DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
S
eit über zwei Jahrzehn- ten steht das Gesund- heitswesen trotz faszi- nierender Fortschritte in der Medizin im Mittelpunkt öf- fentlicher Kritik. Die stetige Verbesserung wirksamer Be- handlungsmöglichkeiten und die größere Sicherheit für den Patienten durch eine kontinu- ierliche Erweiterung des Lei- stungsspektrums in Diagno- stik und Therapie werden zwar von allen, die auf Hilfe hoffen, als geradezu selbstver- ständlich vorausgesetzt, in der veröffentlichten Meinung wird dagegen die damit ver- bundene Ausgabensteigerung als angebliche „Kostenexplo- sion" angeprangert.Bu
i m das nur politisch be- gründbare Dogma der Beitragssatzstabilität durchzusetzen, hat der Ge- setzgeber seit 1972 insgesamt achtmal eingegriffen. Die wohl tiefstgreifende Verände- rung seit Begründung der ge- setzlichen Krankenversiche- rung durch Bismarck erfolgt jetzt mit dem zum 1. Januar 1993 in Kraft tretenden Ge- sundheits-Strukturgesetz. In einzelnen Punkten kommt das Gesetz zwar (unterschiedli- chen) ärztlichen Gruppen entgegen. Eine langfristige Wirkung zur Sicherung der Leistungsfähigkeit und Finan- zierbarkeit unseres Gesund- heitswesens ist von diesem Gesetz freilich nicht zu erwar- ten — im Gegenteil, sicher ist die Weichenstellung zu weite- rer staatlicher Reglementie- rung: Planwirtschaft, Dirigis- mus, Beeinträchtigung oder sogar Beseitigung der Freibe- ruflichkeit des Arztes, Ent- wicklung einer Einheitskran- kenversicherung mit zwarZum neuen Jahr
Wider die
falschen Fronten
noch unterschiedlichen Fir- menschildern durch kassen- artenübergreifenden Risiko- Strukturausgleich zeichnen sich ab.
Doch auch künftig muß sich jeder Arzt um eine gute Versorgung der Patienten be- mühen. Deshalb sollten wir Ärzte trotz der in wichtigen Bereichen unseres Gesund- heitswesens durch das Ge- sundheits-Strukturgesetz von der Politik — entgegen allen Warnungen und Vorschlägen der ärztlichen Selbstverwal- tungskörperschaften — einge- leiteten desolaten Entwick- lung nicht resignieren. Die Ärzteschaft ist sich ihrer Ver- pflichtung zu sachkundiger Politikberatung weiterhin be- wußt.
• Schon heute ist darauf hinzuwirken, daß wieder ver- mehrt ärztliche Argumentati- on in der veröffentlichten Meinung bemerkbar wird und vor allem bei der künftigen Erarbeitung eines Gesund- heitsstrukturgesetzes II, das diesen Namen wirklich ver- dient, berücksichtigt wird.
• Weder mit Emotiona- lisierung noch mit Radikali- sierung, aber auch nicht mit weiterem politischen Aktio- nismus und dem Festhalten am Dogma der Beitragssatz- stabilität ist auf Dauer die Si- cherung der Leistungsfähig- keit unseres Gesundheitswe- sens erreichbar.
Wenn künftig nicht mehr alles von der Solidargemein- schaft der Beitragszahler be-
zahlt werden kann oder soll, ist eine Neubestimmung von Solidarität und Eigenverant- wortung erforderlich. Dazu muß vor allem die Politik endlich selbst definieren, wel- che „ausreichenden, zweck- mäßigen und wirtschaftlichen Leistungen", die „das Maß des Notwendigen" nicht über- schreiten dürfen, zu Lasten der gesetzlichen Krankenver- sicherung erbracht werden sollen. Die Ärzteschaft ist zwar weiterhin zum Dialog bereit, sie wehrt sich aber da- gegen, daß ihr ständig der
„Schwarze Peter" für die Ausgaben-Verantwortung im Gesundheitswesen zugescho- ben werden soll.
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A
rztliche Argumentati- on wird aber nur dann in den politischen Mei- nungsbildungs- und Entschei- dungsprozeß einfließen kön- nen, wenn sie möglichst ge- schlossen vorgebracht wird.Eröffnen wir also innerhalb der Ärzteschaft keine „fal- schen Fronten", sondern be- sinnen wir uns alle — unab- hängig von Art und Ort unse- rer ärztlichen Tätigkeit — auf unseren eigentlichen ärztli- chen Auftrag, der Gesundheit des einzelnen und der gesam- ten Bevölkerung zu dienen.
Auch die Arbeit der ehren- amtlichen und hauptamtli- chen Mitarbeiter in den ärztli- chen Selbstverwaltungskör- perschaften dient im Jahr 1993 unverändert diesem Ziel.
Dr. med. Karsten Vilmar Präsident der Bundesärzte- kammer und des Deutschen Ärztetages
Dr. med. Ulrich Oesingmann 1. Vorsitzender der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung
Dt. Ärztebl. 90, Heft 1/2, 11. Januar 1993 (1) A1-1