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Chronik der Entscheidungsprozesse zum Forschungsreaktor FRM II in München

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre entstand in der wissenschaftlichen Leitung des For­

schungsreaktors FRM I die Absicht, die Leistung des Forschungsreaktors zu erhöhen. Die diesbezüglichen Forschungsarbeiten führten zu einem eigenen technologischen Konzept auf der Grundlage des "Kompaktkemprinzips". Zunächst war ein Umbau des FRM I geplant, später wurden Umbau- und Neubaupläne parallel verfolgt. A uf Empfehlung der Genehmigungsbehörde fiel schließlich eine Entscheidung zugunsten des Neubaus.

In den folgenden Jahren wurde die Zustimmung aller erforderlichen politischen Akteure erreicht. 1984 begann das BMFT das Projekt zu finanzieren. Im Jahre 1985 wurde ent­

schieden, die Spallationsquelle in Jülich nicht zu bauen. 1986 gab der Wissenschaftsrat erste Planungsmittel für den Reaktor frei. Es folgte eine Periode normaler Planungsarbeiten. Zu dieser Normalität gehörte die Kritik der SPD-Opposition im Bayerischen Landtag, zumal diese Kritik nicht mit der Forderung verbunden war, das Projekt zu stoppen. Eine darüber hinausgehende öffentliche Diskussion des Projekts fand nicht statt.

Im September 1991 veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern der Technischen Universität München (überwiegend Nachwuchswissenschaftler der für den Reaktomeubau verantwortlichen Fakultät für Physik) eine Denkschrift "Alternativen zum Forschungsreak­

tor München II". Die Denkschrift beinhaltete eine Kritik der Pläne für den neuen For­

schungsreaktor, die Vorstellung einer Spallationsquelle als Alternativlösung, einen Ver­

gleich der beiden Varianten und eine Diskussion verschiedener Formen der institutioneilen Einbindung und möglicher Standorte für die neue Neutronenquelle.

Von diesem Zeitpunkt an befand sich die informelle Vorentscheidungsphase nicht mehr vollständig unter der Kontrolle der Befürworter des Reaktors. Die für den Neubau verant­

wortlichen Wissenschaftler nahmen diese Veränderung zunächst nicht wahr. Sie versuchten lediglich, die Kritiker innerhalb der eigenen Fakultät zu beeinflussen.

Ebenfalls im September 1991 gründete sich eine Bürgerinitiative gegen den neuen For­

schungsreaktor, die aber nicht sofort öffentlich auftrat.

Ein relativ unbedeutender Störfall veränderte die Situation radikal. Ende Oktober wurde bei Bauarbeiten auf dem Reaktorgelände festgestellt, daß Baumwurzeln eine Abwasserleitung beschädigt hatten und radioaktiv verseuchtes Wasser in das umliegende Erdreich gelangt war. Als diese Information die neugegründete Bürgerinitiative erreichte, griff diese die Betreiber des alten Reaktors (die auch für den Neubau verantwortlich sind) scharf an und informierte gleichzeitig alle politischen Akteure und die Medien. Tatsächlich stellte sich heraus, daß die Verantwortlichen des alten Reaktors ihren Kontrollpflichten nicht nachgekommen waren. In der folgenden hitzigen Diskussion attackierte die Bürgerinitiative auch den geplanten Neubau des FRM II und wies auf die Denkschrift hin. A uf diese Weise wurde die Denkschrift bekannt und in zahlreichen Presseberichten zitiert.

Das bei derartigen Störfällen übliche Strohfeuer in den Medien und bei den Politikern verlosch bald, die Kritik am geplanten Neubau des FRM II und die Existenz möglicher Alternativen zu diesem Projekt waren jedoch etabliert, bevor der formelle Teil des Ent­

scheidungsprozesses begann.

Das große Interesse und die wachsende Kritik an dem Projekt FRM II machten den Befürwortern deutlich, daß ihre Ziele in Gefahr waren. Von nun an stand der Entschei­

dungsprozeß gewissermaßen unter ständiger öffentlicher Beobachtung.

Trotz des wachsenden Drucks und verschiedener Probleme im Planungsprozeß selbst (die Kostenkalkulation mußte erheblich nach oben korrigiert werden, der gesamte Planungs­

prozeß verzögerte sich, der Sicherheitsbericht wurde nicht fertiggestellt), hat der Bayerische Landtag vor kurzem seine Unterstützung für das Projekt erklärt. Damit scheint die Vorentscheidungsphase vor ihrem Abschluß zu stehen.

4.4 Hypothesen

Im folgenden sollen die auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen gebildeten Hypothesen formuliert werden, die dem Projekt im weiteren zugrunde liegen.

(1) Dynamik und "Sensibilität" der Entscheidungsprozesse

Die beiden beschriebenen Entscheidungsprozesse bestehen aus zwei völlig voneinander verschiedenen Phasen: einer nichtöffentlichen informellen 'Vorentscheidungsphase', in der die Pläne für den neuen Reaktor in den Netzwerken der Befürworter generiert, modifiziert und akzeptiert werden; und einer Phase des öffentlichen formellen Entscheidungsprozesses,

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in der die für die Errichtung und den Betrieb des Reaktors erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen durch Antragstellungen und Genehmigungen geschaffen werden. Die Entscheidungsprozesse zum Forschungsreaktor FRM II in München befinden sich noch in der ersten Phase, (vgl. Abb. 3).

In der zweiten Phase kann nur aus außergewöhnlichen politischen Konstellationen eine Gefährdung des Projekts entstehen. Auch die in diesen Konstellationen erfolgenden politi­

schen Handlungen müssen jedoch dem kognitiv-technologischen Möglichkeitsfeld entspre­

chen, d.h. die technologische Seite des Projekts muß der Politik Ansatzpunkte bieten. Beim Fehlen einer der beiden genannten Voraussetzungen werden in gerichtlichen Ausein­

andersetzungen die Ergebnisse der Vorentscheidungsphase bestätigt. Die Aktionen von Bürgerinnen und Politikern gegen Forschungsreaktoren können aber zu einer Reihe von Verzögerungen des Projekts führen. Diese Ereignisse können das Projekt nicht gefährden.

Sie führen jedoch zu Unsicherheit bezüglich des Zeitrahmens und der Gesamtkosten und gefährden auf diese W eise die mit dem Projekt verbundenen Forschungsvorhaben.

Wirkliche Entscheidungsfindung im Sinne der Auswahl einer von mehreren Handlungs­

möglichkeiten vollzieht sich nur in der 'Vorentscheidungsphase'. In dieser Phase ist der Entscheidungsprozeß wesentlich empfindlicher hinsichtlich des Entstehens öffentlicher Diskussionen sowie hinsichtlich des Einbringens neuer Varianten und Bewertungskriterien.

Solche Einwirkungen, die den Entscheidungsprozeß in der zweiten Phase kaum noch beeinflussen können, können das Projekt in der ersten Phase gefährden. Der Hauptgrund für diesen Unterschied liegt in den unterschiedlichen Anforderungen der beiden Phasen: In der ersten Phase müssen Einstellungen politischer Akteure beeinflußt werden, während in der zweiten Phase lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht nachzuweisen ist.

(2) Konsequenzen aus den Entscheidungsprozessen für die Forschung

Die verschiedenen nationalen scientific communities und lokalen Forschungsgruppen sind durch die Entscheidungsprozesse zu einzelnen Forschungsreaktoren in ganz unterschiedli­

cher Art und Weise betroffen. Der Wegfall einer Neutronenquelle bedeutet für die Nutzer von Neutronenstrahlen zwar eine weitere - möglicherweise erhebliche - Verschlechterung, aber nicht die Verhinderung des Zugangs zu Neutronenstrahlen. Ein Ausweichen ist sowohl national als auch international prinzipiell möglich. Für die Betreiber (und im Falle des FRM II die Entwickler) des Reaktors bedeutet die Verhinderung des Projekts jedoch eine grundsätzliche Gefährdung ihrer Arbeitsmöglichkeiten. Eine solche Gefährdung gibt es möglicherweise auch für wissenschaftliche Einrichtungen wie das HMI, wenn die auf der

Grundlage der Verfügbarkeit von Neutronenstrahlen betriebenen Forschungen eine wesentliche Grundlage für die Einwerbung von Mitteln sind (z.B. aus Förderprogrammen des Bundes zur Fusionsreaktor-Forschung). Während es also auf einer abstrakteren Ebene zwischen den Nutzern und Betreibern von Neutronenquellen durchaus eine weitgehende Interessenübereinstimmung bezüglich des Bedarfs an Forschungsreaktoren gibt, ist der Grad der konkreten Beeinflussung von Forschungen sehr differenziert zu betrachten.

(3) Problemwahmehmungen und Reaktionen der Wissenschaftler

Die in den jeweiligen wissenschaftlichen Einrichtungen für die Projekte engagierten Wis­

senschaftler reagieren auf Einwände gegen ihr Projekt in beiden Phasen des Entschei­

dungsprozesses mit Standardstrategien. So werden z.B. Einwände gegen die Projekte als wissenschaftlich nicht begründet zurückgewiesen. Diese Methode ist in der zweiten Phase des Entscheidungsprozesses erfolgreich (siehe 1), in der ersten jedoch zumindest unsicher.

Darüber hinaus deuten sich in den aktuellen Entscheidungsprozessen zwei neue Trends an:

ein zunehmender Import von wissenschaftsextemen Entscheidungskriterien und eine Differenzierung der scientific community bezüglich der Projekte.

D er Import wissenschaftsexterner Entscheidungskriterien geschieht vermittelt über solche Kriterien wie "gesellschaftliche Durchsetzbarkeit", "Zeitspanne bis zur Inbetriebnahme",

"Kosten des Projekts", "gesellschaftlicher Konsens" usw.. Diese Kriterien führen zu einer immer ungünstigeren Bewertung der Erfolgsaussichten der Projekte, ohne daß daraus bis­

lang Konsequenzen hinsichtlich der gesamten Verfahrensweise entstanden wären.

(4) Langfristige Konsequenzen

Anscheinend werden in dem Maße, wie wissenschaftsexteme Bewertungskriterien für For­

schungstechnologien durch die scientific communities intemalisiert werden, auch wissen­

schaftsinterne Entscheidungsweisen einer Revision unterzogen. Es scheint nicht ausge­

schlossen, daß auf diesem Weg im Verlaufe eines längeren Zeitraumes die

"Gesellschaftsverträglichkeit" von wissenschaftlichen Strategien ein wichtiges Entschei­

dungskriterium in bislang rein wissenschaftsinternen Entscheidungsprozessen wird.

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150 Gert-Rüdiger Wegmarshaus