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Ein Blick auf die neue Wissenschaftslandschaft

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Academic year: 2022

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P 93-403/2

Ein Blick auf die neue Wissenschaftslandschaft

Zur Lage der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung in Ostdeutschland

Beiträge einer gemeinsamen Konferenz der Sektion Wissenschafts- und Technikforschung (DGS) und des

Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung am 18. und 19. November 1992 in Berlin,

herausgegeben von

Werner Meske und Werner Rammert -Heft 2-

Berlin, August 1993

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50,10785 Berlin

Tel.: 030/2 80 51 93

Fax: 030/2829504

(2)

Inhaltsverzeichnis

Heft 2

III. Wissenschaftsdynamik: Politische und organisatorische Aspekte 126 Aktuelle Entscheidungsprozesse über Forschungsreaktoren in Deutschland 127 Jochen Gläser u.a.

Kommunismus und Kemkraft - Nein danke?

(Civic versus Nuclear Power under Perestroika) 150

Gert-Rüdiger Wegmarshaus

Einfluß der Organisationsform "Sonderforschungsbereich" auf die

Interdisziplinarität von Forschungstätigkeit 163

G ritL audel

Beobachtung von Wissenschaft

- Kommentar zu drei wissenschaftssoziologischen Ansätzen - 186 Gotthard Bechmann

Probleme des Wandels der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts­

und Technikforschung in den Fünf Neuen Bundesländern 195

Irene Müller-Hartmann und Michael Schlese

Autorenverzeichnis 202

(3)

Vorwort der Herausgeber 1 Werner Meske, Werner Rammert

I. Makrostruktur des Wissenschaftssystems: Sektoren und Institutionen 5 Veränderungen der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft im gesamtdeutschen

und europäischen Kontext, ausgehend von einem potentialtheoretischen Ansatz 7 Werner Meske

Probleme bei der Neuordnung der außeruniversitären natur- und

technikwissenschaftlichen Forschung in Berlin-Brandenburg 32 Irene Müller-Hartmann

Zerfall oder Anpassungskrise?

Zur Industrieforschung und -entwicklung in den neuen Bundesländern 48 H orst Schrauber

Kommentar:

Zum Stellenwert von Potentialanalysen in der Wissenschaftssoziologie 60 Uwe Schimank

II. Mikrostrukturen in der Forschung: Gruppen und Autoren 71 Fragen, die bleiben.

Gedanken über Wissenschaft im Rückblick 73

Lothar Läsker

Wissenschaftliche Kommunikation in der Wissenschaftlergemeinschaft

der Elekrolumineszenzforschung 87

Vera Wenzel

Zum Wandel der Forschungssituation und der bibliometrischen Profile

im 20. Jahrhundert am Beispiel von Instituten in der Kaiser-Wilhelm-/ 102 Max-Planck-Gesellschaft

Heinrich Parthey Kommentar:

Einige Bemerkungen zu experimentellen Spätfolgen Klaus Am ann

119

(4)

III. Wissenschaftsdynamik:

Politische und organisatorische Aspekte

(5)

Aktuelle Entscheidungsprozesse über Forschungsreaktoren in Deutschland

Jochen Gläser, Bettina Becker, Anne Goedicke, Thomas Hager, Marion Höppner, A strid Karl, G ritLaudel, JanaRückert

1. Einführung: Problemsituation und Ziel

Die moderne Wissenschaft sieht sich einer wachsenden gesellschaftlichen Kritik ausgesetzt.

Ursprünglich bezog sich diese Kritik darauf, daß der Gebrauch oder Mißbrauch ihrer Resultate zu existentiellen Gefahren für die Gesellschaft führen kann und immer häufiger auch führt. Die damit entstehenden Risiken, durch die die Gesellschaft auch in gewisser Weise zum Experimentierfeld für die Wissenschaft wird, entstehen dadurch, daß die Wis­

senschaft in Form der Implementation neuer Technik die Grenzen des Labors überschreitet (Krohn/Weyer 1989).

Immer häufiger entstehen jedoch auch gesellschaftliche Diskurse, die sich nicht auf die

Ethik der Anwendung von Forschungsergebnissen

beziehen, sondern die A rt und Weise der Forschung selbst thematisieren. Dabei sind zwei Hauptlinien der öffentlichen Kritik an Forschung erkennbar. Zum einen die Frage nach der

Ethik des Umgangs mit For­

schungsobjekten,

die in der medizinischen Forschung in bezug auf Versuche am Menschen (van den Daele 1990) und darüber hinaus in der naturwissenschaftlichen Forschung in bezug auf Tierversuche gestellt wird. Zum anderen die Frage nach der

Ethik des Umgangs mit Forschungsmethoden:

in der Gesellschaft wird immer deutlicher wahrgenommen, daß bestimmte M ethoden und Instrumente der Forschung bei ihrer alltäglichen Anwendung die gleiche A rt von Risiken erzeugen wie der oben erwähnte klassische Transfer von Forschungsresultaten. Die wichtigsten Beispiele dafür sind die Gentechnik und die Nutzung von Kernreaktoren als Neutronenquellen für die Forschung.

In dem Maße, wie diese neue Art von Problemen mit der Forschung in der Gesellschaft bewußt wird, verstärkt sich das Interesse an den Entscheidungsprozessen, mit denen explizit oder implizit über die Anwendung von Forschungsmethoden entschieden wird. Die politischen Akteure versuchen zunehmend, in den Entscheidungsprozessen über Forschung Einfluß zu gewinnen, um ihre Interessen durchsetzen zu können. Darüber hinaus wird

(6)

128 Jochen Gläser u. a.

versucht, diese Entscheidungsprozesse selbst in ihren Abläufen zu verändern, d.h. neue Entscheidungsweisen zu etablieren.

Beide Versuche forcieren eine Wandlung in den Beziehungen der Wissenschaft zu ihrer Umwelt. A uf der Makroebene der Beziehungen des gesellschaftlichen Teilsystems Wis­

senschaft zur Politik beginnt eine Diskussion gesellschaftlicher Zielvorstellungen und der Funktionen von Wissenschaft, verbunden mit der weitergehenden Ausnutzung bestehender und der Schaffung neuer Instrumentarien für den Zugriff von Politik auf Wissenschaft. Auf der Mesoebene werden scientific communities von politischen Regulierungsversuchen erfaßt, und auf der Mikroebene sehen Forschungsgruppen die Fortführung ihrer Arbeiten gefährdet oder verhindert. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Regulierungsver­

suche des Staates, vielmehr sieht sich die Wissenschaft einem breiten Spektrum gesell­

schaftlicher Gruppen gegenüber, die aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedli­

chen Zielen Entscheidungsprozesse über Forschung beeinflussen wollen.

Aus der Perspektive der Wissenschaft bedeuten diese Bestrebungen den Versuch, die Wis­

senschaftsautonomie in ihrem Kern, der freien Wahl von Problemen und Methoden der Forschung, anzugreifen1. Diese Einschränkung der Autonomie von Wissenschaft ist sowohl eine in der Gesellschaft aufkommende Forderung als auch ein Bestandteil der innerwissenschaftlichen Diskussion, die in Einzelfallen bis zur freiwilligen Selbstbe­

schränkung von Wissenschaftlern führt. Diese internen Diskussionen und die Differenzie­

rungen in den Positionen der Wissenschaftler zur Anwendung bestimmter Forschungsme­

thoden sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß mit der Überschreitung der Grenzen des Labors (nach außen) durch die Wissenschaft ein Überschreiten der Grenzen des Labors (nach innen) durch die Gesellschaft einhergeht. Forschung und Forscher werden durch die gesellschaftliche Diskussion auf eine neue Art und Weise unmittelbar beeinflußt.

Mit diesen Beschreibungen ist Wissenschaft einerseits als integraler Bestandteil der Gesell­

schaft und andererseits als besonderer Teil in ihr vorausgesetzt. Damit ist auf der makro­

soziologischen Ebene die theoretische Frage nach der Natur des gesellschaftlichen Teilsy­

stems Wissenschaft und der Natur seiner Grenzen gestellt. Empirisch ist u.a. aufzuklären, welche Auswirkungen die öffentliche Kritik und die politischen Regulierungsversuche von Forschung sowohl auf konkrete Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft, innerhalb der

1 Für die Analyse dieses Problems bietet sich das Konzept "Coping with Trouble in Science" an, vgl.

Schimank/Stucke 1992

(7)

scientific community und im einzelnen Labor als auch auf die Entwicklung von For­

schungsrichtungen haben.

Das Projekt "Aktuelle Entscheidungsprozesse zu Forschungsreaktoren in Deutschland" soll einen solchen empirischen Beitrag leisten.

Gegenstand

unseres Projekts sind Entschei­

dungsprozesse zu Forschungsreaktoren in Deutschland in den 80er Jahren, insbesondere die Entscheidungsprozesse zum Umbau des Forschungsreaktors BER II des Hahn-Meitner- Instituts Berlin und zum Neubau eines Forschungsreaktors FRM II in München. Die spe­

ziellen Fragestellungen

bezüglich dieses Gegenstandes lauten: Wie verändern

sich

Ent­

scheidungsprozesse über Forschungsreaktoren ? Welche Faktoren verursachen solche Ver­

änderungen ? Welche Auswirkungen auf Forschung entstehen aus diesen veränderten Ent­

scheidungsweisen ?

Unser Interesse gilt also der durch politische Entscheidungen über Forschungsmethoden und -technik vermittelten Beeinflussung von Forschung. Diese Fragestellung unterscheidet sich von den Analysen zur Kernenergiedebatte und -politik. Es existieren jedoch auch wichtige Berührungspunkte. Beim gegenwärtigen Stand der Untersuchung können folgende Gemeinsamkeiten von Entscheidungsprozessen über Kernenergie bzw. über For­

schungsreaktoren vermutet werden:

- die entscheidende Rolle informeller Vorentscheidungen2 im Kreise der Befürworter - in

"vertikalen Fachbruderschaften" (Wagener 1979, Wolf 1988) oder speziellen

"Hybridgemeinschaften" aus Wissenschaft und Politik (van den Daele/Krohn/Weingart 1979, S. 25-31),

- die permanente Inanspruchnahme des Rechtsweges, die dazu führt, daß die Gerichte ständig mit durch sie nicht entscheidbaren Fragen konfrontiert und damit überfordert w er­

den (Hagenah 1986).

Unterschiede zu den Entscheidungsprozessen über Kemenergieentwicklung und -anwen- dung liegen in der A rt und Weise, in der Forschung beeinflußt wird. Im Falle der Kern­

energie sind die - unzweifelhaft vorhandenen - Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Forschung Sekundärwirkungen der Entscheidung des Auftraggebers.

2 Zur Diskussion solcher Entscheidungsprozesse im Bereich der Kernenergie und der Gentechnik siehe auch Müller-Brandeck-Bocquet 1988, Radkau 1988, Theisen 1991

(8)

130 Jochen Gläser u. a.

Darüber hinaus sind Wissenschaftler als Experten3, die über mit ihren Arbeitsergebnissen verbundene Risiken urteilen, in die Debatte einbezogen.

Bei Entscheidungen über Forschungsreaktoren ist der Gegenstand eine relativ breit ange­

wendete Forschungstechnologie der Grundlagen- und angewandten Forschung. Die Ent­

scheidungen über die Forschungstechnik beeinflussen - je nach dem konkreten Zugang zu alternativen Neutronenquellen oder je nach Substituierbarkeit der Methode, vgl. 3.2 - die Fortsetzung von Forschung in unterschiedlichem Maße bis hin zum notwendigen Abbruch von Forschung. Obwohl also Analogien hinsichtlich der Auswirkungen auf Forschungs­

prozesse durchaus existieren - in der Entwicklung von Kernkraftwerken ist der Reaktor- Prototyp zugleich Forschungstechnik - sind die Unterschiede im Umfang und in der spezi­

fischen A rt und Weise der Beeinflussung von Forschung deutlich. Es sind also auch ganz andere Verhaltensweisen von Wissenschaftlern und scientific communities zu erwarten.

«

Im folgenden soll kurz auf das der Untersuchung zugrunde liegende Konzept eingegangen werden (2). Anschließend werden die Vorgehensweise (3) und erste Zwischenergebnisse (4) vorgestellt.

2. Theoretische und methodologische Grundlagen

Das der Untersuchung zugrunde liegende Konzept kann hier nicht vollständig vorgestellt werden. Es geht auf ein in den 80er Jahren an der Humboldt-Universität entwickeltes Kon­

zept einer gegenstandsorientierten Analyse sozialer Systeme zurück (Hager 1985, 1988, Gläser 1988, 1990). Im folgenden werden die Ausgangspositionen für die empirische Untersuchung unter Bezug auf aktuelle soziologische Arbeiten thesenartig formuliert:

Systemzusammenhänge in der Gesellschaft werden als Zusammenhänge zwischen Indivi­

duen verstanden, die durch Handlungen4 vermittelt werden. Dieses Verständnis liegt z.B.

auch den Systemkonzepten von Krohn und Küppers (1989) sowie von Hejl (1987) zugrun-

3 Zum 'Experten-Verhalten' von Wissenschaftlern in einer Kernenergie-Debatte siehe Nowotny 1980 4 Das genannte systemanalytische Konzept geht vom Begriff "Tätigkeit" aus. Die zwischen dem

Handlungsbegriff der Soziologie und dem Tätigkeitsbegriff bestehenden Unterschiede können hier zunächst vernachlässigt werden, bedürfen aber einer systematischen Analyse.

(9)

de, es ist zugleich eine Alternative zur Luhmannschen Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1987)5.

Um in prinzipiell gleicher Weise interagierende Individuen, soziale Systeme, formale Organisationen und andere soziale Gebilde6 unter Berücksichtigung dieser Gleichartigkeit theoretisch und empirisch behandeln zu können, werden sie als

Akteure

analysiert. Damit sind die notwendigen Voraussetzungen auf die Existenz von (nicht notwendig allen gemeinsamen) Zielen, Handlungsstrategien und Handlungspotentialen beschränkt (Coleman 1986, Schimank 1988).

Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Handlungen von Akteuren ist unserer Ansicht nach der Begriff der

Situation.

Der Situationsbegriff spielt in der Begründung der Handlungstheorie eine gewisse Rolle (vgl. z.B. Parsons 1951, S. 4-6), da sich Handlungen stets in Situationen vollziehen (Parsons 1951: 236ff, 543, Parsons u. Shils 1962). Eine zusammenfassende Darstellung zur Geschichte des Situationsbegriffs gibt Friedrichs (1974).

W ir wollen im folgenden unter der Situation eines Akteurs die durch den Akteur bewerteten inneren und äußeren Handlungsbedingungen verstehen. Diese Handlungsbedingungen sind nicht allein sozialer Natur. Der hier zugrunde gelegte Situationsbegriff geht insbesondere mit der Einbeziehung der kognitiv-technologischen Aspekte der Situation über den Begriff der "sozialen Situation" (Friedrichs 1974) hinaus. Insbesondere für empirische Analysen hat sich folgende Differenzierung der Handlungsbedingungen bewährt:

5 Zur Kritik der Luhmannschen Systemtheorie siehe z.B. Schimank 1985, Hejl 1987, Mayntz 1988.

6 Mayntz 1988 S.20-21

(10)

132 Jochen Gläser u. a.

innere Bedingungen

(den Akteur konstitutierende und sich in seinen Handlungen verändernde Bedingungen)

äußere Bedingungen

(relativ unabhängig vom Akteur existierende und ihm einen bestimmten

Handlungsspielraum vorgebende Bedingungen) kognitiv-technologischer

Aspekt

Technologie der Leistungsprozesse; für die Zielerreichung und für Problemlösungen verfügbare Ressourcen (Wissen, technische Ausstattung, Fähigkeiten des Akteurs ...)

Einbettung der Leistungsprozesse des Akteurs in externe kognitive und technologische Zusammenhänge (insbesondere Wissenschafts­

und Technologieentwicklung) ökonomischer Aspekt Art und Weise des Ablaufs interner Aus­

tauschprozesse bei korporativen Akteuren

Art und Weise der Einbindung des Akteurs in externe Austauschprozesse, insbesondere Art und Weise der Erlangung von Ressourcen und der Veräußerung von Resultaten

sozialer Aspekt innere soziale Differenzierungen (Schichtungen, Rollen) bei korporativen Akteuren

Einbettung des Akteurs in die soziale Struktur und die interpersonellen Beziehungen seiner Umwelt

dezisionistischer Aspekt Art und Weise, wie Entscheidungen innerhalb des Akteurs zustande kommen; formale Organisation des Akteurs (bei korporativen Akeuren)

Art und Weise, wie für den Akteur relevante Entscheidungen zustande kommen; Einbettung des Akteurs in Organisations- und Lei­

tungsstrukturen; politische und rechtliche Rahmenbedingungen

kulturell-ethischer Aspekt

in den Handlungen, der Bewertung der Handlungsbedingungen und der

Selbstbewertung des Akteurs entstehende und wirkende Wertvorstellungen und Normen

in der Umwelt des Akteurs wirksame Wertvorstellungen und Normen sowie Bewertungen des Akteurs

Dem hier angedeuteten Verständnis zufolge entwickeln Akteure Ziele und Interessen, indem sie sich mit ihren Handlungsbedingungen auseinandersetzen, d.h. sie hinsichtlich der Möglichkeiten bewerten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie erreichen Ziele, indem sie Situationen durch Handlungen "bewältigen", d.h. so transformieren, daß sie ihren Zielen entsprechen. Das Dasein von Akteuren wird durch den Zyklus der Veränderung, Wahrnehmung und Bewertung sowie zielgerichteten Beeinflussung der Handlungsbedin­

gungen bestimmt (vgl. A bb.l).

(11)

Dies ist insofern nur bedingt möglich, als das Handeln der Akteure nur eine unter vielen Quellen der Veränderung ihrer eigenen Handlungsbedingungen ist. Auch Akteurkonstella­

tionen7 erscheinen zw ar als eine wichtige Komponente der Handlungsbedingungen, die Handlungsbedingungen sind aber nicht auf sie reduzierbar. So sind für die Situation von

"Forschungsakteuren" (Wissenschaftler, Forschungsgruppen, Forschungsorganisationen usw.) neben Akteurkonstellationen zwischen Forschungsakteuren, politischen und anderen Akteuren vor allem Einflüsse relevant, die durch die eigene oder durch die externe Erzeu­

gung von neuem Wissen hervorgerufen werden (Abb. 2).

Im Zusammenhang mit dem Situationsbegriff entsteht die Frage, wie die Grenze eines Akteurs bestimmt werden soll. Die Abgrenzung von Akteuren über die Zugehörigkeit von Individuen zu formalen Organisationen oder sozialen Systemen scheint relativ unproble­

matisch, auch die Bestimmung einer sozialen Grenze bzw. eines Randes, innerhalb dessen soziale Interaktionen des sozialen Systems mit der Umwelt stattfinden, ist möglich (Krohn/Küppers 1989, S. 42-46).

7 "Eine Akteurkonstellation ist gegeben, sobald die Interessen und Einflußpotentiale von mindestens zwei Akteuren einander tangieren." (Schimank 1988, S.620)

(12)

134 Jochen Gläser u. a.

tovtexe Einwirkungen

Abb. 2: Beeinflussung der Handlungsbedingungen von Akteuren

Damit sind aber noch nicht alle Elemente komplexer Situationen erfaßt. Da z.B. aus den zugrunde gelegten Definitionen folgt, daß jedes Individuum zugleich mehreren sozialen Systemen angehört, verändern soziale Systeme durch die Beeinflussung der Individuen auch direkt die inneren Bedingungen anderer sozialer Systeme. Eine abstrakte Unterscheidung innerer und äußerer Bedingungen scheint damit unmöglich: "Der Angelpunkt einer Definition der Grenzen des sozialen Systems ist demnach das zu erklärende Problem, das ein Beobachter (bzw. eine Beobachtergemeinschaft) ausgewählt hat." (Hejl 1987, S. 321).

Die vorgestellte differenzierte Situationsanalyse scheint geeignet, eine solche problemab­

hängige Differenzierung vorzunehmen.

3. Vorgehensweise

A uf der Grundlage des angedeuteten Konzepts geht es bei der Untersuchung darum,

- die für die Entscheidungsprozesse relevanten Akteure und Akteurskonstellationen zu identifizieren,

\

(13)

- wichtige Situationen und die in ihnen erfolgenden Zielbildungen zu charakterisieren, - die Auswirkungen des Handelns der Akteure auf die eigene und die Situation anderer

Akteure zu bestimmen.

Dies geschieht aus der Perspektive der Wissenschaft, d.h. das Interesse der Untersuchung gilt den Handlungen von Forschungsakteuren in den Entscheidungsprozessen und den Rückwirkungen dieser Entscheidungsprozesse auf Forschung und wissenschaftsinterne Entscheidungsprozesse.

Im Anschluß an diese Zielbestimmung für die empirische Untersuchung war zunächst der Untersuchungsgegenstand sachlich und zeitlich abzugrenzen und eine erste Beschreibung vorzunehmen. Im Fall der Entscheidungsprozesse über Forschungsreaktoren bezog sich diese erste Beschreibung auf eine historische Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse und ihre Einordnung in die Wissenschaftsentwicklung (d.h. in die Entwicklung der For­

schungstechnologien mit Neutronen). In einer zweiten Phase sind auf der Grundlage von Hypothesen die Situationsveränderungen der Forschungsakteure (d.h. der Forschungs- und Projektgruppen, die die Neu- und Umbauten der Reaktoren tragen, der entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen und der scientific community) zu analysieren und A us­

wirkungen auf das Handeln dieser Akteure (sowohl auf die Forschung als auch auf das strategische Handeln in bezug auf das Reaktorprojekt) aufzuklären. Als empirische M etho­

den werden Dokumentenanalyse, Interviews und (da es z.T. öffentliche Veranstaltungen zu den Entscheidungsprozessen gibt) Beobachtung eingesetzt.

Im folgenden werden die Eingrenzung des Gegenstandes (3.1) und die in die Untersuchung einzubeziehenden Akteure (3.2) diskutiert.

3.1 Abgrenzung des Gegenstandes

Die sachliche Abgrenzung des Gegenstandes stößt auf gewisse Schwierigkeiten: Die Ent­

scheidungsprozesse zu Forschungsreaktoren (Neutronenquellen) vollziehen sich nicht iso­

liert voneinander, sondern innerhalb einer scientific community und auch innerhalb einer vertikalen Fachbruderschaft oder Hybridgemeinschaft. Darüber hinaus sind die Entschei­

dungsprozesse auf der Ebene der Politik mit anderen Entscheidungsprozessen (z.B. zu anderen Großgeräten) verbunden (Ziegler 1989). Aus diesen Gründen ist eine Vernachläs­

sigung parallel laufender Entscheidungsprozesse mit der Gefahr eines systematischen Fehlers verbunden. Das Projekt bezieht sich auf die Entscheidungsprozesse in München (Neubau des Forschungsreaktors FRM II der TU München) und Berlin (Umbau des For-

(14)

136 Jochen Gläser u. a.

schungsreaktors BER II des Hahn-Meitner-Instituts). Die Diskussionen der scientific community und weitere Entscheidungsprozesse zu Neutronenquellen (z.B. in Jülich) werden als Bedingungen dieser beiden Entscheidungsprozesse einbezogen.

Eine zeitliche Abgrenzung wird mit dem Entstehen eines Bedarfs nach Neu- bzw. Umbau der Neutronenquelle einerseits und mit einer juristisch nicht mehr anfechtbaren Entschei­

dung bezüglich der Inbetriebnahme andererseits vorgenommen. Eine zeitliche Einordnung der verschiedenen Phasen der Entscheidungsprozesse (vgl. 4.4) zeigt Abb.3.

BER I

1979 80 81 82 83 84 85 86 88 90 91 92

1,2

FRMII

Phase 1 Entstehung des wissenschaftlichen Bedarfs und der Idee des Umbaus

Phase 2 Durchsetzung dieser Idee in der scientific community und den Netzen der Befürworter in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft;

Vorentscheidung zur Realisierung Phase 3 Projektierung und Antragstellung

Phase 4 Genehmigungsverfahren (einschließlich juristischer Überprüfung)

Abb. 3: Zeitlicher Verlauf der Entscheidungsprozesse zu den Forschungsreaktoren BER II und FR M II

3.2 Akteure, Akteurkonstellationen und Situationsdynamik

In die Untersuchung einzubeziehende relevante Akteure sind

- die Forschungsgruppe(n), die den Um- bzw. Neubau initiieren bzw. in der scientific community mit diesem Projekt verbunden sind,

- wissenschaftspolitische Akteure der Bundes- und Länderministerien, - Gutachterausschüsse, die wissenschaftspolitische Akteure beraten, - Umweltpolitische Akteure der Bundes- und Länderministerien,

- Bürger und Bürgerinitiativen, die in die Entscheidungsprozesse eintreten, - Gerichte,

(15)

- Wissenschaftler und Wissenschaftlergruppen, die in die Entscheidungsprozesse eintre- ten,

- andere Individuen oder Gruppen, die in die Entscheidungsprozesse eintreten (z.B. un­

abhängige Gutachter, Regierungschefs, Parlamente, Parteien, Gewerkschaften ...).

Die Stärke der Einwirkungen dieser Akteure auf Entscheidungsprozesse erweist sich als ein Kontinuum, innerhalb dessen eine Grenzziehung sehr schwierig ist.

Diese reine Aufzählung verdeckt zunächst, daß innerhalb der scientific communities hin­

sichtlich der Arbeit mit Neutronenstrahlen eine komplizierte vernetzte Struktur zu bestehen scheint. Zunächst existieren bezüglich dieser Forschungstechnologie zwei unterschiedliche Gemeinschaften von Wissenschaftlern. Die erste Gruppe ist die der aus einer Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Gemeinschaften kommenden Nutzer von Neutronenstrahlen: "Das sind die Leute, die wollen, daß da ein Loch in der Wand ist, aus dem Neutronen rauskommen." (Interviewzitat) Die zweite Gruppe ist die der Betreiber von Forschungsreaktoren, die eher mit der scientific community der Reaktorentwicklung ver­

bunden zu sein scheint (hier gibt es eine sehr homogene wissenschaftliche Schule, die durch Maier-Leibnitz begründet wurde).

Die Betreiber von Forschungsreaktoren sind (wenn man von unmittelbar auf den techni­

schen Betrieb bezogenen Arbeitsteilungen absieht) zugleich Nutzer. Zu prüfen ist, inwieweit es zwischen den Forschungsarbeiten der 'externen Nutzer' und der 'internen Nutzer' (Wissenschaftler anderer Fachgebiete innerhalb der Institution, die mit Neutronenstrahlen arbeiten) einerseits und den 'Betreiber-Nutzem' andererseits Unterschiede in den Anforde­

rungen an die Verfügung über Forschungstechnik gibt. Grundsätzlich gilt, daß Forschungs­

technik und -methoden im Verlauf der Forschung an die Erfordernisse der konkreten Pro­

blemlösungen angepaßt werden (Parthey 1988, S. 232-236). Die Betreiber von For­

schungsreaktoren verfügen (bezüglich der Instrumentierung des Reaktors) unter Umständen über derartige Möglichkeiten, während andere Nutzer lediglich 'Strahlzeiten' erhalten. Wenn die Betreiber tatsächlich Forschungen ausführen, die an die Verfügung über den Reaktor gebunden sind, dann sind die Auswirkungen der Entscheidungsprozesse auf ihre Arbeit weitreichender. Im anderen Fall würden sie lediglich von Betreibern zu externen Nutzem von Neutronenstrahlen - allerdings mit deutlich erhöhten Zugangsproblemen.

Zumindest in einem Fall (Forschungsreaktor München) haben sich die Betreiber auch mit der Weiterentwicklung der Technologie von Forschungsreaktoren beschäftigt. Die Rolle

(16)

138 Jochen Gläser u. a.

solcher Arbeiten und die mögliche Existenz einer weiteren Gruppe (Entwickler von For­

schungsreaktoren) ist ebenfalls aufzuklären.

Für die in die Untersuchung einzubeziehenden Akteure läßt sich nun die in 2. angedeutete Situationsbeschreibung spezifizieren. Damit kann die Erarbeitung von Leitfragen für die empirische Untersuchung unterstützt werden. Für die wissenschaftlichen Einrichtungen, die den Um- bzw. Neubau einer Neutronenquelle (NQ) konzipiert haben, läßt sich z.B. folgende Spezifizierung vornehmen:

innere Bedingungen

(den Akteur konstituierende und sich in seinen Handlungen verändernde

Bedingungen)

äußere Bedingungen

(relativ unabhängig vom Akteur existierende und ihm einen bestimmten Handlungsspielraum vorgebende Bedingungen) kognitiv­

technolo­

gischer Aspekt

Technologie der NQ (Leistung, Neutronenfluß, Strahleigenschaften, Anreicherung, Entsorgung...) Verfügung über Wissen über die NQ Profil der Einrichtung, Einbindung der NQ in Forschungsprogramme

Rolle der Neutronenstrahlung in der internationalen Wissenschaftsentwicklung und in nationalen Forschungsprogrammen

Rolle der NQ in der internationalen Wissenschaftsentwicklung Entwicklung der Leistungsanforderung an NQ

Entwicklung des Wissens über NQ

Entwicklung der NQ-Technologie: Varianten, Risiken ...

ökonomischer Aspekt

Kosten der NQ und ihr Anteil an den Ressourcen insgesamt

interne finanzielle Programme und Bindungen

Strahlzeiten als Tauschgut innerhalb der Institution

Finanzierungsmodus der Institution Finanzierungsmodus der NQ Kosten der NQ

Behandlung von Strahlzeiten als Tauschgut

sozialer Aspekt

Strukturierung der Belegschaft bezüglich der Neutronenquelle (Entwickler, Betreiber, Nutzer -EBN), Stellung der jeweiligen Gruppen in der Einrichtung

Einbindung der Entwickler, Betreiber und Nutzer in externe communities und ihre Stellung in diesen communities vertikale Fachbruderschaften

Andere soziale Einbindungen der Entwickler, Betreiber und Nutzer von NQ (z.B. Kontakte zu Anwohnern)

dezisioni- stischer Aspekt

Ablauf interner Entscheidungsprozesse:

Akteure, Machtverteilung, Strukturen, Varianten, Kriterien, Resultate

Rechtsform und Unterstellung der Einrichtung Entscheidungsprozesse über die NQ (...)

rechtliche Rahmenbedingungen auch für interne Ent­

scheidungsprozesse kulturell­

ethischer Aspekt

Bewertung des NQ-Projektes in der Institution

Strukturierung der Belegschaft bezüglich dieser Bewertungen

Bewertung des NQ-Projekts bei externen Akteuren einschließlich der Öffentlichkeit

(17)

4. Zwischenergebnisse und erste Hypothesen

4.1 Neutronenquellen in Deutschland

Die Nutzung von Neutronenstrahlung hat sich in den letzten Jahren zu einer Standard-For­

schungstechnologie verschiedener Wissenschaftsdisziplinen entwickelt. Eine Vielzahl von Forschungsproblemen in der Biologie, Chemie, Physik, Metallkunde, Werkstoffkunde und in anderen Bereichen wird mittels Neutronenstrahlen - allein oder in Verbindung mit ande­

ren Methoden - bearbeitet. (Gutachterausschuß 1981, S.14; Kommission Grundlagenfor­

schung 1992, S.64).

Die Gründung der Kernenergie-Anwendungen vorbereitenden Großforschungseinrichtungen mit ihren Reaktoren und der Bau des Forschungsreaktors München I an der Technischen Universität München deckten zugleich den Bedarf der Forscher nach Neutronenstrahlung.

Seit der Mitte der 70er Jahre zeichnete sich ab, daß das Angebot an Neutronenstrahlzeiten zurückgeht. Zwar war der deutsch-französische Hochleistungsreaktor in Grenoble 1971 in Betrieb gegangen, seine starke Auslastung machte jedoch nach Ansicht vieler Forscher eine

"Heimatbasis" für die Vorbereitung der Experimente in Grenoble und die Abdeckung des Bedarfs an Neutronenstrahlung mittlerer Leistung erforderlich.

Die Situation der Neutronenquellen wurde vom Gutachterausschuß "Großprojekte in der Grundlagenforschung" 1981 durch folgende Tabelle zu den für Neutronenstreuversuche geeigneten Reaktoren in der Bundesrepublik Deutschland charakterisiert (Gutachterausschuß 1981, S.16):

Reaktorbe­

zeichnung

Standort in Betrieb seit geht außer Betrieb

Leistung MW Neutronen­

streuappa­

raturen

therm. Fluß Neutronen pro cm2 und s

FR2 Karlsruhe 1961 1981 44 12 lx 1014

FRJ-1 Jülich 1962 1985-90 10 2 lxlO 14

FRJ-2 Jülich 1962 1985-90 23 11 2.8xl014

FRG Geesthacht 1962 1986-91 21 3 5 x l0 13

BERU Berlin 1974 5 8 4 x l0 13

FRM München 1957 1983-88 4 4 5 x l0 13

Damals wurden drei Projekte diskutiert: Der Bau eines neuen Reaktors, der Bau einer Spallationsneutronenquelle8 und als "Überbrückungsmaßnahme" die Erweiterung des Ber­

liner Reaktors B E R II. Der Gutachterausschuß empfahl damals (S. 109),

8 Eine Spallationsquelle ist eine alternative Möglichkeit der Erzeugung von Neutronenstrahlen: Während der Forschungsreaktor die bei einer Kettenreaktion entstehenden Neutronen bereitstellt, werden bei einer

(18)

140 Jochen Gläser u. a.

- die Projektstudien zur Spallationsquelle voranzutreiben und Mitte der 80er Jahre eine Entscheidung über die Realisierung des Projekts zu fällen,

- im Falle einer Ablehnung der Spallationsquelle den Bau eines Hochflußreaktors zu erwägen,

- den Mittelflußreaktor nicht zu bauen, da er nur unwesentlich früher als die Spallations­

quelle fertiggestellt werden könne,

- den Ausbau des Berliner Reaktors BER II unverzüglich zu beginnen, von dem der Gutachterausschuß annahm, daß er in einem überschaubaren Zeit- und Kostenrahmen fertiggestellt wird (S. 31).

Der Gutachterausschuß ging zugleich davon aus, daß deutsche Wissenschaflter zukünftig mehr auf ausländische Quellen zurückgreifen müssen.

Im Juni 1985 wurde beschlossen, die Spallationsquelle in Jülich nicht zu bauen. Einziger Grund dafür waren die zu hohen Kosten; die wissenschaftlichen und technischen Gründe waren ausgeräumt worden (Aus für SNQ 1985). "Seither ist auf diesem Gebiet nichts mehr geschehen, während in anderen Industrienationen Anstrengungen unternommen wurden, neue oder neuartige Neutronenquellen zu entwickeln, zu bauen und in Betrieb zu nehmen...

." (Wissenschaftsrat 1989, S.241-242)

Die Versorgung der Forschungsreaktoren mit dem erforderlichen hochangereicherten Kernbrennstoff und die Lagerung bzw. Wiederaufarbeitung (Entsorgung) des verbrauchten Kernbrennstoffs erfolgte bis 1987 durch die USA, die wegen der strategischen Bedeutung des waffenfähigen Materials sogar auf der Rücknahme des Abfalls bestand. Seit 1988 ver­

weigerten die USA jedoch wegen technischer Schwierigkeiten die Rücknahme verbrauchter Kembrennstäbe. Es begannen Verhandlungen der deutschen mit der britischen Regierung, die zu einer Vereinbarung über die Lagerung der verbrauchten Kembrennstäbe für eine Zeit von sechs Jahren (mit einer Rücknahmeverpflichtung Deutschlands) führte.

Spallationsquelle die Neutronenstrahlen dadurch erzeugt, daß ein "Target" (eine kleine Blei- oder auch Uranplatte) mit energiereicher Strahlung (aus einem Beschleuniger) beschossen wird. Vorzüge der Spallationsquelle liegen in einem möglichen stärkeren Neutronenfluß und im Sicherheitsbereich (Es sind keine unkontrollierten Reaktionen möglich, da keine Kettenreaktion stattfindet; es fallen wesentlich geringere (aber ebenfalls hoch radioaktive) Abfallmengen an), Nachteile liegen im höheren Bau- und Betriebsaufwand (Energieaufwand in der Größenordnung 30 Megawatt). Für die meisten Anwendungsfälle bildet die Spallationsquelle eine mögliche Alternative zum Forschungsreaktor, wegen unterschiedlicher Eigenschaften des erzeugten Neutronenstrahls gibt es aber auch Experimente, für die jeweils nur eine der Quellen geeignet ist.

\

(19)

Die Verfügbarkeit von Neutronenquellen hatte sich bis zum Jahre 1989 wie folgt verändert (Wissenschaftsrat 1989, S.231):

Reaktorbezeichnung Standort In Betrieb seit

Leistung Megawatt

Thermischer Neutronenfluß

n/cm^s

BERH Berlin voraussichtlich

19899

10 l,5 x l0 14

FMRB Braunschweig 1967 1 lxlO 13

FRG Geesthacht 1963 5 5xl013

FRJ-2 Jülich 1962 23 lxlO 14

FRM München 1957 4 5x l0 13

4.2 Chronik der Entscheidungsprozesse zum Forschungsreaktor BERII des HMI

Mitte der 70er Jahre begannen Planungen zum Umbau des Berliner Forschungsreaktors BER II, die eine wesentliche Erhöhung der Leistung des Reaktors zum Ziel hatten.

Der Antrag auf Umbau des BER II wurde am 12.11.79 gestellt und bis zum Jahre 1985 mit vier ergänzenden Anträgen versehen, deren letzter sich auf die Trennung von Umbau- und Betriebsgenehmigung bezog. Verschiedene Beratergremien des BMFT gaben positive Stellungnahmen ab, der damals zuständige Senator für Wirtschaft und Arbeit erteilte 1985 die erste Teilgenehmigung für den Umbau des BER II.

Es bildete sich eine Bürgerinitiative; ein Bürger erhob Klage gegen die Teilgenehmigung.

Damit begannen gerichtliche Auseinandersetzungen, die bis heute andauern. Das Ober­

verwaltungsgericht (OVG) Berlin verfügte im Dezember 1986 einen teilweisen Baustopp, der am 16.6.1988 aufgehoben wurde. Am 6.3. 1987 wurde die zweite Teilgenehmigung erteilt.

Im Juni 1989 wechselte mit der Bildung der Koalitionsregierung aus SPD und Alternativer Liste (AL) die Genehmigungskompetenz für den Reaktor vom Senator für Wirtschaft und Arbeit zur Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, die von einer V er­

treterin der A L geführt wurde. Da die A L wie die Grünen in der BRD erklärte Gegner jeder Atomtechnologie und damit auch des Forschungsreaktors BER II waren, w ar von diesem Zeitpunkt an die Inbetriebnahme des Reaktors ernsthaft in Frage gestellt.

9 Tatsächlich ging der BER I I 1991 in Betrieb - d. Verf.

(20)

142 Jochen Gläser u. a.

Die Hauptursache für die Gefährdung des Reaktors war, daß der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) wegen des alliierten Sonderstatus von Berlin zum damaligen Zeitpunkt kein Weisungsrecht gegenüber der Landesregierung hatte, das übliche Verfahren gegen abweichende Entscheidungen von Landesministem also nicht genutzt werden konnte.

Die Weigerung der Umweltsenatorin, eine Genehmigung zu erteilen, beruhte dabei durchaus auf einer "harten" kognitiv-technologischen Grundlage: Mittlerweile war die Entsorgung der verbrauchten Brennelemente des BER II völlig ungeklärt, nachdem die USA die Rücknahme seit 1988 verweigerten.

Die Zeit vom Juni 1989 bis zum Bruch der Berliner Regierungskoalition im November 1990 war durch außerordentlich heftige politische Auseinandersetzungen sowohl in Berlin (hier vor allem zwischen Teilen der SPD und der Umweltsenatorin) als auch zwischen Landes­

und Bundesregierung gekennzeichnet. Da die Möglichkeit einer Bundesweisung nicht bestand, übte der Bundesminister für Forschung und Technologie vor allem mit finanzpolitischen Mitteln Druck auf das Land Berlin aus: Es wurden Forschungsmittel ein­

gefroren und der Rückzug des Bundes aus der Finanzierung des HMI (die er zu 90% trug) angedroht.

Zugleich liefen intensive Bemühungen um eine neue Entsorgungslösung, die zu einem Vertrag mit der Wiederaufarbeitungsanlage in Dounreay (Schottland) führten. Dieser V er­

trag beinhaltet jedoch eine Rücknahmeverpflichtung Deutschlands für den Atommüll binnen sechs Jahren. Dies sah der Bundesumweltminister, nicht aber die Berliner Umweltsenatorin als ausreichende Entsorgungsvorsorge im Sinne des Atomgesetzes an. Die Umweltsenatorin versagte dann dem HMI die 3. Teilgenehmigung mit der Begründung eines nicht ausreichenden Entsorgungsnachweises, wogegen das HMI seinerseits Klage beim OVG erhob.

Mit der deutschen Einigung verlor Berlin seinen Sonderstatus. Der Bundesumweltminister drohte kurze Zeit später eine Bundesweisung zur Erteilung der dritten Teilgenehmigung an . Diese Weisung w ar aber nicht mehr nötig, weil zunächst nach dem Bruch der Berliner Regierungskoalition die SPD die Versagung der 3.Teilgenehmigung aufhob und dann nach den Wahlen der CDU-Senator die Teilgenehmigung erteilte. Die Inbetriebnahme des BER II erfolgte 1991,12 Jahre nach dem ersten Antrag auf Genehmigung des Umbaus.

(21)

Parallel zu diesen politischen Auseinandersetzungen beschäftigten die Teilgenehmigungen das Berliner Oberverwaltungsgericht, die letzte Klage gegen die 3.Teilgnehmigung ist noch nicht entschieden.

Die Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses zum BER II zeigt, daß die einzige wirkli­

che existentielle Gefahr für den Reaktor die politische Konstellation nach der Koalitions­

bildung im Juni 1989 war, weil der Sonderstatus Berlins das Weisungsrecht des Bundes außer Kraft setzte. Sie zeigt aber auch, daß die Gegner einer solchen Forschungstechnologie erhebliche Verzögerungen und Mehraufwendungen verursachen und damit für einen gewissen (unbestimmten) Zeitraum eine Situation schaffen können, die einem Verbot zumindest nahekommt. Genau dieser Nachweis (der bezüglich der Kernkraftwerke schon existierte, bezüglich der Forschungsreaktoren jedoch erst in Berlin erbracht wurde), scheint aber den Verlauf anderer Entscheidungsprozesse ganz wesentlich zu beeinflussen.

Analysiert man den Gesamtprozeß des Umbaus des Forschungsreaktors BER II, dann wird deutlich, daß die Handlungsbedingungen bis zum Juni 1989 eigentlich keine Gefährdung der Zielerreichung beinhalteten und seitens des HMI auch nicht so bewertet wurden. Das HMI konnte darauf vertrauen, daß der Reaktor - wenn auch mit gewissen Verzögerungen - in Betrieb genommen werden konnte. Diese Verzögerungen, die z.T. durch das HMI selbst verursacht waren, waren jeweils gering.

Die Einwendungen von Bürgern und einigen politischen Kräften gehörten zur normalen

"Begleitmusik" der Genehmigung kemtechnischer Anlagen, der mit "Standardprozeduren"

begegnet werden konnte. So finden sich in den Argumentationen zur Sicherheits- und Ent­

sorgungsproblematik alle einschlägigen Argumente, ergänzt um den Hinweis auf die ungleich geringere Dimension des Forschungsreaktors im Vergleich zu Kernkraftwerken und seiner damit a priori gegebenen viel geringeren Gefährlichkeit.

Die Veränderung der Handlungsbedingungen hin zu einer Gefährdung der Zielerreichung im Juni 1989 wurde durch das Zusammentreffen kognitiv-technologischer Situationsver­

änderungen mit einem singulären politischen Ereignis verursacht, kann also nicht auf die politische Situationsveränderung allein reduziert werden: Ohne entsprechende technolo­

giebezogene Voraussetzungen, in diesem Fall die unsichere Entsorgung, wäre keine Gefahr für die Zielerreichung eingetreten, sondern lediglich eine weitere Verzögerung. Selbst für den Fall der mit einer unzureichenden Entsorgungskonzeption begründeten Versagung der Teilgenehmigung ist nicht auszuschließen, daß die Klage des HMI gegen die Versagung der

(22)

144 Jochen Gläser u. a.

dritten Teilgenehmigung Erfolg gehabt hätte (ein Rechtsgutachten in diesem Sinne lag bereits vor).

4.3 Chronik der Entscheidungsprozesse zum Forschungsreaktor FRM II in München

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre entstand in der wissenschaftlichen Leitung des For­

schungsreaktors FRM I die Absicht, die Leistung des Forschungsreaktors zu erhöhen. Die diesbezüglichen Forschungsarbeiten führten zu einem eigenen technologischen Konzept auf der Grundlage des "Kompaktkemprinzips". Zunächst war ein Umbau des FRM I geplant, später wurden Umbau- und Neubaupläne parallel verfolgt. A uf Empfehlung der Genehmigungsbehörde fiel schließlich eine Entscheidung zugunsten des Neubaus.

In den folgenden Jahren wurde die Zustimmung aller erforderlichen politischen Akteure erreicht. 1984 begann das BMFT das Projekt zu finanzieren. Im Jahre 1985 wurde ent­

schieden, die Spallationsquelle in Jülich nicht zu bauen. 1986 gab der Wissenschaftsrat erste Planungsmittel für den Reaktor frei. Es folgte eine Periode normaler Planungsarbeiten. Zu dieser Normalität gehörte die Kritik der SPD-Opposition im Bayerischen Landtag, zumal diese Kritik nicht mit der Forderung verbunden war, das Projekt zu stoppen. Eine darüber hinausgehende öffentliche Diskussion des Projekts fand nicht statt.

Im September 1991 veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern der Technischen Universität München (überwiegend Nachwuchswissenschaftler der für den Reaktomeubau verantwortlichen Fakultät für Physik) eine Denkschrift "Alternativen zum Forschungsreak­

tor München II". Die Denkschrift beinhaltete eine Kritik der Pläne für den neuen For­

schungsreaktor, die Vorstellung einer Spallationsquelle als Alternativlösung, einen Ver­

gleich der beiden Varianten und eine Diskussion verschiedener Formen der institutioneilen Einbindung und möglicher Standorte für die neue Neutronenquelle.

Von diesem Zeitpunkt an befand sich die informelle Vorentscheidungsphase nicht mehr vollständig unter der Kontrolle der Befürworter des Reaktors. Die für den Neubau verant­

wortlichen Wissenschaftler nahmen diese Veränderung zunächst nicht wahr. Sie versuchten lediglich, die Kritiker innerhalb der eigenen Fakultät zu beeinflussen.

Ebenfalls im September 1991 gründete sich eine Bürgerinitiative gegen den neuen For­

schungsreaktor, die aber nicht sofort öffentlich auftrat.

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Ein relativ unbedeutender Störfall veränderte die Situation radikal. Ende Oktober wurde bei Bauarbeiten auf dem Reaktorgelände festgestellt, daß Baumwurzeln eine Abwasserleitung beschädigt hatten und radioaktiv verseuchtes Wasser in das umliegende Erdreich gelangt war. Als diese Information die neugegründete Bürgerinitiative erreichte, griff diese die Betreiber des alten Reaktors (die auch für den Neubau verantwortlich sind) scharf an und informierte gleichzeitig alle politischen Akteure und die Medien. Tatsächlich stellte sich heraus, daß die Verantwortlichen des alten Reaktors ihren Kontrollpflichten nicht nachgekommen waren. In der folgenden hitzigen Diskussion attackierte die Bürgerinitiative auch den geplanten Neubau des FRM II und wies auf die Denkschrift hin. A uf diese Weise wurde die Denkschrift bekannt und in zahlreichen Presseberichten zitiert.

Das bei derartigen Störfällen übliche Strohfeuer in den Medien und bei den Politikern verlosch bald, die Kritik am geplanten Neubau des FRM II und die Existenz möglicher Alternativen zu diesem Projekt waren jedoch etabliert, bevor der formelle Teil des Ent­

scheidungsprozesses begann.

Das große Interesse und die wachsende Kritik an dem Projekt FRM II machten den Befürwortern deutlich, daß ihre Ziele in Gefahr waren. Von nun an stand der Entschei­

dungsprozeß gewissermaßen unter ständiger öffentlicher Beobachtung.

Trotz des wachsenden Drucks und verschiedener Probleme im Planungsprozeß selbst (die Kostenkalkulation mußte erheblich nach oben korrigiert werden, der gesamte Planungs­

prozeß verzögerte sich, der Sicherheitsbericht wurde nicht fertiggestellt), hat der Bayerische Landtag vor kurzem seine Unterstützung für das Projekt erklärt. Damit scheint die Vorentscheidungsphase vor ihrem Abschluß zu stehen.

4.4 Hypothesen

Im folgenden sollen die auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen gebildeten Hypothesen formuliert werden, die dem Projekt im weiteren zugrunde liegen.

(1) Dynamik und "Sensibilität" der Entscheidungsprozesse

Die beiden beschriebenen Entscheidungsprozesse bestehen aus zwei völlig voneinander verschiedenen Phasen: einer nichtöffentlichen informellen 'Vorentscheidungsphase', in der die Pläne für den neuen Reaktor in den Netzwerken der Befürworter generiert, modifiziert und akzeptiert werden; und einer Phase des öffentlichen formellen Entscheidungsprozesses,

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146 Jochen Gläser u. a.

in der die für die Errichtung und den Betrieb des Reaktors erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen durch Antragstellungen und Genehmigungen geschaffen werden. Die Entscheidungsprozesse zum Forschungsreaktor FRM II in München befinden sich noch in der ersten Phase, (vgl. Abb. 3).

In der zweiten Phase kann nur aus außergewöhnlichen politischen Konstellationen eine Gefährdung des Projekts entstehen. Auch die in diesen Konstellationen erfolgenden politi­

schen Handlungen müssen jedoch dem kognitiv-technologischen Möglichkeitsfeld entspre­

chen, d.h. die technologische Seite des Projekts muß der Politik Ansatzpunkte bieten. Beim Fehlen einer der beiden genannten Voraussetzungen werden in gerichtlichen Ausein­

andersetzungen die Ergebnisse der Vorentscheidungsphase bestätigt. Die Aktionen von Bürgerinnen und Politikern gegen Forschungsreaktoren können aber zu einer Reihe von Verzögerungen des Projekts führen. Diese Ereignisse können das Projekt nicht gefährden.

Sie führen jedoch zu Unsicherheit bezüglich des Zeitrahmens und der Gesamtkosten und gefährden auf diese W eise die mit dem Projekt verbundenen Forschungsvorhaben.

Wirkliche Entscheidungsfindung im Sinne der Auswahl einer von mehreren Handlungs­

möglichkeiten vollzieht sich nur in der 'Vorentscheidungsphase'. In dieser Phase ist der Entscheidungsprozeß wesentlich empfindlicher hinsichtlich des Entstehens öffentlicher Diskussionen sowie hinsichtlich des Einbringens neuer Varianten und Bewertungskriterien.

Solche Einwirkungen, die den Entscheidungsprozeß in der zweiten Phase kaum noch beeinflussen können, können das Projekt in der ersten Phase gefährden. Der Hauptgrund für diesen Unterschied liegt in den unterschiedlichen Anforderungen der beiden Phasen: In der ersten Phase müssen Einstellungen politischer Akteure beeinflußt werden, während in der zweiten Phase lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht nachzuweisen ist.

(2) Konsequenzen aus den Entscheidungsprozessen für die Forschung

Die verschiedenen nationalen scientific communities und lokalen Forschungsgruppen sind durch die Entscheidungsprozesse zu einzelnen Forschungsreaktoren in ganz unterschiedli­

cher Art und Weise betroffen. Der Wegfall einer Neutronenquelle bedeutet für die Nutzer von Neutronenstrahlen zwar eine weitere - möglicherweise erhebliche - Verschlechterung, aber nicht die Verhinderung des Zugangs zu Neutronenstrahlen. Ein Ausweichen ist sowohl national als auch international prinzipiell möglich. Für die Betreiber (und im Falle des FRM II die Entwickler) des Reaktors bedeutet die Verhinderung des Projekts jedoch eine grundsätzliche Gefährdung ihrer Arbeitsmöglichkeiten. Eine solche Gefährdung gibt es möglicherweise auch für wissenschaftliche Einrichtungen wie das HMI, wenn die auf der

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Grundlage der Verfügbarkeit von Neutronenstrahlen betriebenen Forschungen eine wesentliche Grundlage für die Einwerbung von Mitteln sind (z.B. aus Förderprogrammen des Bundes zur Fusionsreaktor-Forschung). Während es also auf einer abstrakteren Ebene zwischen den Nutzern und Betreibern von Neutronenquellen durchaus eine weitgehende Interessenübereinstimmung bezüglich des Bedarfs an Forschungsreaktoren gibt, ist der Grad der konkreten Beeinflussung von Forschungen sehr differenziert zu betrachten.

(3) Problemwahmehmungen und Reaktionen der Wissenschaftler

Die in den jeweiligen wissenschaftlichen Einrichtungen für die Projekte engagierten Wis­

senschaftler reagieren auf Einwände gegen ihr Projekt in beiden Phasen des Entschei­

dungsprozesses mit Standardstrategien. So werden z.B. Einwände gegen die Projekte als wissenschaftlich nicht begründet zurückgewiesen. Diese Methode ist in der zweiten Phase des Entscheidungsprozesses erfolgreich (siehe 1), in der ersten jedoch zumindest unsicher.

Darüber hinaus deuten sich in den aktuellen Entscheidungsprozessen zwei neue Trends an:

ein zunehmender Import von wissenschaftsextemen Entscheidungskriterien und eine Differenzierung der scientific community bezüglich der Projekte.

D er Import wissenschaftsexterner Entscheidungskriterien geschieht vermittelt über solche Kriterien wie "gesellschaftliche Durchsetzbarkeit", "Zeitspanne bis zur Inbetriebnahme",

"Kosten des Projekts", "gesellschaftlicher Konsens" usw.. Diese Kriterien führen zu einer immer ungünstigeren Bewertung der Erfolgsaussichten der Projekte, ohne daß daraus bis­

lang Konsequenzen hinsichtlich der gesamten Verfahrensweise entstanden wären.

(4) Langfristige Konsequenzen

Anscheinend werden in dem Maße, wie wissenschaftsexteme Bewertungskriterien für For­

schungstechnologien durch die scientific communities intemalisiert werden, auch wissen­

schaftsinterne Entscheidungsweisen einer Revision unterzogen. Es scheint nicht ausge­

schlossen, daß auf diesem Weg im Verlaufe eines längeren Zeitraumes die

"Gesellschaftsverträglichkeit" von wissenschaftlichen Strategien ein wichtiges Entschei­

dungskriterium in bislang rein wissenschaftsinternen Entscheidungsprozessen wird.

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148 Jochen Gläser u. a.

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150 Gert-Rüdiger Wegmarshaus

Kommunismus und Kernkraft - Nein danke?

(Civic versus Nuclear Power under Perestroika) Gert-Rüdiger Wegmarshaus

Offenkundig bieten sowohl die unter der Perestroika in der ehemaligen UdSSR von 1985 bis 1991 abgelaufenen gesellschaftspolitischen und sozialökonomischen Transformationspro­

zesse als auch die heute in den Nachfolgerepubliken stattfindenden Wandlungen reichhalti­

ges empirisches Material und vielfältige Denkanstöße für die Diskussion übergreifender sozial- und politikwissenschaftlicher Fragestellungen. Die diesbezügliche Literatur zeugt von einem weitgefächerten Interesse an wirtschaftstheoretisehen , geistesgeschichtlichen, literatur- und kunsthistorischen sowie politikwissenschaftlichen Untersuchungen. Zentrales Interesse beanspruchen Arbeiten zur Einordnung der Umbrüche in der ehemaligen Sowjet­

union und in Osteuropa unter liberalismustheoretischen, konservativen, utopiekritischen, sowie modemisierungstheoretischen Prämissen. (1)

Der Ansatzpunkt dieses Beitrages ist eine Fragestellung, die in der Diskussion um Ursachen, Verlauf und Konsequenzen der osteuropäischen Umgestaltungen bislang eine eher unter­

geordnete Rolle gespielt hat, die aber unter modemisierungs- und wissenschaftstheoreti­

schen Gesichtspunkten gleichwohl zu Einsichten in gesellschaftliche Gestaltungszusam­

menhänge von Wissenschaft und Technologie verhelfen könnte.

Es geht um die Frage, inwieweit die Entstehung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Trans­

formationsgesellschaften die Partizipation der Bürger in forschungs-, technologie- und umweltpolitischen Entscheidungsprozessen ermöglicht.

Oder anders herum gefragt: Läßt sich das Maß der engagierten Teilhabe der Bürger an der Gestaltung von technologie- und umweltpolitischen Prozessen im Sinne von Meinungsar­

tikulation und Aktionsmobilisierung als Gradmesser für die Etabliertheit demokratischer Verhaltensmuster und zivilgesellschaftlicher Strukturen ansehen? Diese Frage, exemplifiziert an der Kemkraftpolitik, ist vielschichtig:

Welche Artikulations- und Mobilisierungsformen für Bürgerbeteiligung sind entstanden, welche Rolle spielen die Presse und die elektronischen Medien, welche Positionen beziehen die politischen Parteien und Bewegungen, welchen Stellenwert nehmen technologie- und

(29)

umweltpolitische Fragen in der Arbeit der Parlamente ein, wie artikuliert sich die scientific Community in kemkraftpolitischen Angelegenheiten , welche wissenschaftlichen Entschei- dungsfindungs- und Beratungsgremien haben sich etabliert, schließlich, welchen Einfluß haben Schriftsteller und Künstler auf die Formierung einer kemkraftkritischen Öffentlich­

keit?

Diese Fragen umreißen ein komplexes und bislang kaum bearbeitetes Forschungsthema.

Dieser Beitrag versteht sich als Selbstbeschränkung: Ziel ist es, die Entstehung einer kern- krafitpolitischen Öffentlichkeit in der UdSSR der Perestroika zu skizzieren und an diesem Beispiel zu zeigen, daß in der ehemaligen Sowjetunion und in den jetzigen Nachfolgere­

publiken, vornehmlich Rußland und Ukraine, eine nachholende Modernisierung eingesetzt hat, welche sich auch auf technologie- und umweltpolitischem Gebiet manifestiert.

Die A rt und Weise, wie in der Perestroika kemkraftpolitische Sachfragen aufgeworfen und diskutiert wurden, kann als Beleg für die These gelten, daß Wissenschafts- und Technolo­

giepolitik ein soziales Konstrukt ist, welches seine kommunikationstheoretischen Entste­

hungsbedingungen nicht verhüllen kann. Im Anschluß an wissenschaftstheoretische Diskus­

sionen um die soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens und technologischer A rte­

fakte, sowie unter Bezug auf kommunkationstheoretische Positionen kann m.E. erklärt werden, wie der mit der Perestroika einsetzende gesellschaftstheoretische und -praktische Umbruch die innersowjetische Debatte um die Nutzung der Kernenergie bestimmt hat und zur Entstehung einer kemkraftpolitischen Sachffage geführt hat.

Bekanntlich sind die wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Arbeiten der 80er Jahre in starkem Maße geprägt sowohl von Untersuchungen der sozialen Mechanismen der Produktion naturwissenschaftlichen Wissens, insbesondere durch die Anlyse der mikro­

soziologischen Ebene unter Anwendung ethnomethodologischer Verfahren (2), als auch von Forschungen zur soziokulturellen Konstruktions- und Rezeptionsweise technologischer Artefakte und der ihnen zugeschriebenen Risikodimensionen (3). Es ist eine verlockende Fragestellung dem Problem nachzugehen, welche sozialen und ökonomischen Selektionmechanismen im sowjetischen Wissenschafts- und Technologiesystem zur Aus­

wahl und Entwicklung der realisierten Reaktortypen (WWER und RBMK) geführt haben, welche Risikowahmehmung und -akzeptanz sich in den gewählten technologisch-konstruk­

tiven Auslegungen offenbart.

Insbesondere der RBMK (Tschernobyl) Reaktor scheint unter massiver Berücksichtigung militärischer Prioritäten (Plutoniumherstellung für Kernwaffen) entwickelt worden zu sein

(30)

152 Gert-Rüdiger Wegmarshaus

(4) . Die Verquickung militärischer und ziviler Nutzung bei der konstruktiven Auslegung dieses Reaktortyps unter Inkaufnahme beträchtlicher sicherheitstechnischer Risiken spricht sowohl für den Einfluß des Militärisch-Industriellen Komplexes in der Sowjetunion als auch für das Fehlen bzw. die Ohnmächtigkeit ziviler, militärunabhängiger Instanzen im Atom­

komplex, Instanzen, die in der Lage gewesen wären, weitergehende Sicherheitsbelange im Interesse der Zivilbevölkerung zu artikulieren. Es ist zu vermerken, daß der RBMK Reak­

tortyp aufgrund seines risikobehafteten Designs im Westen nicht genehmigt worden wäre.

(5)

Das atomare Feuer im KKW von Tschernobyl vom 29. April 1986 beleuchtete schlaglicht­

artig die Probleme vor denen Gorbatschow mit seinem Programm der Perestroika stand:

Angetreten mit dem ehrgeizigen, und wie sich zeigen sollte, illusorischen Ziel, die Sowjet­

gesellschaft grundlegend zu erneuern, traf seine Politik überall auf das Erbe eines staats­

bürokratischen Sozialismus, der wissenschaftlich-technologische Entwicklung nur um den Preis von voluntaristisch-technokratischen Entscheidungen, des Ausschlusses jeglicher Bür­

gerpartizipation und des Raubbaus an der natürlichen Umwelt zu ermöglichen schien.

Im Verlaufe des von Gorbatschow angestoßenen Reformprogramms wurde deutlich, daß die Versuche, mittels "Perestroika" eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen, mittels Glasnost eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit zu etablieren und mittels Demokratisierung einer aktiven Bürgerbeteiligung den Weg zu ebnen, relativ rasch an die Grenzen des Systems stießen.

Das zeigte sich sowohl am wachsenden Widerstand der orthodox-kommunistischen, kon­

servativen Kräfte im Machtapparat von Staat und Partei, als auch am wachsenden Anspruch und Einfluß demokratischer Bewegungen, die, zumeist unter dem Banner der nationalen Wiedergeburt auftretend, das Gorbatschow'sche Reformprogramm nach Ziel und Inhalt sprengten, indem sie nationalstaatliche Souveränität, politischen Pluralismus und Marktwirt­

schaft forderten.

Entgegen dem propagandistisch aufgesetzten, offiziellen Selbstverständnis der Sowjetge­

sellschaft erwies sich das politische und administrative Gefüge als prinzipiell nicht refor­

mierbar. (6) Die tieferliegende Ursache tritt unter Berücksichtigung modemisierungstheo- retischer Ansätze klar zutage:

Ungeachtet gewaltiger Industrialisierungsprozesse und z. T. beachtlicher wissenschaftlich- technischer Spitzenleistungen läßt sich die Sowjetgesellschaft als eine halbierte, aufs Technologische beschränkte Moderne begreifen. Die Gründe für die in der UdSSR über

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Referenzen

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