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Archiv "Übereinstimmung und Gegensätze" (01.08.1974)

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Bericht und Meinung Presseecho des Ärztetages

Auftakt mit der

„Lage der Psychiatrie"

Desolate Situation

„Die Diskussion über die teilweise ka- tastrophale Situation der psychisch Kranken in der Bundesrepublik ist in den letzten vier Jahren nicht mehr ab- gerissen. 1970 war sie Hauptverhand- lungsthema auf dem 73. Deutschen Ärz- tetag in Stuttgart; neben den Fachbe- reichen haben sich mehrfach Bundes- tag und Bundesregierung eingehend mit dem Thema beschäftigt. Mittlerwei- le besteht grundsätzliche Übereinstim- mung in den wichtigsten Punkten zu ei- ner Reform der psychiatrischen Versor- gung, aber angesichts des riesigen Fi- nanzbedarfs auf diesem Gebiet dürften die sachlichen Differenzen einer Re- form in weitaus geringerem Maße ent- gegenstehen als die Personal- und Ko- stenfrage.

Vor diesem Hintergrund ist die Behand- lung des Psychiatriethemas auf dem diesjährigen Deutschen Ärztetag in Berlin zu sehen. Der Marburger Psych- iater E. H. Ehrhardt machte klar, daß die absolut vordringliche Aufgabe einer Beseitigung der ,brutalen Realitäten' in den psychiatrischen Krankenhäusern nicht mit einer Grundsatzdiskussion über das ‚Gesamtsystem unserer Ge- sundheitssicherung' gekoppelt werden dürfe. Damit würden lediglich die not- wendigen Entscheidungen auf unab- sehbare Zeit verschoben. Eine soge- nannte ‚optimale' Versorgung der psy- chisch Kranken sei eine Zukunftsvision.

In einer Situation, in der es schlicht um das ‚Überleben' gehe, müsse man zu- nächst um eine auch nur einigermaßen befriedigende Versorgung bemüht sein.

Bei realistischer Betrachtungsweise muß Ehrhardt zugestimmt werden, daß es zunächst vordringlich um Hilfe für die ,Langzeitpatienten', für die soge- nannten ‚Pflegefälle', gehen muß. Die- sen zum großen Teil nicht mehr heilba- ren oder rehabilitierenden Kranken ist auch mit einem großzügigen Ausbau von Vorsorgeeinrichtungen nicht zu helfen ... Nach dem in Berlin verab- schiedeten ,Blauen Papier' steht die

deutsche Ärzteschaft weitgehend hinter den Forderungen einer avantgardisti- schen Gruppe von Psychiatern, die es auch verstanden hat, Politiker für die desolate Situation der psychisch Kran- ken zu interessieren. Um so befremdli- cher mußte das Vorgehen einer sich ,progressiv' gebenden Ärztegruppe er- scheinen, die durch ihr Eindringen in den Kongreßsaal den Abbruch der Po- diumsdiskussion zur Misere der psy- chisch Kranken herbeiführte ..." (Wil- helm Girstenbrey in: „Süddeutsche Zei- tung")

Warnung vor Planungsutopien

„Einig ist man sich auf dem 77. Deut- schen Ärztetag in Berlin darin, daß die psychiatrische Versorgung in der Bun- desrepublik nicht ausreicht. Meinungs- unterschiede aber wurden da deutlich, wo es um die Reform geht. Daß sie dringend notwendig ist, betont auch der Zwischenbericht zur Lage der Psychiatrie, der im Auftrag der Bun- desregierung von einer ärztlichen Sach- verständigenkommission ausgearbeitet wurde, nachdem 1970 die psychiatri- sche Versorgung zum Sorgenkind Num- mer 1 der Gesundheits- und Sozialpoli- tik proklamiert worden war.

Die noch recht vagen Reformvorschlä- ge des Zwischenberichts gipfeln in der

Forderung, die psychisch Kranken end- lich den körperlich Kranken gleichzu- stellen. Ein Verlangen, dem die Ärzte- schaft weitgehend zustimmt. Das kam in einer Podiumsdiskussion über die Lage der Psychiatrie zum Ausdruck, mit der die Plenumssitzungen des Ärzteta- ges eröffnet wurden.

In seinem Einleitungsreferat äußerte sich Prof. Erhardt (Marburg) zufrieden darüber, daß es in den vergangenen Jahren gelungen sei, die Fragen der psychiatrischen Versorgung in ihrer Kompliziertheit zu verdeutlichen und angebotene Patentrezepte zu entmytho- logisieren. Allerdings gelte es nach wie vor, die Bemühungen um die Reform nicht aus dem Auge zu verlieren oder gar umzufunktionieren. Es gehe darum, die Lage der Patienten in den psychia- trischen Krankenhäusern zu verbessern und ,nicht um die Betreuung der an-

geblich 7 Millionen behandlungsbedürf- tiger Neurotiker', sagte Erhardt.

Überhaupt gab es bei dieser Podiums- diskussion zahlreiche Warnungen vor Planungsutopien und -euphorien. ,Bei vielen der großen Reformvorhaben in unserem Land ist inzwischen überdeut- lich geworden, daß wir nicht alles ha- ben können', sagte Prof. Erhardt und bezeichnete es als nicht gut für die Pa- tienten, die Psychiatrie weiter zur Wie- se für systemüberwindende Planspiele zu machen ..." (Liselotte Müller in:

„Hannoversche Allgemeine Zeitung"

und ähnlich in weiteren Blättern)

Es folgte der „Eklat auf dem Deutschen Ärztetag"

Turbulente Szenen

„Zweieinhalb Stunden nach Beginn des 77. Deutschen Ärztekongresses in Ber- lin sprengte gestern die ,außerparla- mentarische Opposition' der Ärzte in wenigen Minuten den Kongreß. Über 200 Sympathisanten und Mitglieder der

‚Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Ärzte Deutschlands', der vor allem jun- ge Assistenzärzte angehören, drangen zusammen mit Studenten, Jugendlichen und einzelnen Kindern in die Berliner Kongreßhalle ein und forderten mit tur- bulenten Sprechchören, Megaphonen und Händeklatschen eine sofortige Dis- kussion. Dabei kam es zu vereinzelten Schlägereien.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Sewering, versuchte vergeblich, die gerade in Gang befindliche Po- diumsdiskussion über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik zu retten, indem er die vorwärtsdrängen- den ‚Gäste', die offensichtlich alle über Kongreßausweise verfügten und denen die älteren Saalordner und die beiden an den Eingängen postierten Polizisten hilflos gegenüberstanden, um Ruhe und Aufmerksamkeit bat. Als die ,Apo' im- mer lauter das ,Hereinlassen' ihrer draußen noch wartenden Kollegen und Kolleginnen forderte, bezeichnete Se- wering die Halle als überfüllt und rief den ,Jungärzten' wütend zu, wenn sie Ärzte sein wollten, sollten sie sich auch entsprechend benehmen. Die Tagung sei beendet. Dann erklangen offenbar vom Präsidium des Ärztetages bereitge- stellte Schallplatten mit wilden Rhyth- men aus Lautsprechern, so daß in den sich überall bildenden Gruppen prak- tisch kein Wort mehr zu verstehen war ... (K.

Naujeck in: „Rhein. Post")

Übereinstimmung und Gegensätze

Auszüge aus Zeitungsberichten und -kommentaren

über den 77. Deutschen Ärztetag

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DIE ARZNEIMITTELKOMMISSION

DER DEUTSCHEN ÄRZTESCHAFT GIBT BEKANNT:

Dosierungsgrenzen bei Aescin i.v.

beachten !

In den letzten Wochen wur- den der Arzneimittelkom- mission 108 Fälle von Nieren- funktionsstörungen bis zum akuten Nierenversagen, teils mit tödlichem Ausgang, be- richtet, bei denen ein Zu- sammenhang mit postopera- tiv intravenös gegebenem (3- Aescin in Form des Reparil®

nicht auszuschließen war. Es handelte sich zumeist um Kinder. In allen Fällen war die vom Hersteller erst im Februar 1974 empfohlene Do- sisbegrenzung überschritten worden. In vorausgegange- nen Ärzteprospekten, die bis Mitte 1973 keine besonderen Dosisangaben für Kinder ent- hielten, waren praktisch alle verwendeten Dosierungen als

„reaktionslos vertragen" be- zeichnet worden.

• Die Arzneimittelkommis- sion der deutschen Ärzte- schaft macht darauf aufmerk- sam, daß (3-Aescin i. v. wegen der geringen therapeuti- schen Breite (LD. bei der Ratte um 1 mg) sehr sorgfäl- tig dosiert werden muß.

• Bei Erwachsenen darf eine Tagesdosis von 20 mg nicht überschritten werden;

> bei Säuglingen und Klein- kindern bis zu drei Jahren beträgt die Tagesdosis 0,1 mg pro kg Körpergewicht und

> bei Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren 0,2 mg pro kg Körpergewicht.

• Obwohl für die weiteren untengenannten Präparate,

die Aescin als a-Aescin bzw. im Extrakt der Roßka- stanie enthalten, keine ent- sprechenden Mitteilungen vorliegen, wird auch für die- se dringend angeraten, die von den Herstellern angege- benen, unten aufgeführten Tageshöchstdosen nicht zu überschreiten.

Die Arzneimittelkommis- sion der deutschen Ärzte- schaft bittet um Überwa- chung der Nierenfunktion, insbesondere postopera- tiv, bei aescinbehandelten Patienten und Mitteilung aller einschlägigen Beob- achtungen. Es sollte stets sorgfältig geprüft werden, ob die Indikation zur postoperativen Anwen- dung der genannten oder anderer abschwellender Präparate überhaupt ge- geben ist.

Präparate*)

ci-Aescin:

alpha-Apoplectal- Ampullen (Klinge); Tagesma- ximaldosis für Erwachsene 6 Amp. = 30 mg a-Aescin

(3-Aescin: .Reparil-Ampullen

(Madaus)

Roßkastanienextrakt

Apoplectal-Ampullen (Klin- ge); Tagesmaximaldosis für Erwachsene 6 Amp. = 40 mg u-Aescin

Cycloven-Ampullen (Tempel- hof); Tagesmaximaldosis f.

Erwachsene 2 Amp. = 2 mg natives Aescin

Venostasin-Ampullen (Klin- ge); Tagesmaximaldosis für Erwachsene 6 Amp. = 24 mg a-Aescin.

*) ohne Gewähr für Vollständigkeit

BEKANNTGABE DER BUNDESÄRZTEKAMMER

Der Tumult — ein Warnsignal

„Als die APO kam, gingen die Delegier- ten nach Hause. Die Mitglieder des 77.

Deutschen Ärztetages hatten keine Lust, sich der Auseinandersetzung mit der neugegründeten ‚Arbeitsgemein- schaft unabhängiger Ärzte Deutsch- lands' zu stellen. Dennoch muß der Tumult in der Berliner Kongreßhalle von den Spitzenfunktionären der deut- schen Ärzteverbände als ein weiteres Warnsignal verstanden werden. Es gibt viele Ärzte, die zwar mit ihrem Einkom- men sehr zufrieden sind und auf dem Ärztetag brav mit dem Kopf nicken. In privaten Gesprächen aber geben vie- le zu, daß unser Gesundheitswesen durchaus ein paar kräftige Reformen vertragen könnte. Man kann zwar den einzelnen Arzt nicht für die Explosion der Kosten verantwortlich machen, wohl aber darf man von ihren Spre- chern erwarten, daß sie sich darüber den Kopf zerbrechen, wie man die Ko- sten in den Griff bekommen kann." (Ar- nold Gehlen in: „Neue Rhein/Ruhr- Zeitung")

Das blaue Papier

Gegen dirigistische Eingriffe

Der Deutsche Ärztetag hat sich am Mittwoch nahezu einstimmig für ein freiheitliches Gesundheits- und Sozial- system und gegen dirigistische und planerische Eingriffe ausgesprochen.

Das bewährte System könne vernünftig weiterentwickelt werden. Als 'Hauptred- ner vertrat der niedersächsische Kas- senarzt und das Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, Weinhold, die Auffassung, daß die für die gesundheitliche Versorgung der Bevöl- kerung wesentlichen Fortschritte schneller und wirtschaftlicher ohne je- den Zwang erreicht werden könnten.

Es wäre leichtfertig, den heutigen Lei- stungsstand des Gesundheitssystems durch gesellschaftspolitisch begründete Reformen aufs Spiel zu setzen. Das gehe immer zu Lasten der Patienten.

Auch im heute praktizierten System der ärztlichen Versorgung würden Fehler gemacht. Aber solche Fehler würden um so häufiger auftreten, je weniger persönliche Gewissenslast und Verant- wortung damit verbunden seien. Der Arzt müsse gegenüber dem Patienten die klare Verantwortlichkeit tragen.

Wenn die Ärzte ihre gesellschaftliche

• Fortsetzung auf Seite 2316

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Bericht und Meinung Presseecho des Ärztetages

• Fortsetzung von Seite 2315

Position als freier Beruf verteidigen, so nicht, weil sie sich davon eine beque- mere Lebensführung bei besserem Ver- dienst versprächen. Viel einfacher wäre es, den Gesundheitsplanern die Verant- wortung für den Verlauf ihrer Experi- mente aufzubürden ...

Das Vorstandsmitglied des Marburger Bundes. Vilmar, setzte sich für eine Strukturreform im Krankenhauswesen ein. Vor allem komme es darauf an, qualifizierten Fachärzten Lebensstellun- gen an den Krankenhäusern zu schaf- fen. Aus der wachsenden Zahl der Krankenhausärzte dürfe nicht der Schluß gezogen werden, daß sich die medizinische Versorgung der Patienten an den Krankenhäusern verbessert habe. An den Krankenhäusern habe sich nur die Zahl der in nachgeordne- ten Stellungen tätigen Ärzte vergrößert, während der Anteil der Fachärzte zu- rückgegangen sei." (Kg/„Frankfurter All- gemeine Zeitung")

Spät, aber nicht zu spät

„Spät kommen die Ärzte, doch sie kommen. Nachdem andere gesell- schaftliche Gruppierungen von Macht und Einfluß, die Parteien und Gewerk- schaften, die Öffentlichkeit schon längst mit ihren gesundheits- und so- zialpolitischen Vorstellungen bewegen, holt der Deutsche Ärztetag das mit sei- nem Blauen Papier jetzt nach. Schon wegen des zeitlichen Rückstandes ar- gumentieren die Ärzte zwangsläufig vielfach aus einer Position der Verteidi- gung. Andererseits fühlen sie sich in der Gesundheitspolitik als die Gruppe mit dem meisten Sachverstand, der al- lein der Neid das überdurchschnittliche Einkommen mißgönne und Unkenntnis ,die Bürde täglicher Entscheidung in ei- gener Verantwortung' nicht danke. Ist es so schwer zu begreifen, daß ein sol- ches Selbstgefühl in einer pluralisti- schen Gesellschaft nicht gerade wer- bend wirkt? Die Ärzte können sich nicht stolz als den freien Beruf schlechthin hochstilisieren und im glei- chen Atemzug verlangen, daß Gemein- den ihnen schlüsselfertige Arzthäuser zu Vorzugspreisen präsentieren. Aber mit ihrem Blauen Papier hat die Ärzte- schaft einen großen Schritt vorwärts getan. In teilweise scharfem Für und Wider beraten, in manchen Passagen nur mit knappen Mehrheiten gebilligt, ist ein liberales Konzept entstanden, das die Interessen der Ärzte zwar wahrnimmt, diese aber auch in die

Lage versetzt, sich mit jedem vernünfti- gen Partner an einen Tisch zu setzen, um einen positiven Kompromiß auszu- handeln." (Kurt Naujeck in: „Rheinische Post")

Nebelhaft

„Was auf dem vorjährigen Ärztetag in München bereits ,dem Grundsatz nach' gebilligt worden war, wurde unter die- sem Namen in redigierter Fassung vor- gelegt: die Leitsätze zur Gesundheits- und Sozialpolitik. Zwischen München und Berlin war eine Fülle von Anregun- gen in den ursprünglichen Entwurf ein- gearbeitet worden. Ein Reformpapier entstand dadurch wahrlich nicht; be- stenfalls wurden einige kleine Schritte vorgezeichnet, über denen jedoch noch der verbale Nebel von Formulierungen waberte wie dieser: ,Der Ärztetag hat klargemacht, daß er die Schlüsselstel- lung einer freien Ärzteschaft für die Er- haltung einer humanen Schutzzone er- kannt hat.' Ins Freund-Feind-Schema gehörten die Äußerungen, mit denen in- ternational erarbeitete Statistiken über Mißstände in der ärztlichen Versorgung auch der Bundesrepublik als ‚Phantasie- zahlen' abqualifiziert wurden, auch noch die Gesundheit in den Verwal- tungsgriff zu nehmen und den Ärzten die Freiheit zu rauben." (Helmuth Jung in: „Frankfurter Rundschau")

Analyse und Wertung

Arzt — kein Job

„Der ,Deutsche Ärztetag' in Berlin hat Schlagzeilen gemacht, weil eine oppo- sitionelle Gruppe mit Methoden der verblichenen APO in die Kongreßhalle eindrang und den Abbruch der Bera- tungen herbeiführte. In Wirklichkeit ver- dient dieser 77. Ärztetag aber aus ganz anderen Gründen öffentliche Beach- tung: Er hat erstmals ein Gesamtpan- orama der gesundheitspolitischen An- sichten der deutschen Ärzte diskutiert und verabschiedet, er hat die in letzter Zeit dringlicher gewordene Kritik an Mißständen in der ärztlichen Versor- gung aufgegriffen, und er hat konkrete Vorschläge zur Reform des Systems gegen dessen Sprengung oder Zerstö- rung vorgelegt.

Dennoch befände sich die Leitung der deutschen Ärzteschaft in einem ver- hängnisvollen Irrtum, wenn sie anneh- men sollte, durch die in Berlin geleiste-

te Arbeit sei der Krieg gegen ihre Geg- ner drinnen und draußen bereits ge- wonnen. Sie hat sich in einer Schlacht behauptet, nicht mehr ...

Die öffentliche Geltung, die persönliche Autorität, die Vertrauensstellung des Arztes lassen sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten, wenn der humanitäre und ethische Anspruch, den Ärzte an sich selbst richten, herabgemindert wird. Hier liegt der Kern des Problems.

Wenn eine neue Ärztegeneration ihren Beruf nur als Job begreifen sollte, wenn sich die Berufsauffassung des Arztes von der des Schalterbeamten nur noch durch die längere Ausbildung und die höhere Selbsteinschätzung un- terscheidet, wenn Ärzte auf dem Acht- stundentag, auf dem ungestörten Wo- chenende und auf risikofreier Ge- schäftsführung bestehen, wenn ärztli- ches Handeln nicht mehr als Hilfe zur Heilung, sondern als Reparatur nach Tarif betrachtet, wenn Arztdasein nach Dienststunden bemessen wird — dann darf sich niemand über eine katastro- phale Abwertung des Arztes in der Öf- fentlichkeit wundern.

Die Standesorganisationen der deut- schen Ärzte werden in den nächsten Jahren einen Krieg an mehreren Fron- ten führen müssen. Die ,innere Front' der eigenen Berufsgenossen dürfte da- bei wohl entscheidend sein." (Otto B.

Roegele in: „Rheinischer Merkur")

Falsches Selbstbewußtsein?

„Zieht man eine Bilanz des 77. Deut- schen Ärztetages, so fällt mangels spektakulärer Erfolge die von den ärzt- lichen Standesoberen offen zur Schau getragene Selbstzufriedenheit auf. Da- bei hatte es auf diesem Ärztetag etwas gegeben, was bislang undenkbar er- schien: Opposition hatte sich unüber- hörbar zu Wort gemeldet. Die ‚Aktions- gemeinschaft unabhängiger Ärzte` die sich der Unterstützung führender Stan- deskritiker versichert hatte, machte nämlich gleich am ersten Tag einen ge- meinsamen ‚Besuch' des Ärztetages.

Daß dieser Kollegenbesuch das Selbst- vertrauen der Ärztefunktionäre offenbar nicht ankratzte, liegt wahrscheinlich darin begründet, daß diese Opposition sich vornehmlich außerhalb der Berli- ner Kongreßhalle artikulierte. Unter den Delegierten reichte ihre Zahl hingegen noch nicht einmal aus, einen Antrag ordnungsgemäß einbringen zu können ... Gewiß, der Patient wurde auch diesmal viel bemüht, doch Eigeninteres-

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se der Standespolitik, zugeschnitten auf die Funktion des Kassenarztes triumphierte ... Es muß jeden einzel- nen Bürger interessieren, wenn bei , der Erörterung der kassenärztlichen Versor- gung so getan wird, als sei alles be- stens im Lot, mit keiner Silbe aber die zunehmende Überalterung der Kassen- ärzte gerade in ländlichen Gebieten er- wähnt wird. Schließlich kann es den Patienten auch nicht gleichgültig sein, wenn die in Berlin verabschiedeten ge- sundheitspolitischen Vorstellungen der Ärzteschaft sich fast ausschließlich an den Interessen der niedergelassenen Ärzte orientieren und bei striktem Fest- halten am bisherigen System ärztlicher Versorgung kaum Raum für Reformmo- delle lassen. Die Kritik an der ärztli- chen Standespolitik ist in den letzten Jahren ständig gewachsen. Sie wird auch nach Berlin nicht verstummen.

Vielleicht ist die zur Schau getragene Selbstzufriedenheit nur eine Flucht vor der Realität gesundheits- und sozialpo- litischer Notwendigkeiten." (Peter-Paul Henckel in: „Vorwärts")

Das Klima wandelt sich

„Die Erfahrung dieses 77. Deutschen Ärztetages in Berlin hat gezeigt, daß sich das Klima zu wandeln beginnt, was wahrscheinlich nicht zuletzt mit personellen Umbesetzungen in der Spitze der Bundesärztekammer zusam- menhängt. Zwar waren auch die alten militanten Töne noch zu hören (Ärzte- tagspräsident Professor Sewering: ,Je- der Versuch ... wird am geschlossenen Widerstand der Ärzte scheitern !`); es überwog aber die sachliche, wenn auch teilweise recht heftige Diskussion kon- troverser Standpunkte, die es durchaus auch innerhalb der Ärztekammern gibt ... Deckt sich bei den ‚Standesführern' Gesundheitspolitik vielfach noch immer mit Standespolitik, so laufen ihre ärztli- chen Kritiker Gefahr, sich auf ideali- stisch-ideologische Forderungen zu versteifen, ohne sich vorher die nötigen Detailkenntnisse zu verschaffen. Das Diskussionspapier des Ärztetages, die ,Gesundheits- und sozialpolitischen Vor- stellungen', scheinen bei der Arbeits- gemeinschaft weitgehend unbekannt zu sein. Nur so ist zu erklären, daß viele ihrer Ziele sich mit denen des Ärzteta- ges decken oder doch überschneiden.

Auch machen die Ärztetagskritiker kei- nen Unterschied zwischen den Kam- mern (die Körperschaften öffentlichen Rechts sind) und den teilweise viel li- beraleren und flexibleren freien ärztli- chen Verbänden, von denen so man-

cher Reformvorschlag kommt, den die Kammern erst Jahre später akzeptieren.

Die Kammern werden ihr Reformtempo erheblich beschleunigen müssen, wenn sie verhindern wollen, daß sich das seit langem heraufbeschworene Schreckge- spenst Sozialisierung materialisiert.

Diese Drohung, das wurde jetzt in Ber- lin deutlich, kommt nun auch aus den eigenen Reihen. Wer die nötigen Refor- men im Gesundheitswesen nicht aktiv fördert, statt immer nur zögernd Kon- zessionen zu machen, der wird, so steht zu befürchten, über kurz oder lang ‚überfahren' werden. ,Reform der kleinen Schritte' wurde das Gesund- heitspapier der Ärzteschaft genannt.

Große wären wahrscheinlich besser und sicher auch ohne Systemänderung möglich. Wenigstens aber sollten die kleinen nicht bloß Papier bleiben."

(Rosemarie Stein in: „Der Tagesspie- gel")

Kompromiß im „blauen Papier"

„Das ,blaue Papier' bringt somit den innerärztlichen Kompromiß zu den um- strittenen Fragen der Gesundheitspoli- tik. Die Grundlinie des ärztlichen Pro- gramms heißt Fortentwicklung des ge- wachsenen Systems der Gesundheitssi- cherung in Richtung auf mehr Freiheit für Arzt und Patient. Daß mit einer sol- chen programmatischen Festlegung den Systemveränderern, aber zugleich auch den Anhängern des überholten Chefarztsystems entgegengetreten wer- den soll, haben die Reaktionen der De- legierten auf Diskussionsbeiträge der wenigen ‚Progressiven' wie auch der Hochschullehrer gezeigt. Die ärztliche Standespolitik wird heute von den libe- ral-konservativen Kräften bestimmt. Da- bei hat die sachbezogene gegenüber der emotional bestimmten Argumenta- tion deutlich an Boden gewonnen. Die führenden Ärztevertreter machen sich auch keine Illusionen über die Chan- cen, die eigenen Auffassungen in die politische Wirklichkeit zu übertragen."

(Walter Kannengießer in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung")

Wind im Gesicht

„Kein Zweifel, der Wind weht den Ärz- ten ins Gesicht. Die Standespolitiker haben jetzt ihre außerparlamentarische Opposition, und über kurz oder lang wird es, wahrscheinlich zu ihrem Nut- zen, eine parlamentarische sein. Auch

in der Bevölkerung hat sich die Kritik- bereitschaft verselbständigt. Erfahrun- gen aus dem menschlichen Vitalbe-

reich sind im Spiele, und deshalb sollte man nicht von einer Modewelle reden, die von selbst wieder abklingt. Auch gehen negative Erfahrungen wie immer leichter durch die Öffentlichkeit als po- sitive, und natürlich werden sie verall- gemeinert, denn der Wind kann nicht differenzieren.

Schon längst geht die Auseinanderset- zung darüber, ob den Patienten heute bei sprunghaft steigenden Milliarden- kosten eine bessere medizinische Ver- sorgung zuteil werden könnte, als sie tatsächlich verfügbar ist, nicht nur die Ärzte an. Wenn daraus aber eine Ver- trauenskrise zwischen ihnen und der Bevölkerung entsteht oder sich ver- schärft, gibt es kaum jemanden, der sich für unbetroffen halten könnte. Die vielstimmige Kritik läuft auf den Vor- wurf hinaus, daß Mediziner im Na- men der Freiheit sich für ärztliche Tä- tigkeitsfelder und Orte der Niederlas- sung entscheiden, die zwar für sie wirt- schaftlich attraktiv sind, aber nicht im- mer zugleich auf der Linie des nach- weisbaren Bedarfs an ärztlicher Versor- gung liegen ...

Freiheit und Verantwortung bedingen die Bereitschaft, auch das Geld für neue Formen ärztlicher Teamarbeit auf- zubringen, aus denen die Ärzte schließ- lich selbst ihren wirtschaftlichen Nut- zen ziehen. Angesichts des mächtig an- gestiegenen Honorarvolumens und in einer Situation, da die Kritiker kein gu- tes Haar an den Ärzten lassen wollen, ist Opferbereitschaft nicht abwegig. Es geht darum, Zeichen zu setzen, die be- weisen, daß die Ärzteschaft eben nicht, wie die Kritik behauptet, aus lauter ein- zelnen besteht, von denen jeder für sich konzentriert und erfolgreich damit beschäftigt ist, seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, sondern daß die Ärzte gerade jetzt als Berufsstand gel- ten dürfen, der in Geschlossenheit mehr noch seine Pflichten als seine Rechte verteidigt." (Albert Müller in:

„Die Welt")

Ablehnung

„Daß die ärztlichen Standesfunktionäre nach wie vor jeder sachlichen Ausein- andersetzung aus dem Weg gehen, ist nicht neu. Nur so ist es zu verstehen, daß der Berliner Ärztetag in seinen ,Ge- sundheits- und sozialpolitischen Vorstel- lungen' erneut alles ablehnt, was nach Veränderung riecht. Dazu zählen bei- spielswelse Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte beim werksärztlichen Dienst, medizinisch-technische Zentren

(5)

Bericht und Meinung

Presseecho

zur besseren Diagnoseerstellung, ein gemeinsamer sozialärztlicher Dienst, Ambulatorien in unterversorgten Gebie- ten und vieles mehr. Wenn die ärztli- chen Standesvertreter weiterhin so stur

bleiben, dann laufen sie Gefahr, daß die Reform des Gesundheitswesens an ihnen vorbeigeht." (Albert Kuhlwein in:

„Welt der Arbeit")

Umdenken

„Man fragt sich, ob der Ärztetag in Ber- lin vielleicht nur deutlich macht, wie groß der Nachholbedarf an nüchternem Tatsachendenken bei den Ärzten ist.

Der normale Sterbliche, der in der plu- ralistischen Gesellschaft längst gelernt hat, sich mit gegensätzlichen Überzeu- gungen zu arrangieren, findet die Show in Berlin deshalb so peinlich, weil die Beteiligten nicht merken, wie komisch das eigentlich ist. Da gebärden sich junge Mediziner wie Revoluzzer, weil sie es versäumt haben, ihre Stimme bei Delegiertenwahlen abzugeben; da ver- suchen die Erbhofbauern der Ärzteor- ganisationen, ihren politischen Ein- fluß mit Klauen und Zähnen zu verteidi- gen.

Zweifellos sind beide Parteien von der Richtigkeit ihrer Ansichten völlig über- zeugt. Sicherlich haben sie, auch im Blick auf den Patienten, nur das Beste im Sinn. Schwierig scheint nur, den zerstrittenen Ärzten klarzumachen, daß dem Patienten weder zornige Polemik gegen das System noch allzu durch- sichtige Beschwichtigungsversuche viel

nützen." (Gisela Rothermel in: „Stutt- garter Nachrichten" und weiteren Blät- tern)

Was bleibt ...

„Der 77. Deutsche Ärztetag, der am Wochenende in Berlin zu Ende ging, hat ein paar Narben hinterlassen, die der Stand, vor allem aber seine einzel- nen Mitglieder noch öfter nachdenklich betrachten werden. Es gab erstmals ein ,go in', nicht von berufsfremden Rabau- ken, sondern von Stoßtrupps aus der eigenen Familie ... Was von diesem Ärztetag bleibt, ist nicht die Erinnerung an lautstarke Deklamationen, sondern an die Reformbereitschaft, die sich bei zahlreichen Anlässen zeigte. Reformen werden rascher durchgesetzt, wenn der Stand geschlossen auftritt. Es ist immer ungut, wenn einige glauben, sie könn- ten den Fortschritt wie eine Straßen- bahn etwas schneller besteigen als ih- re Kollegen." (Richard Kaufmann in:

„Deutsche Zeitung/Christ und Welt")

Neben der ambulanten ärztlichen Versorgung kommt der ärztlichen Versorgung der Patienten im Kran- kenhaus wegen der Entwicklung der Medizin und wegen des Wan- dels der gesellschaftlichen Verhält- nisse eine wachsende Bedeutung zu.

Die in der öffentlichen Verwaltung entwickelten Strukturen wurden ohne Rücksicht auf die besonderen Belange der ärztlichen Versorgung auf das Krankenhaus übertragen.

Der Mangel an Flexibilität in den herkömmlichen Verwaltungsstruk- turen erschwert immer mehr die notwendige Anpassung der Kran- kenhausorganisation an die sich wandelnden Erfordernisse. Er hat dazu beigetragen, daß die Kosten der Krankenhäuser seit Jahren überproportional angestiegen sind;

denn die Ursachen hierfür liegen nicht nur in der schnellen Entwick- lung der im Krankenhaus ange- wandten Technik und den erweiter- ten Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie.

Wenn das Krankenhaus auch in Zukunft seine Aufgabe für den Be- reich der stationären Behandlung medizinisch und ökonomisch sinn- voll erfüllen soll, ist ein Umdenken bei der Gestaltung der Kranken- hausstrukturen erforderlich.

*) Das Vorwort des Blauen Papiers (in we- sentlichen Auszügen) sowie das erste Kapitel, das auf die Grundlagen dieser

„Gesundheits- und sozialpolitischen Vor- stellungen der deutschen Ärzteschaft"

eingeht, hatte das DEUTSCHE ÄRZTE- BLATT bereits in Heft 25/1974, Seite 1817 ff., veröffentlicht; der Abschnitt B 1

— „Ambulante ärztliche Versorgung" — ist in Heft 28/1974, Seite 2169 ff., wie- dergegeben worden.

1.

Krankenhausplanung

Voraussetzung für eine Reform des Krankenhauswesens ist eine Kran- kenhausplanung, die eine bedarfs- gerechte Gliederung der Kranken- häuser sowohl nach der Aufgaben- stellung als auch nach der regiona- len Verteilung ermöglicht. Wegen ihres Sachverstandes sollten hier- bei Ärzte verantwortlich mitwir- ken.

Die Vorschriften der Krankenhaus- gesetze über die Beteiligung von Ärzten bei dieser Planung hält die deutsche Ärzteschaft für unzurei- chend. Diese Krankenhausplanung darf nicht mehr als notwendig in die Eigenständigkeit der Kranken- hausträger eingreifen und keine Präferenzen zugunsten bestimmter Trägergruppen schaffen.

Auch im Rahmen einer Kranken- hausplanung muß der Leistungsver- gleich und damit ein gesunder Wettbewerb zwischen verschiede- nen Krankenhausträgern ermög- licht werden.

Ziel entsprechender Reformen muß es sein, neben einer besseren Ver- sorgung der Patienten durch eine günstigere Relation zwischen Ko- sten und Leistung auch zu besse- ren wirtschaftlichen Ergebnissen zu kommen. Dem Patienten dient nur eine dem Stand der medizini- schen Entwicklung entsprechende Versorgung, für die die personellen und apparativen Voraussetzungen zu schaffen sind. Mit repräsenta- tiven Ausstattungen und Gebäuden ist ihm nicht geholfen.

THEMEN DER ZEIT

Stationäre ärztliche Versorgung

Das Blaue

Papier:

Abschnitt B 2 der „Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft"*)

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