Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 40|
4. Oktober 2013 A 1869D
as Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung be- steht seit nunmehr 20 Jahren. Es ent- stand 1993 auf Initiative des Sächsi- schen Landtages und ist als soge- nanntes An-Institut mit der Techni- schen Universität Dresden verbun- den. Bei einem Festakt im Sächsi- schen Landtag am 27. Juni erinnerte Landtagspräsident Matthias Rößler, einer der Initiatoren des Instituts, an die Motivation, eine solche For- schungseinrichtung in Ostdeutsch- land zu errichten: Dort existiere eine„Transformationsgesellschaft“, die gleich zwei totalitäre Systeme miterlebt und überstanden ha- be. Aus dem Institutsauftrag resultieren, so die sächsische Wissenschaftsministerin Sa- bine Freifrau von Schorlemer,
„höchst brisante Forschungs- vorhaben“.
Ein solches war auch das Ärzte-Projekt. Die Ärzte- schaft verdankt dem Institut nämlich eine gründliche, über mehr als drei Jahre lau- fende Studie zu Ärzten als inoffiziellen Mitarbeitern der DDR- Staatssicherheit. Das Projekt wurde vom Deutschen Ärzteblatt und sei- nen Herausgebern unterstützt, die Ergebnisse 2008 veröffentlicht. Sie
sorgten für Aufsehen und werden bis heute zitiert. Das Institut be- schäftigt sich interdisziplinär mit der Geschichte und Funktionsweise totalitärer Systeme und dem Sys- temvergleich. Im Blick sind die Tä- ter. Doch gehöre es auch zu den Aufgaben, das Andenken an die Op- fer wachzuhalten, betont Instituts- leiter Prof. Dr. Günther Heyde- mann. Die kämen oft zu kurz.
Gerade das trat bei einer interna- tionalen Fachkonferenz am 28. und 29. Juni anlässlich des Institutsjubi- läums einmal mehr zutage. Sie galt
dem Umgang mit den Op- fern in Europa – nach den Diktaturen. Dieser ist zu- meist beschämend. Und ein Zweites: Ein Blick auf die Landkarte zeigt, wie verbrei- tet Diktaturen im 20. Jahr- hundert in Europa waren (teils bis heute sind).
So unterschiedlich die Diktaturen und deren Trans- formation in normalere Ver- hältnisse auch waren, im Umgang mit Opfern zeigen sich ge wisse Parallelen: Anfänglich Leugnung, ja Ablehnung des Opfer- status, gefolgt von zögerlicher Re- habilitation, die in offene Würdi- gung übergehen kann. In Deutsch-
land wurden nach 1945 NS-Opfer und Kriegsopfer mit „unglaublicher Härte“ (Clemens Goschler, Bo- chum) behandelt. Die Sowjetunion sah Soldaten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten wa- ren, als Verräter an. In Spanien war und in Griechenland ist das Thema tabuisiert, soweit die Bürgerkriege betroffen sind. Anerkennung und Rehabilitation stehen bisweilen nur auf dem Papier. Manchmal folgt auf die Rehabilitation die materielle Entschädigung in Form unentgeltli- cher Krankenbehandlung, Renten oder einmaliger Abfindungen. Wenn Geld fließt, dann wenig. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 1965 gab es zum Beispiel für jeden Tag der KZ-Haft fünf Mark (!).
Dabei ist Deutschland mit dem Gesetzesanspruch noch großzügig.
Entschädigt wurden/werden über- wiegend jüdische Opfer. Zu Recht.
Andere Opfergruppen indes wurden
„vergessen“. Darunter die Zwangs- sterilisierten. Sie waren/sind auf die Unterstützung durch Härtefonds angewiesen. Genauer zu beleuchten wäre, ob die Herkunft der Opfer über deren Rehabilitation entschei- det. Es scheint zum Beispiel, dass Opfer eigener Diktaturen besonders lange verleugnet werden. Opfer, die durch fremde Eroberer Leben oder Gesundheit verloren, werden im ei- genen Land eher anerkannt, im Land der ehemaligen Eroberer aber vergessen, sofern nicht pressure groups die Opferentschädigung ein- fordern. Opfer medizinischer Expe- rimente, von Zwangssterilisationen, ganz zu schweigen von den durch
„Euthanasie“ umgebrachten Patien- ten, die zu den schwächsten ei- ner Gesellschaft gehören, geraten schnell ins Hintertreffen.
In Deutschland wird der NS-Op- fer inzwischen angemessen ge- dacht, im Westen seit längerem, in der DDR wurden nur antifaschisti- sche Opfer gewürdigt, während Op- fer der NS-Rassenpolitik außen vor blieben. Ganz selbstverständlich ist das Gedenken aber auch heute nicht. Man denke nur an die zähen Bemühungen um einen zentralen
„Euthanasie“-Gedenkort. Er wird nun endlich in Berlin realisiert.
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Norbert Jachertz
NACH DEN DIKTATUREN
Die Opfer kommen zu kurz
Ein kurzer Blick auf Totalitarismus in Europa und dessen Bewältigung
Befreite Häftlinge des KZ Buchenwald:
Nach dem Bundes- entschädigungsge- setz gab es für jeden Tag der KZ-Haft fünf Mark.
Das Hannah- Arendt-Institut wurde 1993 ein - geweiht.
Fotos: dpa