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Archiv "Das Antlitz einer Agonie: Zur Ausstellung von Ferdinand Hodlers Werkzyklus Valentine Godé-Darel" (23.09.1976)

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Bild oben: Ausschnitt aus einer Studie Ferdinand Hodlers zu „Femme joyeu- se", um 1909, Bleistift auf Fabriano, 35,9 mal 25,4 cm, Galerie Kurt Meiss- ner, Zürich — Bild unten: Ferdinand Hodler „Die sterbende Valentine Godö- Darel", Rechtsprofil, 1915, Kreide und Öl auf braunem Papier, 34 mal 48,5 cm, Kunstmuseum St. Gallen

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

FEUILLETON

Das Antlitz einer Agonie

Zur Ausstellung von Ferdinand Hodlers Werkzyklus

Valentine Godö-Darel

Hartmut Kraft

Ferdinand Hodlers Werkzyklus von 1908 bis 1915, in dem Lebensfreu- de, Krankheit und Sterben der Va- lentine Godö-Darel dargestellt sind, wird bis zum 10. Oktober in München im Museum der Villa Stuck gezeigt. Die Ausstellung ist danach vom 23. Oktober 1976 bis zum 2. Januar 1977 im Kunstmu- seum Bern zu sehen.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 39 vom 23. September 1976 2465

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen Ferdinand Hodler

1908 lernt Ferdinand Hodler (1853 bis 1918) in Genf die junge Franzö- sin Valentine Godö-Darel kennen.

Bald schon wird sie sein Modell.

Zwischen 1908 und 1915 belegen ca. 50 Ölbilder, 130 Zeichnungen, über 200 Skizzen und eine Skulptur den Wandel Valentines vom Nur- Modell zur Geliebten, dann aber, im größeren Teil des Zyklus, den Weg der kranken und sterbenden Valentine.

Am 6. Januar 1914 wird Paulette, Hodlers und Valentines Tochter, geboren. Hodler, der zu diesem

Zeitpunkt zum zweiten Mal verhei- ratet ist, läßt sich nicht scheiden, verbringt aber fast jeden Tag meh- rere Stunden bei Valentine. Valen- tine ist zu dieser Zeit schon von ih- rer Krankheit gezeichnet. Immer wieder zeichnet und malt Hodler seine Geliebte. Am 25. Januar 1915 stirbt Valentine, die letzten Zeich- nungen und die kurz nach ihrem Tode ausgeführten Ölbilder zeigen sie auf dem Totenbett.

Die Bilder der kranken und ster- benden Valentine finden kaum Par- allelen in der Kunstgeschichte.

Das Motiv der Krankendarstellung ist in der Kunst des 19. und 20.

Jahrhunderts in etwa vergleichbar wohl nur von Göricault (Darstellun- gen aus dem Pariser Irrenhaus der Salpötriöre), Edvard Munch (z. B.

„Das kranke Kind", 1927, Munch- Museum Oslo) und Käthe Kollwitz (Darstellungen aus dem Armenvier- teln Berlins und den Gefangenenla- gern) aufgegriffen worden. Nie aber hat ein Künstler einen gelieb- ten Menschen derartig mitfühlend als auch unerbittlich in seinen künstlerischen Arbeiten durch eine schwere Krankheit bis zum Tode begleitet.

Woher nahm Hodler die Kraft, wo- her auch das Recht oder die mora- lische Rechtfertigung zu dieser er- schütternden Bildserie? Ist es eine Beschwörung des Todes, ist es das Ergebnis einer Selbstüberwindung, ist es eine Reportage, eine distan- zierte Bestandsaufnahme?

Eine erste Antwort auf diese Fra- gen ergibt sich aus Hodlers Le- bensgeschichte. Hodler war sieben Jahre alt, als sein Vater starb, vier- zehn, als er seine auf einem Acker zusammengebrochene Mutter tot nach Hause brachte. Zwischen sei- nem sechsten und einunddreißig- sten Lebensjahr starben seine fünf Brüder, seine Schwester und ein Halbbruder an Tuberkulose, der Krankheit des Armenmilieus, dem Hodler entstammte. „In der Familie war es ein allgemeines Sterben,"

hat Hodler einmal gesagt, „mir war schließlich, als wäre immer ein To- ter im Haus und als müßte es so sein." Der Tod hatte also für Hod- ler einen ganz anderen Stellenwert, als wir es heute in unserer den Tod

Bild oben: Kopfstudie der kranken Va- lentine Godö-Darel, Rechtsprofil, 1914, Bleistift auf liniiertem Papier, bezeich- net „Ferd Hodler 31 Mai 1914", Musöe d'Art et d'Histoire Genf — Bild unten:

„Die kranke Valentine Godö-Darel im Bett mit Uhr und Rosen", 1914, ÖI auf Leinwand, 63 mal 86 cm, bezeichnet

„1914, Ferd. Hodler", Privatbesitz

2466

Heft 39 vom 23. September

1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Bild oben: „Die kranke Valentine Godö- Darel", Linksprofil, 1914, Bleistift auf Papier, 10,5 mal 17,5 cm, oben bezeich- net „1. Operation 21 Fev./2.m 30 Mai.", unten bezeichnet „(apres la 1. opera- tion) Valentine" und Signaturstempel

„Ferd. Hodler", Sammlung Lucien Ar- chinard, Genf — Bild unten: „Die tote Valentine Godö-Darel", 1915, Bleistift und Öl auf Papier, 39,5 mal 64 cm, be- zeichnet „F. Hodler 26 Janv 1915", Kunstmuseum Basel

negierenden, nicht-wahrhaben-wol- lenden Kultur anzunehmen bereit sind.

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Ferdinand Hodler

In den ersten Stadien der Krank- heit Valentines spielten aber si- cherlich erst einmal andere Ge- sichtspunkte eine ausschlagge- bende Rolle:

Am 21. Februar 1914 mußte Valenti- ne an einem Karzinom operiert werden. Nähere medizinische Da- ten sind nicht bekannt. In dieser Situation, als Hodler befürchten mußte, daß ihm die Geliebte für im- mer entgleite, modelliert er, der Maler, ihre Büste. Er hegte die Be- fürchtung, in seinen zweidimensio- nalen Zeichnungen und Gemälden Valentine nicht greifbar genug zu haben. Er möchte Valentine nicht nur sehen, er möchte sie auch ta- sten, in seinen Händen halten kön- nen. Er möchte sie festhalten kön- nen, begreifen können, vielleicht auch sich vergewissern, sie mit seinen eigenen Händen erschaffen, neu erschaffen zu können.

Etwas Beschwörendes liegt darin, daß Hodler die Plastik gerade zu diesem Zeitpunkt modelliert. Si- cher verspürt Hodler, der schon so viele geliebte Menschen verloren hat, Angst, aber noch sind auch Hoffnung und der Wille dabei, das Schicksal abzuwenden.

Valentine übersteht die Operation.

Aber bereits im Mai muß ein erneu- ter Eingriff vorgenommen werden.

Die Krankheit schreitet unaufhalt- sam fort, am Ende des Jahres 1914 bestand für Valentine keine Hoff- nung mehr. Und gerade jetzt malt

und zeichnet Hodler die Kranke so häufig wie nie zuvor.

Einer der ersten Biographen Hod- lers, C. A. Loosli, sagte von diesen Bildern, sie seien aus einer

„selbstquälerischen Liebe" heraus entstanden. Dies reicht aber si- cherlich nicht aus, um Hodlers Ent- schluß oder auch Verlangen, die sterbende und auch die tote Valen- tine zu malen, mehr als ansatzwei- se zu erklären.

Valentine stirbt am 25. Januar 1915.

Bereits einen Tag später beginnt Hodler mit der Ausführung der Zeichnungen und Ölbilder, die Va- lentine auf dem Totenbett zeigen.

Für ihn als Maler wohl auch eine Möglichkeit der Problem- und Leid- bewältigung, ein Stück „Trauerar- beit". Also Bilder statt Tränen?

Hodlers Einstellung zum Tod rückt jetzt in den Mittelpunkt. Für Hodler ist der Tod integriert in seine Le- bensauffassung, sein Weltbild.

„So kommt der Tod auf uns zu, jede Sekunde unseres Lebens ist das eine schöne ruhige Bewegung und eine Gegenbewegung. Wenn du ihn aufnimmst in dein Wissen, in deinen Willen: das schafft die gro- ßen Werke! Und du hast nur dieses eine Leben, um 'etwas zu leisten.

Das gliedert unser ganzes Leben,

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 39 vom 23. September 1976 2467

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Ferdinand Hodlers Proportionsstudie für die Büste Valentine Godö-Darel, 1914, Bleistift auf hellbeigem Papier, 29,2 mal 23,5 cm, Kunsthaus Zürich

Fotos: Walter Dräyer, Zürich; Kunstmu- seum Basel; Gerhard Weiß, München;

Kunsthaus Zürich

ihm, dem bernischen Dickschädel, und ihr, der oft launischen und selbstherrlichen Pariserin. Viel- leicht haben die gelegentlichen zornigen Trennungen, die vorüber- gehenden Distanzierungen, die die- ser Liebe durchaus auch ein ambi- valentes Gepräge gaben, die Bilder erst ermöglicht: auch beim Malen Phasen der vorübergehenden Di- stanzierung vom geliebten Partner.

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Ferdinand Hodler

es gibt ihm einen vollkommen an- deren Rhythmus. Das zu wissen, das verwandelt den Todesgedan-

ken in eine gewaltige Kraft..."

Aus dieser seiner Einstellung her- aus kann er den Zyklus weiterfüh- ren bis zum natürlichen Ende, dem Tod. Die Bilder des Anfangs, die

„Linienherrlichkeit" und die Serie der „Femmes joyeuses" geraten in diesem Zyklus in einen starken, spannungsvollen Bezug zu den späten Bildern. Der nicht vermiede- ne, sondern durchlebte und durch- littene Kontrast läßt sie, ähnlich ei- nem Schwarzweißkontrast, noch anmutiger, lieblicher, dem Leben voll zugewandt erscheinen.

Lebensfreude und Lebenskraft werden häufig nur bewußt wahrge- nommen im Augenblick der Verän- derung. Der Kranke erkennt die vi- talen Möglichkeiten, die er als Ge- sunder hatte, vergißt sie aber meist rasch nach der Genesung. Schön- heit, Gesundheit und Freude wer- den wieder zur Selbstverständlich- keit. Hodlers Bilder der sterbenden und toten Valentine sind Moment- aufnahmen der Veränderung.

Schließlich wird den BildeM der Liebe und Lebensfreude der Tod entgegengesetzt. Jedes Bild der sterbenden Valentine läßt die hei- teren, anmutigen Bilder zu Beginn des Zyklus zunehmend in einem klareren und idealisierenden Licht erstrahlen. Der gesamte Zy- klus wird so zu einer Huldigung an die geliebte Frau.

Hodler war sich seiner Grenzver- schiebung durchaus bewußt: „Das hat vor mir noch keiner gemacht."

Er malte diese Bilder nicht ohne rationale Kontrolle, übermannt von Schmerz. Hodler befand sich auf der Schwelle zwischen emotionel- lem Aufgerütteltsein und noch in- takter rationaler Kontrolle. Diese Spannung zwischen Erleben, Mit- Leiden und Objektivieren ist in je- dem dieser Bilder spürbar. Valenti- ne hätte ihm nicht ferner stehen dürfen, sicherlich aber auch nicht noch näher.

Es fragt sich, ob Hodler diese Bil- der auch hätte malen können zur Zeit des frühen intensiven Liebes- verhältnisses, also bevor die gro- ßen Zerwürfnisse kamen zwischen

Wahrscheinlich haben alle disku- tierten Aspekte ihren eigenen An- teil an Hodlers Entschluß zu dieser Bildserie ebenso wie an seiner Fä- higkeit zu ihrer Realisation. Jeden- falls ermöglicht die Kenntnis des lebensgeschichtlichen Hintergrun- des, auch wenn sie große Lücken aufweist, einen Zugang zu diesen Werken, der, über das Formale und rein Kunstästhetische hinaus, tie- fer geht.

In der Synopse von Kunstwerk und emotionalem wie lebens- geschichtlichem Hintergrund kann sich nicht nur das Verständnis für Hodlers Kunst vertiefen, sondern auch das Verständnis für den Men- schen.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Hartmut Kraft Kapfenbergerstraße 4 5020 Frechen bei Köln

2468 Heft 39 vom 23. September 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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