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Gesundheitsstrukturreform
Wahltaktik
T
rotz der Warnungen der Krankenkassenverbände haben namhafte Politiker die Kassen aufgefordert, Einspa- rungen durch die Gesundheits- strukturreform über Beitragssatz- senkungen an die Versicherten weiterzugeben. Wenn die Kran- kenkassen dank der Seehofer- Dreßler-Reform im Jahr 1993 mehr als 10,2 Milliarden DM Überschuß verbucht hätten, müs- se dieser an die ohnedies durch Abgaben und Beitragslasten über- forderten Versicherten und deren Arbeitgeber weitergegeben wer- den. SPD-Geschäftsführer Günter Verheugen rechnete die Senkung um einen Prozentpunkt genau aus; dies bedeute eine Ersparnis bis zu 342 DM jährlich, je zur Hälfte für Arbeitgeber und Ar- beitnehmer, mithin auch eine Ent- lastung der Lohnnebenkosten der Betriebe. Auch Bundesgesund- heitsminister Horst Seehofer (CSU) erklärte, die Krankenkas- sen sollten nicht unnötig viel Geld ansammeln, sondern, wenn mög- lich, die Beiträge senken.Seehofer muß es wissen.
„Kasse macht sinnlich", heißt eine finanzpolitische Erfahrung. In der Tat! Der Vorsitzende des Ge- sundheitsausschusses im Bundes- tag, Dieter Thomae, gesundheits- politischer Sprecher der Libera- len, meinte, der Überschuß der Kassen könne auch für Korrektu- ren der Gesundheitsreform ver- wendet werden. Als Beispiel nannte der Politiker die Kostener- stattung bei Zahnfüllungen. Hier müßten Leistungsverbesserungen bewirkt werden, zum Beispiel wenn Amalgam durch neue Fül- lungen ersetzt wird.
Schon haben die Krankenkas- sen vor Hals-über-Kopf-Aktionen gewarnt, die auf wahltaktische Er- wägungen zurückgehen. Es sei un- redlich, zunächst minimal die Bei- träge zu senken und die geringen Finanzpolster der Kassen abzu- schmelzen, dann, nach den Wah- len, happige Zuzahlungen für die Patienten zu dekretieren (zum Beispiel im Zuge der Strukturre- form I und II bei Arzneimitteln oder beim Klinikaufenthalt).
Mit der Umlagefinanzierung und dem Ausgabengebaren der Krankenversicherung kann nicht nach wahltaktischen und Zufällig- keitsgesichtspunkten umgesprun- gen werden. Schließlich gibt es klare Rechtsgrundlagen für die Ausstattung der Krankenkassen mit Finanzmitteln und deren Fi- nanzierung (§ 261 SGB V; Gesetz über die Verwendung der Mittel der Krankenversicherung vom 1.
Januar 1980). Die Krankenversi- cherung ist stark konjunkturab- hängig, ihr Beitragsaufkommen an die Entwicklung der beitrags- pflichtigen Einnahmen (Grund- lohnsumme) gebunden. Juliustür- me für Notzeiten anzulegen, wäre ebenso verfehlt wie gesetzeswid- rig, genauso wie die Krankenkas- sen an der kurzen Kandare zu hal- ten.
Über das Beitragsrecht, also auch über Beitragserhöhungen und Beitragssenkungen, haben ausschließlich die Selbstverwal- tungen zu bestimmen — nach vor- gegebenen klaren gesetzlichen Grundlagen. HC
Glosse
Vi er Minuten
K
aum jemand in Deutsch- land wird sich erinnern — in England kennt jedes Kind seinen Namen: Roger Ban- nister, der vor 40 Jahren als erster Mensch eine Meile in weniger als vier Minuten lief. Sir Rogers Re- kord von 3 Minuten 59,4 Sekun- den ist seit jenem 6. Mai 1954 nicht weniger als fünfzehnmal im- mer wieder übertroffen worden;der derzeitige Rekord, den ein Marokkaner hält, steht bei 3 Mi- nuten 44,39 Sekunden; etwas über den Daumen gepeilt, war er sechs Prozent schneller als Bannister.
Aber sein Rekord wird vielleicht der letzte sein: die Meile als Lauf-
distanz soll abgeschafft werden.
Im Zuge der Dezimalisierung läßt sich mit einer Strecke von 1 609 Metern und 36 Zentimetern nichts mehr anfangen; in Zukunft laufen wir 1 500 m, basta.
Roger Bannister war übrigens damals Medizinstudent. 1954 wur- de er noch Europameister, hörte aber dann mit dem Sport auf, wur- de Arzt und brachte es bis an die Spitze des Pembroke College der Universität Oxford, nicht weit von dem Sportplatz entfernt, wo er 1954 seinen Triumph gefeiert hat- te. Er lebt im Ruhestand.
Vielleicht sollte man noch seine damaligen „Mitläufer" er-
wähnen. Der eine war Chris Chat- away, der es später bis zum Post- minister des Vereinigten König- reiches brachte (also zum Chef der Briefträger, das hat ja auch mit Laufen zu tun). Der andere war Chris Brasher, Olympiasieger im Hindernislauf über 3 000 m, der später den „Londoner Mara- thon" begründete, der noch heute jedes Jahr Tausende von Läufern und Zehntausende von Zuschau- ern auf die Beine bringt. Mit sei- nen 42 Kilometern plus 195 Me- tern ist der Marathonlauf im Zeit- alter des Dezimalsystems aber wohl auch nicht sehr zukunfts- trächtig. gb Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 25/26, 27. Juni 1994 (1) A-1765