ARBEITSUMFANG IN PRAXEN
Grüne kritisieren Fallzahl-Statistik
Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag geht hervor, dass
Ärztinnen und Ärzte in einzelnen Facharztgruppen auf relativ wenig Behandlungsfälle kommen. Warum – dazu gibt es unterschiedliche Erklärungen.
B
irgitt Bender hat der Bundes- regierung und den Kassen- ärztlichen Vereini gungen (KVen) vorgehalten, sich nur ungenügend darum zu kümmern, ob Vertrags - ärztinnen und -ärzte eine Mindest- zahl an Sprechstunden anbieten und genügend Patienten behan deln. An- lass zu der Kritik der gesundheits- politischen Sprecherin der Bundes - tags fraktion von Bündnis 90/Die Grünen war die Antwort der Bun- desregierung auf eine Kleine Anfra- ge zu „Tätigkeitsumfängen in der vertragsärzt lichen Versorgung“.Die 17 Tabellen, die den Erläute- rungen zum Tätigkeitsumfang von Vertragsärzten und -psychothera- peuten angefügt sind, enthalten An- gaben zu hälftigen Zulassungen (2 800), zu in Praxen angestellten (5 854) oder ermächtigten Kolle- ginnen und Kollegen (875) sowie zur Anzahl der Vertragsärzte und -psychotherapeuten, die an mehr als einem Ort tätig sind (16 107). Doch nicht diese Informationen haben so viel Aufsehen erregt, sondern jene, aus denen hervorgeht, dass „6,4 Prozent der hausärztlichen, 12,2 Prozent der radiologischen und 20,8 Prozent der anästhesistischen Praxen weniger als ein Viertel der durchschnittlichen Fallzahlen der jeweiligen ärztlichen Fachgruppe“
erreichen.
Die Grünen-Politikerin Bender schließt daraus, „dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Vertragsärzt(inn)e(n) ihrem Versor- gungsauftrag nachkommen: Wenn jede(r) dritte Anästhest(in) in Hes- sen, jede(r) dritte Fachinternist(in) und Chirurg(in) in Westfalen-Lippe, jede(r) dritte Nervenarzt/-ärztin und Radiologe(in) in Bremen weniger als 25 Prozent der durchschnittlichen Fallzahlen abrechnen, dann ist das ein deutliches Signal dafür, dass dort genauer hingeschaut werden müsste.“
Die Angaben, auf die Bender sich bezieht, stammen von der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Sie hat auf Nachfrage der Bundesregierung hin für das Jahr 2009 aufgeschlüsselt, zu welchen Teilen Ärztinnen und Psychologi- sche Psychotherapeuten in den ein- zelnen Bundesländern mehr bezie- hungsweise weniger Fälle als der Durchschnitt ihrer Facharztgruppe abgerechnet haben. Zum Teil errei-
chen diese weniger als ein Viertel der durchschnittlichen Fallzahlen.
Der KBV-Vorstandsvorsitzende, Dr. med. Andreas Köhler, hatte zwar kürzlich Kritik an „Hobby- arztpraxen“ geäußert. Nach Ansicht der KBV lassen die eigenen Daten aber nur begrenzt Schlüsse über den Arbeitsumfang zu, wie sie der Bundesregierung auch erläuterte:
So unterschieden sich manche Arzt- gruppen intern erheblich, zum Beispiel operativ und konservativ
tätige Augenärzte. Auch sei die Fallzahl wenig geeignet, den Ver- sorgungsumfang abzubilden, unter anderem wegen des hohen Pauscha- lierungsgrads vieler Leistungen so- wie der „technischen“ Generierung von Fällen beispielsweise durch Überweisungen.
Der Berufsverband Niedergelas- sener Chirurgen (BNC) verwies ebenfalls auf Unterschiede: „Ein Chirurg, der viel operiert, kann nicht gleichzeitig Sprechstunde hal- ten und hat daher automatisch we- niger Fälle“, hieß es. BNC-Präsi- dent Dr. med. Dieter Haack ergänz- te: „Operationen werden pauschal mit allen Begleitleistungen sowie Vorsorgeuntersuchung und Nachbe- handlung abgerechnet, egal wie oft der Patient die Praxis aufsucht. Ein Chirurg, der viel operiert, rechnet also relativ wenig Ziffern ab – trotzdem widmet er Kassenpatien- ten einen Großteil seiner Arbeits- zeit.“ Die KV Niedersachsen erläu- terte, dass zu den Anästhesisten auch Schmerztherapeuten gezählt würden, die aber auf weit unter- durchschnittliche Fallzahlen kämen.
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten sind hingegen erfreut, dass die Daten eine Annah- me nicht bestätigen: dass sie zu we- nig arbeiten. „Grundsätzlich stehen Psychotherapeuten für gesetzlich krankenversicherte Patienten über- durchschnittlich zur Verfügung“, heißt es in einer Einschätzung der Bundespsychotherapeutenkammer.
„Der Anteil sogenannter Hobby - praxen ist geringer als bei vielen anderen Arztgruppen.“
Dass bestimmte Gruppen zu we- nig Kassenpatienten behandeln und stattdessen bevorzugt Privatversi- cherte, lässt sich nicht ohne weite- res aus den Daten schließen. Darauf hat der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. med.
Foto: picture alliance
„ Die Bundesregierung will eine neue Bedarfsplanung umsetzen, ohne dass zuverlässige Zahlen über das Ist existieren. “
Birgitt BenderDeutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 18|
4. Mai 2012 A 899P O L I T I K
A 900 Deutsches Ärzteblatt
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4. Mai 2012 Dirk Heinrich, hingewiesen: „Dievon der KBV vorgelegten Zahlen lassen die von Grünen und Kran- kenkassen gezogenen Schlüsse nicht zu. Weder geht aus den Daten hervor, ob hälftige Zulassungen entsprechend umgerechnet wurden, noch berücksichtigen die Zahlen die Vielfältigkeit der Arzttätigkeit.“
Heinrich verweist darauf, dass es auch Praxen gebe, die mit relativ geringer Scheinzahl schwerstkran- ke Patienten mit einer hohen Be- handlungstiefe versorgten. „Ebenso findet man Praxen, die fast aus- schließlich leicht erkrankte Patien- ten behandeln und daher sehr hohe Scheinzahlen produzieren“, ergänz- te der NAV-Bundesvorsitzende.
Darüber hinaus hält er durch den häufigen Wechsel bei größeren Berufsausübungsgemeinschaften sta- tistische Verzerrungen für denkbar.
„Hobbypraxen“, in denen trotz voller Zulassung nur wenig Patien- ten behandelt werden, sieht auch er kritisch: „Solche Praxen sind nicht erwünscht.“ Dennoch gehe die Dis- kussion am Ziel vorbei, meint Heinrich: „Würde man versuchen, alle niedergelassenen Kassenärzte zu zwingen, eine durchschnittliche
Scheinzahl zu erreichen, so würde vermutlich eine größere Anzahl ihre Tätigkeit aufgeben.“ Ärzte seien Freiberufler. Dazu gehöre auch die eigenständige Gestaltung der Ar- beitszeiten.
In der Tat wissen Fachleute um die Vielfalt: Neben echten „klei- nen“ Praxen, in denen junge Ärztin- nen mit Kindern arbeiten oder älte- re Ärztinnen und Ärzte, die lang- sam an den Ruhestand denken, gibt es nur scheinbar „kleine“ Praxen.
Deren Inhaber sind zum Beispiel noch belegärztlich tätig. Oder sie sind gerade erst gestartet und haben noch nicht den gewünschten vollen Tätigkeitsumfang erreicht. Genaue- re Angaben hierzu, so die KBV, lägen nicht vor.
Deren Vorstandsvorsitzender fin- det gleichwohl, man müsse sich in- nerärztlich der Diskussion um den Behandlungsumfang jeder Praxis stellen: „Nehmen alle niedergelas- senen Ärzte und Psychotherapeuten entsprechend ihres Zulassungsum- fangs an der Versorgung teil? Diese Frage betrifft alle Fachgruppen und muss angegangen werden.“ Der Grund für diese Forderung sind die Arbeiten an einem neuen Konzept
der Bedarfsplanung, wie Köhler selbst einräumt: „Tatsache ist, dass wir insbesondere in ländlichen Ge- genden teilweise lange Wartezeiten haben. Wir sprechen uns daher da- für aus, neue Niederlassungssitze in denjenigen Gegenden einzurichten, wo die Versorgungssituation am prekärsten ist. Zweifelsohne stellt es aber kein Patentrezept dar, ein- fach mehr Sitze zu fordern. Dabei müssen wir uns innerärztlich der Diskussion um den Versorgungs- beitrag jeder Praxis stellen.“
So sieht es auch die Opposition.
Die Bundesregierung wolle eine neue Bedarfsplanung umsetzen, ohne zuverlässige Zahlen zur Ist- Situation zu besitzen, kritisierte Bender. „Wer dieses Manko nicht beheben will, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ärztliche Klientelpolitik zu betreiben, statt dafür zu sorgen, dass die Realität des Versorgungsalltags in den Blick genommen wird“, sagt die Grünen- Politikerin. Eine ausgewogenere Ver- teilung von Fallzahlen sei nicht nur im Interesse der Patienten, sondern auch in dem der Ärzte: Sie verhinde- re die Überbelastung einzelner.
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Sabine Rieser
TABELLE
Vertragsärzte und -psychotherapeuten mit weniger als 25 Prozent der durchschnittlichen Fallzahl ihrer Bedarfsplanungsgruppe
* Alle ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten; alle Zahlen in Prozent;
Quelle: KBV Kassenärztliche
Vereinigung Schleswig-Holstein Hamburg Niedersachsen Bremen Nordrhein Westfalen-Lippe Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Saarland
Mecklenburg-Vorpommern Berlin
Brandenburg Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringern
Haus - ärzte
7,2 9,5 5,8 7,6 6,7 6,1 5,6 5,8 7,5 9,4 5,9 4,5 9,3 4,8 4,6 6,1 4,0
Anästhe- sisten
25,6 13,6 31,1 21,2 22,1 32,4 36,3 33,5 22,0 25,9 28,6 16,1 12,4 16,9 16,1 25,9 30,7
Augen- ärzte
9,2 9,8 5,4 6,3 7,2 7,4 14,8 6,5 4,7 9,4 2,6 7,3 7,1 6,3 5,5 5,7 6,8
Chir - urgen 22,5 28,3 30,1 20,0 25,9 28,4 27,6 21,9 21,2 27,4 26,0 15,2 13,4 19,5 23,3 16,5 23,6
Frauen- ärzte 15,2 13,9 16,8 11,1 13,5 14,5 16,8 17,3 14,9 14,4 4,2 10,8 10,6 13,2 9,3 16,7 13,8
HNO-Ärzte
11,9 9,8 9,0 8,8 7,3 9,0 11,7 15,5 6,5 9,8 10,8 15,2 8,6 7,5 11,1 8,5 10,9
Haut- ärzte 15,4
7,5 4,9 9,5 6,6 7,1 7,3 6,4 5,3 8,3 5,4 2,9 7,3 3,7 10,2 7,5 4,9
Fachinter- nisten
29,4 13,8 29,4 16,1 24,3 32,0 18,8 26,5 23,2 23,4 25,3 21,5 14,8 26,5 21,9 27,7 22,7
Kinder- ärzte 19,2 12,6 20,0 19,6 9,7 16,8 10,0 16,1 13,9 13,3 11,0 24,3 12,8 16,7 19,2 17,6 16,7
Nerven- ärzte 21,0 31,1 31,0 33,7 24,5 19,6 15,2 28,5 23,2 21,3 10,5 24,3 30,2 13,8 15,0 25,7 23,1
Ortho- päden 19,5
6,9 10,8 7,4 8,7 8,4 13,2 10,2 9,4 11,1 3,4 4,1 9,7 12,8 7,9 6,0 16,4
Psycho - therap.*
5,0 5,9 8,6 8,9 4,2 4,2 8,8 5,5 8,6 9,4 5,6 6,4 9,3 8,0 6,4 3,2 4,1
Radio- logen 17,5 15,0 24,1 29,2 24,3 25,2 23,3 27,6 24,0 21,6 10,0 28,9 12,7 15,6 16,8 14,7 27,0
Uro - logen 12,7
1,3 13,7 5,6 15,8 15,4 18,1 15,8 11,8 14,3 11,9 12,1 5,5 12,5 8,3 11,2 10,7