönhchkeiten eingehen :
Ibn Umail, Ibn Wahsiya und Abü Bakr b. Zakariyä al-Räzi. Auch
Kraus hat diese erwähnt. Die Einstellimg von Kraus zum Datum des
öäbirschen Corpus hat es mit sich gebracht, daß die Beziehungen
zwischen öäbir und diesen, ihn als Quelle benutzenden Verfassern oft
Anlaß zu wimderlichen Interpretationen gegeben.
So hat er mit einer Kritik an den Lebensdaten Ibn Umails, von dem
man zuerst annahm, daß er im 3. Jh. gelebt habe, Brockelmann in der
letzten Auflage verbessert und Ibn Umail ein Jahrhundert später da-
tierfi^. Damit ist es kein Problem mehr, wenn der so im 4. Jh. datierte
Ibn Umail einige Werke Öäbirs erwähnt. Von Ibn Umail habe ich sieben
Bücher über die Chemie gefunden, die bis heute unbekannt geblieben
waren. Durch dieses neue Material erfahren wir, daß Abu 'l-Fadl Öa'far
an-Nahwi, der im Jahre 289 starb, Ibn Umails Zeitgenosse war^'. Wenn
man die neu gefimdenen Bücher untersucht, so sieht man, daß Ihn Umail
einen großen Teil des Corpus öäbirs kannte und von den Chemikern des
3. Jh. derjenige war, der am meisten von Öäbir profitiert hat.
Von den erwähnten Büchern ist das Kitäb an-Nihäya, das ein Kom¬
mentar zu seinem Mä' al- Waraqi ist, in zwei Exemplaren in den Biblio-
13 Cf. Steinschneider, Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen,
Graz 1960, 364—5; Kraus, Contribution II, 44.
1* In Leiden nr. 1259 und Privatbesitz v. Hänöi.
1^ Contribution I, 197. " Fatih 3635/4, 13^—44^.
1' Contribution I, 197. " Brock. G^ I, 278, S I, 429.
1' Sezgin, Üp maanü'at ar-rasä'il, S. 242—243.
theken Topkapi Saray und Be§iraga vorhanden^«. Wir erfahren, daß
Ibn Umail öäbirs Kutub al-Mawäzin und die sogenannten „500 Bücher"
gekannt haben muß und aus ihnen reichlich zitiert hat. Kraus hingegen
führt sie als gegen Ende des Corpus entstanden an und ordnet sie imgefähr in das Jahr 330/941 ein^i.
Sprechen wir nun über die Beziehungen Ibn Wahiiyas zu dem Corpus
des Öäbir: Die Tatsache, daß das Leben Ibn Wahäiyas ebenso wie das
der meisten anderen Chemiker unbekannt war, hat bei einigen Orienta¬
listen Zweifel an seiner Person hervorgerufen.
Dennoch ist es bekannt, daß Ibn an-Nadim ihn als einen Zeitgenossen
von Abü Qirän und Ihmimi, die Schüler öäbirs waren, erwähnt und
sagt, daß er mit ihnen in Beziehung gestanden und Schriftverkehr gehabt
habe. Ibn Wahsiya gibt im Vorwort zu seinem Buch al-Filäha an, daß
er das Buch im Jahre 291/904 verfaßt und 318/930 seinem Schüler Abü
Tälib Ahmad b. az-Zayyäd zur Weiterüberlieferung diktiert habe. Ob¬
wohl Kbaus keinerlei Beweise dafür besaß, hat er behauptet, daß Ibn
az-Zaj^äd nicht nur das Buch verfälscht, sondern daß er sogar die
Person des Ibn Wahsiya frei erfunden habe, obgleich wir über üm als
geschichtliche Persönlichkeit eindeutig Kenntnis besitzen. Ibn Wahliya
ist als Verfasser des Kitäb al-Filäha bekannt, das er, wie er selbst angibt,
aus dem Nabatäischen übersetzt hat. Wenn auch nicht in diesem Buch,
so erwähnt er doch öäbirs Namen in Büchern über fast dasselbe Thema,
die aber nicht Übersetzungen aus dem Nabatäischen sind, z.B. spricht
er im Kanz al-hikma oft von ,, unser Meister Abü Müsä", womit er öäbir
b. Hayyän meint. Aber im Vorwort zum Kitäb as-Sumüm (Buch der
Gifte), das er aus dem Nabatäischen übersetzt hat, erwähnt er Öäbir und
sagt: ,,Im islamischen Bereich wurden auch verschiedene Bücher über
Gifte geschrieben. Eines von ihnen ist von öäbir b. Hayyän as-Süfi, von
dem man sagt, daß er von den Azd stamme. Wenn diese Behauptung
zutrifft, so ist er ein richtiger Araber. Dieses Buch von ihm über die
Gifte ist großartig. Es enthält riesige verschiedenartige Probleme imd
nützliche Dinge. Wie erstaunlich ist es doch!"^"
Kraus führt diese Stelle an und sagt, daß das Kitäb as-Sumüm zu
den sog. ,,70 Büchern" gehöre. Sollten diese Angaben wirklich von Ibn
Wahäiya stammen, sagt er, so heißt das, das Ihn WahSiya oder die Ver¬
fasser der Ibn WahSiya zugeschriebenen Bücher nur die ersten Zu¬
sammenstellungen unter öäbirs Namen gekannt haben^^.
Wir sehen, wie sehr Kraus sich bemüht hat,, das Datum, das er sich
für das Corpus vorgestellt hat, zu rechtfertigen. Kann man aus dem
2° Sezgin, ebenda 242—247.
"1 Kraus, Contribution I, Vorwort LXV.
22 Ebenda LVII. 23 Ebenda LVIII.
obigen Zitat armehmen, daß Ibn Wahsiya, der ein Zeitgenosse von
Gäbirs Schülern war und mit ihnen Umgang pflegte, die anderen Werke
nicht gekannt habe ? Jedoch aus dem von Plessner gefundenen al-usül
al-kabir^* in der Rägib-Bibliothek und aus den von mir gefundenen
Kitäb al-wädih in der Saib-Bibliothek^^, KaSf ar-rumüz in Konya^«,
Nuzhat al-ahdäq wiederum in der Saib-Bibliothek^' und Risäla fi ma'rifat
al-hagar in der Nuri Osmaniye^s ^i^j.^ daß Ibn Wahsiya in seinen ver¬
schiedenen Themen von verschiedenen Büchern des Corpus profitierte.
Sprechen wir nun über die Beziehungen des Abü Bakr ar-Räzi, der im
Jahre 320/932 starb, zum Corpus des öäbir. Kraus findet diese Be¬
ziehung seinem Standpunkt gemäß sehr eigenartig und hat versucht,
sie auf sehr komplizierte Art zu interpretieren. Abü Bakr ar-Räzi, der
zugleich Arzt, Philosoph und Chemiker war, wird von Ibn an-Nadim
erwähnt, und zwar soll er von öäbir als „mein Meister Abü Müsä"
gesprochen haben.
Ibn Wahsiya in Kanz al-hikma und Magriti in Rutbat al-hakim bringen
einen Vergleich zwischen den Ideen Räzis und seines Meisters auf dem
Gebiete der Chemie, öäbir. Der Chemiker Tugrä'i, der im Jahre 515/1121
starb, behauptet, daß Räzi in seinem Kitäb al-Hagar einfach öäbirs
Kitab al-Mugarradät ungefähr völlig entlehnt hat. Kraus, der alle diese
historischen Hinweise anführt, sagt, daß in den zwei Kopien von Räzis
Sirr al-asrär, die sich in Kraus' Hand befanden, dieses nur Hinzu¬
fügungen aus späterer Zeit seien. Er sagt, daß auch das Liber de alumini-
Ims et salibus, in dem öäbirs Name oft erwähnt wird und das dem Räzi
zugeschrieben wird, nur eine Fälschung sei^'. Wie man aus dem Kitäb
as- Sawähid Räzis entnehmen kann, hat Räzi in seinem Kitäb at-Tartib
oder Kitäb ar-Räha aus öäbirs Kitäb ar-rahma Ideen übernommen, die
seinen eigenen völlig zuwiderlaufen, wie uns Kätip Qelebi berichtet, der
das Buch gelesen hat. Kraus nimmt dieses an, weil nach seiner Vor¬
stellung das Kitäb ar-Rahma schon in der ersten Hälfte des 3. Jh. dem
öäbir zugeschrieben worden sei^". Diese Annahme stößt seine Theorien
über die Chronologie des Corpus nicht um. Er nimmt auch an, daß Räzi
die sog. ,,70 Bücher", und die sog. „112 Bücher" gekannt habe^i. Die
merkwürdigste Betrachtung Kraus' zu der Beziehung zwischen Räzi
und dem Corpus ist folgende : Er meint, da Räzi in einigen seiner Bücher
die Werke öäbirs über dasselbe Thema nicht anführt und außerdem von
öäbir ganz verschiedene Gedanken äußert, daß diese Bücher öäbirs
2* lalamica IV, 549.
" Ismail Saib (Ankara) 3116 (S. 229—232, nur em Stück ist erhalten).
2« A. Ate?, Belleten XVI, 89. " Ismail Saib 3334/4 (14 Fol.).
28 NO 3631/1, (fol. 1—56). ^9 Kraus, Contribution, Vorwort LX.
3» Ebenda LX. " Ebenda LX.
erst in einer nach Räzi liegenden Zeit dem öäbir zugeschrieben worden
seien. So z.B. : öäbir wie auch Räzi haben beide ein Kitäb al-Hawäss
verfaßt. Räzi benutzt für sein Buch die antiken Autoren sowie Ibn
Mäsawaih (243/857), Kindi (256/870), Ahmad b. Rabban at-Tabari
(250/864) und Hunain (260/873), die alle im 3. Jh. gelebt haben. Kraus
sagt nun: Wenn Räzi öäbirs Buch, das noch umfassender und besser als
sein eigenes Buch war, gekannt hätte, so hätte er sicher nicht versäumt,
daraus zu profitieren. Dagegen steht dem nichts im Wege, wenn wir
denken, daß der Verfasser von öäbirs Buch von Räzi profitiert und
einen großen Teil seines Materials diesem Buche entnommen habe. Zu¬
mindest können wir annehmen, daß entweder beide voneinander unab¬
hängig sind oder dieselben Quellen benutzt haben. Kürzlich haben
J. Ruska und K. Gaebers gezeigt, daß die chemischen Rezepte im
Sirr al-asrär von Räzi und dem Kitäb ar-Riyäd al-kabir von öäbir eine
große Ähnlichkeit aufweisen.
Kraus sagt aber, daß trotz alledem ein genaues Studium der Texte
zeige, daß auch in diesem Fall zwischen öäbirs und Räzis Chemie keine
direkte Verbindung besteht, öäbirs Rezepte seien fast immer umfassender und stützten sich auf ,, Autoritäten' ' wie Sokrates und Plato, seien auch auf
arithmetischer Grundlage entstanden, die bei Räzi hingegen zu völlig fal¬
schen Ergebnissen führen. Er fügt hinzu , daß er hier auoh völlig mit Ruska
übereinstimme, nämlich, daß weder Öäbir Räzi nachfolge, noch Räzi dem
öäbir, sondern daß beide sich auf eine ältere Chemieschule stützten^ä.
Keaus weist hier auf zwei sehr wichtige Probleme hin: 1. Der große
Unterschied zwischen Öäbirs und Räzis Auffassung von der Chemie,
2. die Tatsache, daß Räzi in seinem Kitäb al-Hawäss, obwohl er von
antiken und von Verfassern aus dem dritten Jh. der Higra profitiert,
öäbirs Buch nicht benutzt. Keaus will hiermit seine Theorie über das
Datum des Corpus stützen, daß nämlich öäbns Bücher nicht in einer
vor Räzi liegenden Zeit entstanden seien.
Ich werde zeigen, daß hieraus sich aber Beweise für das traditionell
angenommene Datum des Corpus und für den wichtigen Charakter seiner
Chemie und vielleicht seiner gesamten Wissenschaft ergeben. Dies wird
rms auch zur Erklärung führen, ob die Quellen Öäbirs und Räzis
„gemeinsam" sind, wie Keaus behauptet hat. Indem Keaus im 2. Band
seines Buches öäbirs MateriaUen und Theorien und seine QueUen sehr
gut ausgewertet und den Unterschied zwischen ihm imd den anderen
islamischen Naturwissenschaftlern sehr geschickt erklärt hat, befindet
er sich in Wiederspruch zu seinem eigenen ersten Band, in welchem er
behauptet, daß öäbir nicht gelebt habe und die ihm zugeschriebenen
Werke im 3. und 4. Jh. von einer Schi'a-Schule hervorgebracht worden
32 Ebenda LXII.
seien. So kann er meiner Meinung nach nicht zu einer klaren und einheit¬
lichen Theorie gelangen. Im ersten Band versucht er, im Corpus einige
chronologische Widersprüche zu zeigen. Im 2. Band dagegen steht der
Leser einer besonderen, außerordentlichen Persönlichkeit unter den
islamischen Chemikern und in einem großen Maße auch den Natur¬
wissenschaftlern überhaupt und einer klaren, einheitlichen Verfasser¬
persönlichkeit gegenüber. Um diesen Widerspruch aufzuheben, müssen
wir zuerst öäbirs Lebenszeit in das 2. Jh. setzen. Damit stellen wir ihn
vor die Zeit, in der die islamische Welt mit der griechischen Wissenschaft
direkt und auf breiter Grundlage in Kontakt kam. In der ersten Periode
war die islamische Kultur in Kontakt mit dem Hellenismus innerhalb
eines hochentwickelten Kulturkreises, in dem auch andere Zivilisationen
ihren Einfluß genommen hatten. Viele Werke der griechischen Wissen¬
schaft wurden ins Syrische, Pahlavi und andere Sprachen übertragen.
In dieser Kulturwelt gab es viele pseudoepigraphische Werke, die antiken
Verfassern zugeschrieben wurden.
Aber im 3. Jh. wurde fast die ganze Aufmerksamkeit auf die griechische
Wissenschaft konzentriert. Viele verschiedene berühmte Übersetzer über¬
trugen Werke der griechischen Wissenschaft. Der Unterschied in der
Auffassung von der Chemie im Kitäb al-Hawäss von öäbir und dem von
Räzi wird uns helfen, auch den Unterschied zwischen den beiden Epochen
klarzumachen. Um in dieser Hinsicht zu einer klaren Vorstellung zu
gelangen, finden wir bei Staplbton und Keaus genügend Material.
In seiner Studie aus dem Jahre 1927 hat Staplbton öäbirs Über¬
legenheit gegenüber Räzi festgestellt. Seine unvergleichlich reicheren
Materialien und sein System nahm er als Beweis für die Echtheit imd
das Alter des Corpus. Nach Staplbton ist Räzi in seiner Chemie ohne
öäbir nicht denkbar und öäbirs Werke sind seine hauptsächliche
Quelle''^. Nach Ruska und besonders Kraus (wie er in seinem ersten
Band anführt) sollen Räzi und öäbir aber die gleichen Quellen benutzt
haben. Wenn wir aber den 2. Band von Kraus' Buch lesen, so sehen wir,
daß Räzi sich auf die griechische Wissenschaft stützt, öäbir hingegen
reicher und vielseitiger ist und bei ihm statt der griechischen eine
pseudepigraphische griechische Wissenschaft neben vielen anderen
einen Platz einnimmt^*. Wenn Kraus auch auf diesen Unterschied
zwischen beiden nicht geachtet hat, so hat er uns doch bei der Fest¬
stellung von öäbirs Quellen ein großartiges Arbeitsmaterial in die Hand
gegeben. Kraus hat tatsächlich von dem Einfluß der pseudepigraphi¬
schen Literatur in öäbirs Corpus gesprochen, die sich nach dem goldenen
'3 H. E. Stapleton, R. F. Azo and Hidäyat Husain, Chemistry in Iraq
and Persia in the X. Century A. D. (Mem. of the As. Soc. of Bengal, Vol. VIII,
1927), S. 317—418. ^i Contribution JI, 22—23, 63—95.
Zeitalter der griechischen Wissenschaft in anderer Umgebung als Frucht
der Gedankenentwicklung ergab. Er läßt aber ein klares Resultat in
seinem Werk vermissen, teilweise, weil er nicht in reichem Maße dieses
Quellemnaterial besaß, teilweise auch, weil er sich nicht vor Augen hielt,
daß Öäbir in einer Epoche lebte, in der die islamische Welt mit der
griechischen Wissenschaft noch keinen direkten Kontakt hatte. Ein
typisches Beispiel hierfür: wenn Öäbirs Bücher authentisch gewesen
wären, so hätten die Werke von Aristoteles, Alexander von Aphrodisias,
Galen und Plutarch ins Arabische übersetzt sein müssen, imd das in
einer Zeit, die mehr als ein Jahrhimdert vor dem Zeitalter liegt, für das
allgemein die Übersetzungen ins Arabische angesetzt werden. Dann hätte
weder Hwärizmi die indische Mathematik eingeführt, noch hätte die
Hunain-Schule als erste dio wissenschaftliche Terminologie im Arabi¬
schen festgelegt. An den Anfang der islamischen Wissenschaft müßte
man also eine solche Persönlichkeit stellen, welche die ganze Entwicklung
aller folgenden Generationen vorwegnimmt und sie vorher geformt, ja,
sie sogar nutzlos gemacht hätte'^. Ob Öäbir eine solche Persönhchkeit
war oder nicht, werden zukünftige Studien zeigen.
Ich hätte gern ausführlich über das neu gefundene Material gehandelt,
das sich auf öäbirs Quellen bezieht, jedoch ist dieses ein sehr umfassendes
Problem, öäbirs Quellen sind nicht nur chemische Texte, sondem ebenso
Texte philosophischen, mathematischen und physikalischen Inhalts. In
manchem Punkte hat Kraus über die chemischen Quellentexte öäbirs —
trotz einiger Fehler — großartige Oedanken geäußert. Nach ihm unter¬
scheidet sich öäbirs experimentelle Chemie wesentlich von der esoteri¬
schen Chemie der Griechen. In der griechischen Chemie ist niemals von
der Bereitung von Elixieren auf der Grundlage tierischer und pflanzlicher
Wesen gesprochen worden.
Ganz im Gegenteil hierzu besitzt öäbir die Konzeption einer ,, orga¬
nischen" Chemie; die Reduktion des Körpers auf die ihn aufbauenden
Grundstoffe bildet einen wesentlichen Teil von öäbirs Lehre und ist
ausschließlich an die Analyse organischer Wesen gebunden. Zu dieser
Methode, die öäbir in den graeco-orientalischen Schulen fand, brachte
er noch die Entdeckung eines neuen Grundkörpers. Dem schon vorher
bekannten Schwefel, Quecksilber und Arsen fügt öäbir das mineralische
Ammoniak und Ammoniakderivate hinzu. Nach Stapleton und Ruska
hat dies die antike Chemie völlig verändert.^*
Contribution I, Vorwort XLVIII.
3° Contribution II, 41; H. E. Stapleton, Sal Ammoniac, a study in
primitive Chemistry, in Mem. As. Soc. Bengal, I (1905), 25—40; J. Ruska,
Sal ammoniac, NuSädir und Salmiak, in Sitz.Ber. d. Heidelberger Akademie
d. Wiss., phil. hist KL, 1923, 23ff.
Daß die Bezeichnung nüSädir persisch ist, hat dazu geführt, daß man
die Entdeckung des Ammoniak bei den chemischen Schulen des sassani¬
dischen Imperiums suchen wollte. Kraus sagt, daß man vielleicht das
Verbindungsglied zwischen der griechischen und öäbirs Philosophie in
graeco-orientalischen Zentren suchen müsse. Er fügt hinzu, daß leider
unser heutiger Wissensstand es uns nicht erlaube, ihn noch genauer zu
lokalisieren^'.
Mehrere apokryphe Werke, die in den graeco-orientalischen Schulen
entstanden und in unsere Hände gelangt sind, habe ich nicht gründlich
darauf durchsuchen können, jedoch in einer hermetischen Abhandlung,
die sich in der Istanbuler Universitätsbibhothek befindet habe ich das
Ammoniak erwähnt gefundenes.
Heute besitzen wir einen großen Teil von Übersetzungen der Quellen,
die entweder aus der griechischen Antike oder aus den graeco-orienta¬
lischen Schulen stammen. Meistenteils sind die, die aus den graeco-
orientalischen Schulen stammen, von Öäbirs Zeitgenossen verfaßt. Weil
in diesen öäbirs Name oft genannt wird, glaubte Kraus, daß sie in
späterer Zeit falsch redigiert worden seien. Dadurch hat er einen großen
Teil der Materialien vernachlässigt, die ihm wichtige Anknüpfungs¬
punkte über den Geist der Zeit öäbirs hätten geben köimen.
Von den Werken, die den griechischen Verfassern Pythagoras, Platon,
Aristoteles und Zosimos zugeschrieben werden, glaube ich, daß nur
Zosimos' Mushaf as-suwar im 3. Jh. aus dem Griechischen übersetzt
worden ist. Die Untersuchung eines alten Exemplars von Zosimos, das
ich im Istanbuler Archäologischen Museum gefunden habe^', zeigt uns
den großen Unterschied zwischen öäbir und den anderen arabischen
Chemikern — den auch Keaus bemerkt — die vom 3. Jh. an ihre Theorien
in Allegorien kleiden. Z.B. nimmt in den Werken Ibn Umails, der im
3. Jh. lebte und in reichem Maße von öäbir profitierte, die Allegorie Inder
Chemie mit einem Male einen solchen Umfang an, daß er nicht mehr im
echten Sinne als Nachfolger von öäbir gelten kann.
Wollen wir die Beziehungen öäbirs zur indischen Chemie untersuchen,
so stehen uns hierzu zwei Werke zur Verfügung. Das eine davon ist von
Hätif al-Hindi, von dem klar wird, daß er Öäbirs Zeitgenosse war und
dem dieser 99 von seinen sog. ,,112 Büchern" gewidmet hat*"; es trägt den Titel Kitäb fi s-san'a, und ich habe es in der Bibliothek der Universi¬
tät Ankara*'^ gefunden. Das zweite ist die Risäla fi Hlm al-katif des
3' Contribution II, 42.
38 Istanbul Un. Bibl. A 6156 (88^—89"): Tafsir sahifatihi (Harmas) wa-kasf ramz al-hagar al-a'zam wa-tadbirihi.
3' Istanbul Arkeoloji Müzesi 1574 (224 Fol. und im Jahre 608 H. abge¬
schrieben). Kraus, Contribution, I, 38.
*i Ankara Üniversitesi, Ismail Saib Ktb. 1916 (la — 20a).
Tamtam al-Hindl, auf die ich in Kairo in der Tal'at-Bibliothek*^ ge¬
stoßen bin. Auf diesen letzteren finden sich bei öäbir keine Hinweise.
Ganz entgegen der Meinung von Kraus und Ruska ergibt sich ganz klar,
daß man nicht sagen kann: „Öäbir und Räzi haben die gleichen Quellen
benutzt".
Kommen wir nun zu der Tatsache, die Kraus als Stütze gegen die
traditionell angenommene Entstehimgszeit dos Corpus anführt, nämhch,
daß Räzi in seinem Kitäb al-Hawäss Öäbir nicht als Quelle benutzt, so
zeigt eine gleichzeitige Untersuchung der Quellen beider, daß sie von¬
einander völlig verschieden sind, und weist öäbir einer Zeit zu, in der
noch keine direkte Berührung mit der griechischen Kultur bestand, also
ins 2. Jh. Außerdem trennt es ihn von Räzi und den anderen islamischen
Autoren, die vor Räzi Bücher über hawäss = „die Eigenschaften der
Dinge" verfaßt haben.
Die Stützen für diese Behauptungen werde ich aus Keaus' eigenen
Studien entnehmen. Keaus sagt: ,,Es ist eine Tatsache von großer Be¬
deutung, daß das Buch öäbirs sich von einem großen Teil der von anderen
islamischen Chemikern über das gleiche Thema geschriebenen Bücher
unterscheidet. Obwohl diese letzteren in Berührung mit der antiken
Literatur standen, stellt öäbirs Werk ein Sammelbecken dar für alle
Arten von literarischer Produktion*». „Obgleich Öäbirs Kitäb al-Hawäss
an einigen Stellen mit den antiken Anschauungen übereinstimmt, ist es
doch von der griechischen Literatur verschieden. Sehr wahrscheinlich
stammt es aus orientalischen Quellen. Indem Öäbir sich in seinem
Kitäb al-Hawäss dem Begriff'»7Za „Grund, Ursache" zuwendet, kritisiert
er nicht nur die Theologen, welche die Existenz der Eigenschaften be¬
streiten, sondern auch die Philosophen, besonders Aristoteles, der
leugnet, daß der menschliche Vorstand je die Ursachen der Eigenschaften
auffinden könne. Während Räzi in seinem kleinen Buch über die Eigen¬
schaften sagt, die Ursachen, welche die Eigenschaften bestimmen,
seien und blieben uns verborgen, ist Öäbir ganz im Gegensatz hierzu
bestrebt, die Ursachen der Eigenschaften ans Licht zu bringen"**.
Abschließend ist zu dem Problem zu sagen: Ich habe versucht zu
zeigen, daß öäbir im 2. Jh. gelobt hat und der Verfasser des Corpus ist.
Es bleiben jedoch noch viele Probleme bezüglich Öäbirs Lehre und
Persönlichkeit zu bearbeiten. Vielleicht wird das Ergebnis nicht so sein,
wie ich es mir jetzt vorstelle, vielleicht irre ich mich auch völlig. Aber
nachdem ich Kraus' letzte Studien gelesen und zum Teil die Bücher von
öäbir studiert habe, bin ich davon überzeugt, daß öäbir b. Ha3rjrän den
*2 Tamtam oder Tumtum oder mit anderen Vokalen; in Tal'at Bibl.
(Kairo, Där al-Kutub) Magämi' 406.
" Kraus, Contribution II, 64—65. " Ebenda II, 94r— 95.
Höhepunkt und die Sjmthese einer Kultur bildet, die sich in den 5—6
Jahrhunderten entwickelte, die zwischen dem goldenen Zeitalter der
griechischen Kultur und der Zeit liegen, in der die Muslime wieder be¬
gannen, sich ernsthaft mit diesen Problemen zu beschäftigen. Abgesehen
davon, daß öäbir der Begründer der modernen Chemie ist*^, ist er auch
derjenige Philosoph des Mittelalters, der in großem Maße an den Er¬
klärungen verschiedener physikalischer, metaphysischer, philosophischer
und astronomischer Probleme der griechischen Wissenschaftler Kritik
geübt hat. Sein Einfluß auf die islamische Wissenschaft, die sich in den
folgenden Jahrhunderten mehr mit der Aufnahme und Ausarbeitung der
griechischen Wissenschaft beschäftigte, ist geringer gewesen als der, den
er durch lateinische Übersetzungen gerade auf die abendländische
Wissenschaft ausgeübt hat.
*5 Holmyabd in Proceedings of the Roy. Soc. of Medicine, XVI, 1923,
46—57.
des 7. Jahrhunderts
Von WiNFRiBD Petri, München
1. Ananija Schirakazi und sein Werk 2. Der Schöpfer und die Elemente 3. Das Empyreum
4. Die sieben Gestirnssphären 5. Die polnahen Sterne 6. Milchstraße und Tierkreis 7. Sonne und Finsternisse 8. Sonnenlauf und Kalender 9. Mond und Planeten 10. Erde und Mensch 11. Literatur
I. Der Verfasser und sein Werk
Armenien, das unter den Artaschessiden (189—1 v. Chr.) das mächtig¬
ste Reich hellenistischen Typs gewesen ist, dessen Herrscher sich ,, König
der Könige" nannten und als Gott verehren ließen, war während der
ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung ein ständiges Streitobjekt
zwischen den beiden Großreichen der Oströmer und der Perser. Im
Jahre 387 kamen vier Fünftel des Landes an Persien und ein Fünftel als
„Klein-Armenien" mit Trapezunt an Byzanz. Im Jahre 554 trennte sich
die armenische Kirche von der oströmischen. Nach zwanzigjährigem
Krieg wurde das Land 591 abermals geteilt. Unter Heraklios wurde
Armenien 628 ein Vasall von Byzanz, aber schon bald darauf, im Jahre
652, dem neuen islamischen Kalifenreieh einverleibt.
Ungeachtet dieser tragischen Zerrissenheit vermochte sich in Armenien
seit der Erfindung eines eigenen Alphabets durch Mesrop Maschtoz (361—
441) eine bedeutende literarische Kultur zu entfalten, die besonders auf
den Gebieten der Philosophie, Geschichtsschreibung und naturwissen-
schaftUchen Enzyklopädie Leistungen aufweist, die den Vergleich mit
zeitgenössischen Arbeiten in griechischer und lateinischer Sprache nicht
zu scheuen brauchen. Bezeichnend für die Gedankenwelt von Esnik
Kochbezi, Mowses Chorenazi, Dawid Anhacht, Egische und Ananija
Schirakazi — um nur die hervorragendsten Namen zu nennen — ist eine
eigentümliche Verbindung christlicher Orthodoxie mit den Konzeptionen
des ausgehenden Hellenismus, der weitgehend neuplatonisch geprägt
war, in der unmittelbaren Nachbarschaft von Mesopotamien und Iran
aber besondere Züge annahm, die teils synkretistisch rezipiert, teils