Artikel: Gesundheit Aargau Erschienen: Dez.2009
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Jeder Patient am richtigen Ort?
Im Gespräch: Barbara Reutlinger, Leiterin der Pflege im KSA, und Beat Müller, Chefarzt Innere Medizin, diskutieren über das Projekt "Optima." Quelle: GA Im Kantonsspital Aarau ist zurzeit ein schweizweit einzigartiges Projekt am Laufen: Dank «Optima» sollen Patienten künftig noch zielgerichteter betreut werden können.
Hanna Widmer, 74, ist seit dem Tod ihres Ehemannes alleinstehend. Sie ist geschwächt durch eine hartnäckige Bronchitis und hustet viel. Die
Atemweg-Infektion schränkt ihre limitierte Lungenfunktion weiter ein, da sie früher geraucht hat. Kürzlich ist sie in der Nacht gestürzt und konnte sich nur mit Mühe wieder aufrappeln. Der Haushalt bleibt unerledigt liegen,
kochen mag sie nicht mehr. So lässt sich Hanna Widmer schliesslich hospitalisieren, wo sie denn auch prompt Antibiotika erhält. So weit, so gut? Eben nicht. «Hanna Widmer ist im Akutspital vielleicht am falschen Ort.» Diese provokative Aussage stammt von Beat Müller, seines Zeichens Chefarzt der Inneren Medizin am Kantonsspital Aarau – und bedarf einer Erklärung.
Worum gehts bei «Optima»?
Seit diesem November ist im KSA ein schweizweit einzigartiges Projekt mit dem Namen «Optima » am Laufen. Dessen Ziel: «Die bedarfsgerechte Optimierung der Spitalmedizin und -pflege.» Was heisst das konkret? Beat Müller erklärt: «Wir wollen herausfinden, wie man die wahren medizinisch- pflegerischen Bedürfnisse des Patienten erkennen und so die Betreuung verbessern kann – und insbesondere dafür sorgen, dass diese am richtigen Ort geschieht.» Und der richtige Ort sei eben nicht zwingend das Akutspital.
Zum Fall von Hanna Widmer sagt Beat Müller: «Eine Bronchitis ist medizinisch eine unkomplizierte Erkrankung, die weder einer täglichen Arztvisite im Spital noch einer Antibiotika-Therapie bedarf.» Im Gegenteil, in der Routine des Spitalbetriebes würden oft zusätzliche Untersuchungen durchgeführt und Behandlungen verordnet. Wegen Schlafstörungen würden häufig Schlafmittel verschrieben, was die Bettlägerigkeit fördere und die eh schon verminderte Muskelmasse betagter Patienten weiter schwäche. «Unnötig im Spital zu liegen, kann ihre Gesundheit gefährden», so Müller mit einem Augenzwinkern.
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«Stehen pflegerische oder soziale Bedürfnisse im Vordergrund, so wäre ein aktivierende Pflege auf einer von der Pflege geleiteten Station sinnvoller», ergänzt Barbara Reutlinger, Leiterin der Pflege im KSA. Auch eine
spezialisierte Rehabilitationsklinik oder ein temporärer Aufenthalt in einem Ferienbett eines Altersheims wäre bis zur Genesung allenfalls eine
Alternative. Barbara Reutlinger: «Oft könnte auch eine Therapie zu Hause mit Spitex oder Haushaltshilfe die Spitalzuweisung verhindern oder zumindest den Aufenthalt im Spital verkürzen.»
«Zusammenarbeit fördern»
Barbara Reutlinger betont: «Wir haben im Kanton Aargau viele gute Mitspieler im Gesundheitswesen. Es geht darum, die Zusammenarbeit zu optimieren, Versorgungslücken aufzuzeigen und dadurch fit für die Zukunft zu werden.» Heute, nennt sie ein Beispiel, komme es vor, dass ein Patient hauptsächlich darum eine längere Zeit im Spital verweile, weil er eine anderweitige, spitalexterne Betreuung zu einem grossen Anteil selber berappen müsste. «Optima», so Barbara Reutlinger, solle solche Missstände und demotivierenden Hürden aufzeigen helfen und die Basis legen für eine bessere Vernetzung, auch finanzieller Art, und über die Spitalgrenzen hinaus.
Das Projekt, das sich in einer ersten Phase auf Patienten mit Atemweg- Infektionen konzentriert, sieht vor, dass künftig auf der medizinischen Notfallstation mithilfe gezielter Untersuchungen die Patienten schneller abgeklärt und der Schweregrad ihrer Erkrankung festgestellt werden kann.
So könne man – ein wichtiger Nebeneffekt – auch den Kapazitätsengpässen in den Akutspitälern entgegenwirken. Denn: Heute würden vermehrt Patienten mit niedrigem medizinischem Risiko hospitalisiert – und dies häufig wegen Atemweg- Infektionen als vermeintlicher Leitkrankheit. «Oft
ist die Notfallstation der schnellste Weg, zu medizinischer Hilfe zu kommen.
Betten-Engpässe und lange Wartezeiten sind die unangenehmen Folgen für die Patienten», erklärt Beat Müller.
Pflegestation – neu im Aargau
Heisst das, dass, wer künftig die Notfallstation im KSA aufsucht, vielleicht wieder nach Hause geschickt wird? Beat Müller verneint: «Die Betreuung ist gesichert, es braucht niemand Angst zu haben, abgewiesen zu werden.» Im Gegenteil: Die Anliegen der Patienten würden durch die genauen
Abklärungen noch gezielter wahrgenommen. Ein weiterer wichtiger Punkt von «Optima»: Die Pflege wird durch die Schaffung einer speziellen Pflegestation im KSA, auf der ausschliesslich Pflegefachleute arbeiten, aufgewertet – ein Novum im Kanton Aargau.
«Die Pflege verstehe ich als Brücke zwischen ‹krank sein› und ‹gesund sein›.
Unsere Aufgabe ist es unter anderem, den Patienten auf dem Weg zurück in die Selbstständigkeit zu befähigen und zu begleiten», erklärt Barbara Reutlinger. Hinzu komme die Koordination und Organisation mit
Haushalthilfen, denn viele Familienangehörige seien heute in ihren eigenen sozialen Verpflichtungen eingespannt. Natürlich stehen die Pflegenden jederzeit in Kontakt mit der Ärzteschaft. Barbara Reutlinger: «Wenn jede Berufsgruppe ihre Stärke einbringt, gewinnen der Patient, seine Familie und das Gesundheitswesen durch die Synergien viel.»
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Klarheit dank "Biomarkern"
Novum: Im Rahmen von "Optima" ist eine von der Pflege geleitete Station geplant.
Quelle: Susi Bodmer
Eiweisse, Proteine und Botenstoffe im Blut geben Aufschluss darüber, wie gefährdet die Gesundheit eines Patienten ist.
Die erste Phase des im November gestarteten Projekts «Optima»
dauert bis im Frühling 2010. Was bringt es dem Patienten konkret?
«Speziell Personen mit Atemweg-Infektionen werden von den Erkenntnissen aus der Saison 2009/2010 profitieren. Das
Fachpersonal wird entsprechend geschult und die Patienten erhalten nützliche Hinweise, die zu einem besseren Selbstmanagement führen», erklärt Barbara Reutlinger. Denn: Gut informierte Patienten lernen, Krankheiten zu verhüten; sind selbstständiger und
unabhängiger.
NOCH IST ES allerdings nicht so weit: «Die erste Phase des Projekts ist erst eine Art Probelauf, in dem die Risikoeinschätzungen überprüft, verfeinert und die Abläufe eingespielt werden», erklärt Beat Müller.
In der darauffolgenden Wintersaison 2010/2011 würden die optimierten Abläufe dann umgesetzt. Müller: «Und in der dritten Wintersaison möchten wir neben den Atemweg-Infektionen zusätzliche Krankheitsbilder involvieren und solche Patienten noch zielgerichteter betreuen.»
UND WIE geht man bei der Triagierung auf der Notfallstation vor?
«Anhand einer Liste von Fragen erfolgt einerseits eine pflegerische Risiko-Einschätzung. Andererseits kommen verschiedene Biomarker zum Einsatz; das sind im Blut zirkulierende Eiweisse, Proteine und Botenstoffe, die krankheitsspezifische Stresszustände im Körper anzeigen », erklärt Beat Müller. Auf diesem Gebiet ist das
Kantonsspital Aarau weltweit führend: So hat die Anwendung eines speziellen Biomarkers bereits zu einer 40-prozentigen Einsparung des Antibiotikaverbrauchs bei Atemweg-Infektionen seit 2007 geführt.
Autorin: Ursula Känel Kocher //Quelle: Gesundheit Aargau