A-748 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 12, 24. März 2000 er Name klingt vertrauener-
weckend für eine Heil- und Pflegeanstalt: Pirna-Sonnen- stein. Schon kurz nach deren Grün- dung 1811 wurde er zum Synonym für eine fortschrittliche Psychiatrie, die sich eine humanere Betreuung und die Heilung der Patienten statt der bloßen Verwahrung zum Ziel gesetzt hatte. Doch 1940 und 1941 stand Pirna-Sonnenstein für Menschenver- achtung und Tod. Damals wurden auf dem Gelände der kurz zuvor geschlossenen Anstalt et-
wa 15 000 Kinder, Frauen und Männer vergast. Er- mordet wurden vor allem psychisch Kranke und gei- stig Behinderte, aber auch Häftlinge aus Konzentra- tionslagern.
Der Sonnenstein ge- hörte zu den sechs Tötungs- anstalten im Rahmen der so genannten Aktion T 4.
Aufgrund des Engagements einer Bürgerinitiative be- findet sich dort heute eine Gedenkstätte. Am 11. März wurde mit einer nationa- len Gedenkfeier der Opfer des Nationalsozialismus un-
ter den psychisch Kranken und Behin- derten gedacht. Tags zuvor fand im Sächsischen Krankenhaus für Psychia- trie und Neurologie Arnsdorf ein Sym- posium statt zum Thema „Gewalt ge- gen psychisch Kranke: gestern, heute – und morgen?“.
„Kein anderer Ort in Deutsch- land ist geeigneter, um diese Ge- denkfeier abzuhalten“, sagte Prof.
Dr. med. Wolfgang Weig. Der Son- nenstein zeige zwei Gesichter: das der Reform- und das der Tötungsanstalt.
Weig ist Vorsitzender der Bundes- direktorenkonferenz Psychiatrischer Krankenhäuser. Ihre Mitglieder hat- ten die Gedenkfeier initiiert. Sie wur- den dabei nach Weigs Worten von der eigenen Fachgesellschaft ebenso unterstützt wie von Verbänden der Krankenpflege und Administration.
Die deutsche Psychiatrie sei sich ihrer Schuld bewusst, betonte Weig vor rund 100 Zuhörern. Sie gedenke in Trauer der getöteten psychisch Kran- ken und Behinderten.
Bundesgesundheitsministerin An- drea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) würdigte das Engagement für die Ge- denkfeier (ihre Rede ist im Anschluss dokumentiert). Dass eine solche erst heute stattfinde, müsse aber alle mit Scham erfüllen. Der sächsische Ge- sundheitsminister Dr. Hans Geisler (CDU) ging der Frage nach, wie man mit Orten wie dem Sonnenstein umge- hen solle. Seiner Ansicht nach muss man die „Anatomie“ der begangenen Verbrechen zu entschlüsseln versu-
chen. Dafür sei es nötig, den Spuren von Opfern und Tätern nachzugehen:
„Nur so haben wir die Chance, einen Lebensweg zu verstehen, ein Gesicht zu erkennen.“
Orte wie der Sonnenstein reakti- vieren die Fakten des Grauens. Im Juli 1933 wurde das so genannte Ge- setz zur Verhütung erbkranken Nach- wuchses erlassen, im Oktober 1935 das Gesetz zum Schutze der Erbge- sundheit des deutschen Volkes. Im Rahmen der T-4-Aktion brachte man etwa 70 000 psychisch Kranke und Behinderte um. Offiziell wurde die Aktion 1941 beendet, doch inoffi- ziell wurden „Lebensunwerte“ weiter vergast, mit Medikamenten zu Tode gebracht, ausgehungert. Gleichzeitig griffen die Nationalsozialisten auf ihrem Weg massenhafter Vernichtung auf die Euthanasieerfahrungen zu- rück. Etwa ein Drittel des Personals der Tötungsanstalt Sonnenstein wur- de in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibór und Treblinka eingesetzt.
Nach dem Krieg wurden mehrere Ärzte, Pfleger und Krankenschwe- stern des Sonnenstein zum Tode oder zu Haftstrafen verurteilt. Im Zuge einer Amnestie in den 50er-Jah- ren kamen die meisten auf freien Fuß. Auch in der DDR konnte man danach durchaus Karriere machen.
Die Verbrechen auf dem Sonnenstein gerieten in Vergessenheit, zumal er lange nicht zugänglich war, weil man dort eine Trieb- werksproduktion angesie- delt hatte.
Der Sonnenstein heute – das ist ein Areal mit ver- schiedenen Firmen und Insti- tutionen. Seit kurzem arbei- ten dort auch 240 Frauen und Männer in Behinderten-Werkstätten. Martin Wallmann, als Geschäftsführer der Ar- beiterwohlfahrt Sonnenstein zuständig für die Werkstätten, sagt, er trauere um die Menschen, die umgekommen seien.
Er wolle sich aber dadurch nicht läh- men lassen. Am Beginn solcher Ereig- nisse wie der Euthanasie stehe immer Ausgrenzung. Deshalb werde auf dem Sonnenstein wieder der Versuch unter- nommen, behinderte Menschen zu in- tegrieren. Sabine Rieser
P O L I T I K AKTUELL
Ärzte und medizinisches Personal der Anstalt Sonnenstein in der NS-Zeit. Die Auf- nahme entstammt dem Buch „Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen – Beiträge zu ihrer Aufarbeitung“. Weitere Literatur bei der Verfasserin
Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein
Nationale Gedenkfeier für die Opfer der „Aktion T 4“
Auf dem Sonnenstein in Sachsen wurden 1940 und
1941 rund 15 000 Behinderte und psychisch Kranke vergast.
An ihr Schicksal erinnerte eine nationale Gedenkfeier.
D
Foto: Archiv des Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V.