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(Civic versus Nuclear Power under Perestroika) Gert-Rüdiger Wegmarshaus

Offenkundig bieten sowohl die unter der Perestroika in der ehemaligen UdSSR von 1985 bis 1991 abgelaufenen gesellschaftspolitischen und sozialökonomischen Transformationspro­

zesse als auch die heute in den Nachfolgerepubliken stattfindenden Wandlungen reichhalti­

ges empirisches Material und vielfältige Denkanstöße für die Diskussion übergreifender sozial- und politikwissenschaftlicher Fragestellungen. Die diesbezügliche Literatur zeugt von einem weitgefächerten Interesse an wirtschaftstheoretisehen , geistesgeschichtlichen, literatur- und kunsthistorischen sowie politikwissenschaftlichen Untersuchungen. Zentrales Interesse beanspruchen Arbeiten zur Einordnung der Umbrüche in der ehemaligen Sowjet­

union und in Osteuropa unter liberalismustheoretischen, konservativen, utopiekritischen, sowie modemisierungstheoretischen Prämissen. (1)

Der Ansatzpunkt dieses Beitrages ist eine Fragestellung, die in der Diskussion um Ursachen, Verlauf und Konsequenzen der osteuropäischen Umgestaltungen bislang eine eher unter­

geordnete Rolle gespielt hat, die aber unter modemisierungs- und wissenschaftstheoreti­

schen Gesichtspunkten gleichwohl zu Einsichten in gesellschaftliche Gestaltungszusam­

menhänge von Wissenschaft und Technologie verhelfen könnte.

Es geht um die Frage, inwieweit die Entstehung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Trans­

formationsgesellschaften die Partizipation der Bürger in forschungs-, technologie- und umweltpolitischen Entscheidungsprozessen ermöglicht.

Oder anders herum gefragt: Läßt sich das Maß der engagierten Teilhabe der Bürger an der Gestaltung von technologie- und umweltpolitischen Prozessen im Sinne von Meinungsar­

tikulation und Aktionsmobilisierung als Gradmesser für die Etabliertheit demokratischer Verhaltensmuster und zivilgesellschaftlicher Strukturen ansehen? Diese Frage, exemplifiziert an der Kemkraftpolitik, ist vielschichtig:

Welche Artikulations- und Mobilisierungsformen für Bürgerbeteiligung sind entstanden, welche Rolle spielen die Presse und die elektronischen Medien, welche Positionen beziehen die politischen Parteien und Bewegungen, welchen Stellenwert nehmen technologie- und

umweltpolitische Fragen in der Arbeit der Parlamente ein, wie artikuliert sich die scientific Community in kemkraftpolitischen Angelegenheiten , welche wissenschaftlichen Entschei- dungsfindungs- und Beratungsgremien haben sich etabliert, schließlich, welchen Einfluß haben Schriftsteller und Künstler auf die Formierung einer kemkraftkritischen Öffentlich­

keit?

Diese Fragen umreißen ein komplexes und bislang kaum bearbeitetes Forschungsthema.

Dieser Beitrag versteht sich als Selbstbeschränkung: Ziel ist es, die Entstehung einer kern- krafitpolitischen Öffentlichkeit in der UdSSR der Perestroika zu skizzieren und an diesem Beispiel zu zeigen, daß in der ehemaligen Sowjetunion und in den jetzigen Nachfolgere­

publiken, vornehmlich Rußland und Ukraine, eine nachholende Modernisierung eingesetzt hat, welche sich auch auf technologie- und umweltpolitischem Gebiet manifestiert.

Die A rt und Weise, wie in der Perestroika kemkraftpolitische Sachfragen aufgeworfen und diskutiert wurden, kann als Beleg für die These gelten, daß Wissenschafts- und Technolo­

giepolitik ein soziales Konstrukt ist, welches seine kommunikationstheoretischen Entste­

hungsbedingungen nicht verhüllen kann. Im Anschluß an wissenschaftstheoretische Diskus­

sionen um die soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens und technologischer A rte­

fakte, sowie unter Bezug auf kommunkationstheoretische Positionen kann m.E. erklärt werden, wie der mit der Perestroika einsetzende gesellschaftstheoretische und -praktische Umbruch die innersowjetische Debatte um die Nutzung der Kernenergie bestimmt hat und zur Entstehung einer kemkraftpolitischen Sachffage geführt hat.

Bekanntlich sind die wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Arbeiten der 80er Jahre in starkem Maße geprägt sowohl von Untersuchungen der sozialen Mechanismen der Produktion naturwissenschaftlichen Wissens, insbesondere durch die Anlyse der mikro­

soziologischen Ebene unter Anwendung ethnomethodologischer Verfahren (2), als auch von Forschungen zur soziokulturellen Konstruktions- und Rezeptionsweise technologischer Artefakte und der ihnen zugeschriebenen Risikodimensionen (3). Es ist eine verlockende Fragestellung dem Problem nachzugehen, welche sozialen und ökonomischen Selektionmechanismen im sowjetischen Wissenschafts- und Technologiesystem zur Aus­

wahl und Entwicklung der realisierten Reaktortypen (WWER und RBMK) geführt haben, welche Risikowahmehmung und -akzeptanz sich in den gewählten technologisch-konstruk­

tiven Auslegungen offenbart.

Insbesondere der RBMK (Tschernobyl) Reaktor scheint unter massiver Berücksichtigung militärischer Prioritäten (Plutoniumherstellung für Kernwaffen) entwickelt worden zu sein

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(4) . Die Verquickung militärischer und ziviler Nutzung bei der konstruktiven Auslegung dieses Reaktortyps unter Inkaufnahme beträchtlicher sicherheitstechnischer Risiken spricht sowohl für den Einfluß des Militärisch-Industriellen Komplexes in der Sowjetunion als auch für das Fehlen bzw. die Ohnmächtigkeit ziviler, militärunabhängiger Instanzen im Atom­

komplex, Instanzen, die in der Lage gewesen wären, weitergehende Sicherheitsbelange im Interesse der Zivilbevölkerung zu artikulieren. Es ist zu vermerken, daß der RBMK Reak­

tortyp aufgrund seines risikobehafteten Designs im Westen nicht genehmigt worden wäre.

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Das atomare Feuer im KKW von Tschernobyl vom 29. April 1986 beleuchtete schlaglicht­

artig die Probleme vor denen Gorbatschow mit seinem Programm der Perestroika stand:

Angetreten mit dem ehrgeizigen, und wie sich zeigen sollte, illusorischen Ziel, die Sowjet­

gesellschaft grundlegend zu erneuern, traf seine Politik überall auf das Erbe eines staats­

bürokratischen Sozialismus, der wissenschaftlich-technologische Entwicklung nur um den Preis von voluntaristisch-technokratischen Entscheidungen, des Ausschlusses jeglicher Bür­

gerpartizipation und des Raubbaus an der natürlichen Umwelt zu ermöglichen schien.

Im Verlaufe des von Gorbatschow angestoßenen Reformprogramms wurde deutlich, daß die Versuche, mittels "Perestroika" eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen, mittels Glasnost eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit zu etablieren und mittels Demokratisierung einer aktiven Bürgerbeteiligung den Weg zu ebnen, relativ rasch an die Grenzen des Systems stießen.

Das zeigte sich sowohl am wachsenden Widerstand der orthodox-kommunistischen, kon­

servativen Kräfte im Machtapparat von Staat und Partei, als auch am wachsenden Anspruch und Einfluß demokratischer Bewegungen, die, zumeist unter dem Banner der nationalen Wiedergeburt auftretend, das Gorbatschow'sche Reformprogramm nach Ziel und Inhalt sprengten, indem sie nationalstaatliche Souveränität, politischen Pluralismus und Marktwirt­

schaft forderten.

Entgegen dem propagandistisch aufgesetzten, offiziellen Selbstverständnis der Sowjetge­

sellschaft erwies sich das politische und administrative Gefüge als prinzipiell nicht refor­

mierbar. (6) Die tieferliegende Ursache tritt unter Berücksichtigung modemisierungstheo- retischer Ansätze klar zutage:

Ungeachtet gewaltiger Industrialisierungsprozesse und z. T. beachtlicher wissenschaftlich- technischer Spitzenleistungen läßt sich die Sowjetgesellschaft als eine halbierte, aufs Technologische beschränkte Moderne begreifen. Die Gründe für die in der UdSSR über

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einen historisch längeren Zeitraum realisierte halbierte Modernisierung, die aufs Techno­

logisch-Wissenschaftliche begrenzt blieb, liegen in drei strukturellen Entscheidungen nach der Oktoberrevolution:

- der Auflösung und Abschaffung des Parlaments,

- dem Verbot aller politischen Parteien mit Ausnahme der Kommunisten, - der Verhängung des Fraktionsverbots innerhalb der KP.

Mit diesen Entscheidungen wurden die Weichen gestellt für den Sonderweg Sowjetruss­

lands, der in einer historischen Rücknahme wesentlicher Bedingungen der Moderne be­

stand. (7)

Diese strategischen Weichenstellungen führten zu einer autoritär-bürokratischen Gesell­

schaft, die ihren vormaligen revolutionären Anspruch im Maße der Ausprägung ihrer prakti­

schen Lebens- und Herrschaftsverhältnisse nachhaltig denunzierte.

Der mit der Perestroika in Gang gesetzte und in der postsowjetischen Gesellschaft heute anstehende Entwicklungsabschnitt erscheint m.E. als nachholende, auf die Etablierung zivilgesellschaftlicher Strukturen abzielende Modernisierung.

Eine Modernisierung, die sich nicht nur und nicht in erster Linie auf die wissenschaftlich­

technologische "Hardware" , weniger auf Fortschritte in der stofflich-technischen Seite der Naturaneignung bezieht, sondern vielmehr auf die soziale "Software" auf die Ausbildung politischer und sozialer Steuerungsverfahren für wissenschatlich-technische Neuerungspro­

zesse.

Zur Debatte steht die Suche nach adäquaten sozialen Aushandlungsformen für wissen­

schaftlich-technische Entwicklungsprozesse; es geht um die kommunikativen Vermittlungen der sozialen und politischen Auseinandersetzungen bei der Realisierung von technologi­

schen Entwicklungsmöglichkeiten und -alternativen.

Der hier unterstellte Begriff von Moderne, das zugrundegelegte Verständnis von gesell­

schaftlicher Modernisierung schließt an Habermas' Bestimmung der Moderne an: Hegel interpretierend faßt er die Moderne als die Verwirklichung der Freiheit der Subjektivität:

" In diesem Zusammenhang führt der Ausdruck Subjektivität vor allem vier Konnotationen mit sich:

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1. Individualismus: in der modernen Welt kann die unendlich besondere Eigentümlichkeit ihre Prätentionen geltend machen;

2. Recht der Kritik: das Prinzip der modernen Welt fordert, das, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige;

3. Autonomie des Handelns: es gehört der modernen Zeit an, daß wir dafür stehen wollen, was wir tun;

4. schließlich die idealistische Philosophie selbst: Hegel betrachtet es als das W erk der modernen Zeit, daß die Philosophie die sich wissende Idee erfaßt". (8)

Die heute anstehenden Aufgaben im Hinblick auf die soziale Beherrschung wissenschaftlich- technischer Neuerungsprozesse in den postkommunistischen Gesellschaften Rußlands und der Ukraine scheinen von Habermas bereits 1965 hinreichend scharf bestirnt worden zu sein:

In seiner damaligen Analyse der spätkapitalistischen Gesellschaft und der ihr innewohnen­

den buerokratischen Tendenzen formulierte er damals mit Nachdruck die Frage als Aufgabe, wie die Gewalt der technischen Verfügung in den Konsens handelnder und verhandelnder Bürger zurückgeholt werden kann. (9) Es ist wohl gerechtfertigt festzustellen, daß selten ein kommunikationstheoretisches Defizit in einer Gesellschaft sich so schlagend in tech­

nisch-naturwüchsiger Gewalt Geltung verschafft hat wie im Falle Tschernobyl. Tschernobyl freilich steht für den gesamten Atomkomplex der ehemaligen Sowjetunion und war nach­

gewiesenermaßen nicht die erste Katastrophe im kemtechnischen Bereich der UdSSR. (10) Der technokratische Charakter des sowjetischen Gesellschaftssystems als Ganzes und davon abgeleitet, die technokratische Handhabung von Wissenschaft und Technologie sind in der Literatur hinreichend beschrieben worden. (11) Die naturwissenschaftliche und technologische Entwicklung standen in der UdSSR unter positivistisch-szientistischem V or­

zeichen. Das unreflektierte Vertrauen in die segensreichen, den gesellschaftlichen Reichtum in potentiellem Ueberfluss erzeugenden Leistungen von Wissenschaft und Technik war herr­

schende Ideologie. (12) Die Ursachen für diesen Tatbestand sind freilich tiefer zu loten als in Stalinistischen Deformierungen und parteiautokratischem Machtmissbrauch. (13) Die gesellschaftstheoretische Ursache, wohlunterschieden von den realhistorisch aufgetretenen machtpragmatischen Varianten, ist m.E. im Kern der Marx'schen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung zu suchen : In dem Versuch, die Geschichte als naturhistorischen Pro­

zess nach dem M uster strenger, "objektiver" naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeit aufzu­

fassen. " Mit Berufung auf das Vorbild der Physik beansprucht Marx, ' das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesllschaft ' als ein 'Naturgesetz' darzustellen." (14) Im Vorwort des "Kapital" ist klar ausgeführt: "Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturhistorischen Prozess, den Gesetze lenken, die nicht nur vom Willen, dem

Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt, deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen". (15) Habermas resümiert: "Marx hat die Idee der Wissenschaft vom Menschen nicht entfaltet, er hat sie durch die Gleichsetzung der Kritik mit Naturwissenschaft sogar desavouiert. Der materialistische Szientismus bestä­

tigt nur noch einmal, was der absolute Idealismus bereits vollzogen hat: die Aufhebung der Erkenntnistheorie zugunsten einer von ihren Fesseln gelösten Universalwissenschaft, hier freilich nicht des absoluten Wissens, sondern eines wissenschaftlichen Materialismus." (16) Mit dieser Auffassung von gesellschaftlichen Gesetzen verstellte man sich im

"Realsozialismus" den Blick für die Offenheit gesellschaftlicher Abläufe , für die gesell­

schaftskonstitutiven Aushandlungsprozesse zwischen sozialen Gruppen, für die aus unter­

schiedlichen sozialen und ökonomischen Problemlagen resultierende Variantenvielfalt und Gestaltungsmöglichkeit in wissenschaftlich-technischer Hinsicht. Wissenschafts-, Techno­

logie- und Produktivkraftentwicklung wurden in der Sowjetunion erklärtermaßen unter dem Blickwinkel einer welthistorischen Entwicklungslogik betrachtet. Diesen Blick auf eine quasi naturgesetzliche Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat Y. Elkana bekannt­

lich in eine Beziehung gesetzt zur ästhetischen und erkenntnistheoretischen Spannung zwi­

schen dramatischem und epischem Theater:

"There are two alternative approaches to all history. The one is the perspective of Greek drama, the other is the perspective of the epic theatre.

Since theatre, good theatre, is indeed a mirror of all that there is, an analysis o f these two world views will provide us with two general perspectives o f viewing history...It is an old Western cultural tradition to view the growth of knowledge - knowledge o f all kinds, even scientific knowledge - as the subject of Greek drama: the unfolding of the inevitable...Not so in epic theatre. The idea o f epic theatre was developed independently by Walter Benja­

min and by Bertold Brecht, and its main historical thesis, as formulated by Benjamin, is very simple but in glaring contrast to Greek drama: "It can happen this way, but it can also happen quite a different way"...In epic theatre the only historically meaningful question is:

why did it happem the way it did; could it have happened otherwise? According to this view, science could have been developed differently, other discoveries could have discovered different laws o f nature, there is nothing inevitable in the uniqueness of Western science ; a 'comparative science' between different cultures is meaningful ; lessons can be drawn from history for future use. All in all, this is an optimistic perspective". (17)

Ob das realgesellschaftliche Drama Nukleartechnologie in der UdSSR mit seinem katastro­

phalen Ergebnis Tschernobyl wenigstens zu einer Katarsis beim sowjetischen bzw.

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sowjetischen Betrachter geführt hat, oder anders gesagt, ob und inwieweit das Publikum vom stummen, affizierten, eventuell mitleidenden Betrachter zu einem selbständig handeln­

den Teilnehmer des Stückes geworden ist, soll kurz skizziert werden.

Die Kemkraftentwicklung in der UdSSR, die Schaffung der wissenschaftlichen, technolo­

gischen und industriellen Grundlagen für die Nutzung der Atomenergie vollzogen sich zum Beginn der Perestroika, bis zu Tschernobyl unter szientistisch-technokratischem Vorzei­

chen, unter fast totalem Ausschluß öffentlich-kritischer Reflexion.

Die Ursachen sowohl für den forcierten Ausbau der Kernkraft in der UdSSR ab Mitte der 50er Jahre als auch für die spezifischen institutioneilen Netzwerke für diesen Ausbau sind mit zwei Stichpunkten an dieser Stelle hinreichend benannt:

Erstens sei auf die vom späten Lenin aufgestellte These von der notwendigen Verbindung von Sowjetmacht und Elektrifizierung des Landes hingewiesen . (18) Ab Mitte der 50er Jahre schien die Kernkraft die Energiequelle par excellence zu sein, welche das ambitio­

nierte Industrialisierungsprogramm stützen könnte.

Zweitens sei auf die historische Situation der Ost-West Konfrontation in der Zeit des Kalten Krieges verwiesen, welche unter den gegebenen Machtstrukturen innerhalb der Sowjetge­

sellschaft, der Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens als Folge von Stalinisierung und Zweitem Weltkrieg, zu einem eindeutig militärisch bestimmten und militärisch dominierten Kernkraftprogramm, einschließlich seiner "friedlichen" Komponenten führte. In den 60er und 70er Jahren vollzog sich ein rascher, von militärischen wie energiewirtschaftlichen Erwägungen gleichermaßen getragener Ausbau des sowjetischen kernkrafttechnologischen Potentials. (19) Das betraf sowohl wissenschaftliche Forschungsinstitute, Konstruktions­

büros und Lehreinrichtungen, die industrielle Infrastruktur fuer Reaktorbau, als auch die Etablierung einer begrenzten, esoterischen atomwissenschaftlichen und kernkrafttechnolo­

gischen Öffentlichkeit. (20) Charakteristisch für diesen Zeitabschnitt waren:

Die propagandistische Verkündung weitreichender Kernkraftprogramme, (21) die selektive Information über reaktortechnologische Prinziplösungen und deren möglicher Schwachstellen, (22) die offizielle Nichtdarstellung der sensitiven Fragen des nuklearen Brennstoffzyklus einschließlich Wiederaufarbeitungs- und Endlagerungsverfahren , (23) das Fehlen rechtlicher Genehmigungsverfahren für den Bau und den Betrieb von Nuklear­

anlagen , (24) die Leugnung von schwerwiegenden sicherheitstechnischen Problemen oder Unfällen in Anlagen des Kemkraftbereiches. (25)

Ab Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gibt es Anzeichen einer verstärkten wissen- schaftsintemen sowie wissenschafts- und technologiepolitischen Diskussion um Grundfra­

gen der weiteren Ausgestaltung des zivilen Nuklearkomplexes. (26) Dies koinzidiert mit einem weitgesteckten Programm des kemkraftenergetischen Ausbaus in den COMECON Staaten , einschließlich einer weitgefächerten Arbeitsteilung bei der Herstellung atomtechni­

scher Anlagen und Komponenten.

Signifikanter Ausdruck für die intensivierte kemkraftpolitische Debatte zu jener Zeit sind Grundsatzartikel der Kernphysiker Dolleshal und Korjakin in der Zeitschrift "Kommunist"

sowie öffentliche Stellungnahmen des sowjetischen Nobelpreisträgers und Akademiemit­

glieds P.A. Kapitza zu sicherheitstechnischen Aspekten von Kernkraftwerken und mögli­

chen energiepolitischen Alternativen. (27)

Der Unfall von Tschernobyl markiert den Beginn der eigentlichen, von einer breiter w er­

denden Öffentlichkeit getragenen innersowjetischen kemkraftpolitischen Sachdiskussion.

Zunächst gilt es jedoch hervorzuheben, daß der Unfall als solcher das weitgehend blinde, auf Unwissenheit beruhende Vertrauen der Bevölkerung in die Kernkraft sowie die weitver­

breitete Ignoranz gegenüber dem Gefahrenpotential KKW nachhaltig erschüttert hat. (28) Daß die Tschernobyl -Katastrophe zum auslösenden Moment einer öffentlichen kernkraft­

politischen Diskussion und zum Beginn einer Antikernkraftbewegung in der Sowjetunion wurde, liegt indes nicht im Unfall per se und auch nicht in der Größenordnung des Disasters. Bekanntlich waren die Unfälle im Ural in den 50er Jahren, die Verstrahlungen auf den Testgelaenden in Kasachstan und auf Nowaja Zemlja in ihre Auswirkungen durchaus vergleichbar mit Tschernobyl.

Vor allem zwei Gruende lassen sich erkennen, die die gesellschaftspolitischen Konsequen­

zen von Tschernobyl plausibel machen: Zum einen die Tatsache, daß durch den nuklearen Fallout ausländisches Territorium betroffen war, was zu internationalen Reaktionen führte.

Diese machte die bis dahin übliche Politik des Verschweigens und Ableugnens unmöglich.

(29) Zum anderen der Umstand, daß mit Perestroika und Glasnost' eine Innenpolitik einge­

leitet wurde, die auf mehr Transparenz und mehr Bürgerbeteiligung abzielte. (30) Die ersten unmittelbaren Reaktionen der sowjetischen Behörden und Medien auf Tschernobyl waren freilich nicht dazu angetan, das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit von Glasnost' zu stärken.

Das sollte sich in der Folgezeit umso stärker als Legitimitätskrise der sowjetstaatlichen Instanzen niederschlagen.

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Indes gilt es zu vermerken, daß die auf Außenwirkung bedachte Politik Gorbatschews im Hinblick auf den Umgang mit den Tschemobylfolgen zumindest zweierlei bewirkte: Erstens die Akzeptanz internationaler Hilfe, vor allem im medizinischen und medizintechnischen Bereich; (31) Zweitens die internationale Diskussion der Ursachen fuer die Katastrophe sowie der technisch-konstruktiven Besonderheiten des RBMK Reaktors, basierend auf einem detaillierten Bericht an die Internationale Atomenergiekommission in Wien. (32) Die interne Berichterstattung über Ursachen und Folgen des Atomunglücks in Tschernobyl sowie über Rettungs-, Rehabilitations- und Rekultivierungsmaßnahmen in den UdSSR- Medien folgte in den Jahren 1986/87 dem gewohnten sowjetischen Schema: Heldenhafte, aufopferungsvolle Arbeit der Rettungsmannschaften, kluge und umsichtige Leitung durch Partei- und staatliche Behörden, harte, aber gerechte Bestrafung der Schuldigen. (33) Erst in den Jahren 1988/89, im Zuge des sich durchsetzenden parteipolitischen Pluralismus sowie der verschärften Auseinandersetzungen innerhalb der KPdSU über Reformziele und -wege nach der 19. Parteikonferenz, beginnen in Presse und Fernsehen Materialien zu erscheinen, die im Stil eines Recherchejoumalismus tiefer loten und kritische Fragen sowohl nach kon­

struktiven Fehlem im RBMK Reaktor als auch nach administrativen und politischen Schwachstellen im sowjetischen Atomsystem als Ganzem stellen. (34) Im Verlaufe der Zurückdrängung des Parteieinflusses auf die Medien wurde eine freie und unzensierte Berichterstattung sowohl über den Fall Tschernobyl als auch über generelle Belange des zivilen und militärischen Atomprogramms möglich. (35) Eine besondere Rolle bei der Auf­

arbeitung der Tschernobyl-Tragödie spielten Vertreter der künstlerischen Intelligenz:

Schriftsteller, Filmemacher, Poeten. (36) Ihre Arbeiten ersetzten in gewissem Maße das Fehlen einer freien Presse, ihre Aktivitäten dienten teilweise als Kristallisationspunkte umweltpolitischen und kemkraftkritischen Engagements. (37) Dies war in allen ehemaligen staatssozialistischen Gesellschaften Osteuropas zu beobachten; für die DDR siehe Christa Wolf. (38)

In den Jahren 1988/89 bildeten sich Umweltschutz-, Antikernkraft- und Anti-Atomtest­

gruppen vor allem in den betroffenen Regionen der Ukraine, Rußlands, Kasachstans, sowie im Baltikum. (39) Der politische Forderungskatalog dieser Gruppen und Bewegungen zeigte, daß es nicht nur und nicht in erster Linie um technologie- und umweltpolitische Fra­

gen ging, sondern daß die Antikernkrafthaltung als ein Mobilisierungsmittel gegen die noch bestehenden, ihre Legitimation verlierenden sowjetstaatlichen Instanzen, für politischen Pluralismus und nationale Unabhängigkeit auftrat. Nach Erlangung der staatlichen Unab­

hängigkeit haben die gewählten Republiksparlamente in der Ukraine, in Belorußland und Kasachstan Gesetzesvorlagen verabschiedet, in denen Maßnahmen zur Beseitigung der

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Tschemobylfolgen oder zur Schließung des Testgeländes Semipalatinsk festgelegt wurden.

(40) Die weitere Entwicklung in diesen Republiken wird zeigen, welchen kemkraftpoliti- schen Entwicklungspfaden ihre Regierungen und Parlamente folgen werden. Von besonde­

rem Interesse sind die Entscheidungen in der Republik Rußland und in der Ukraine, da diese Staaten nicht nur über bedeutende kemkrafttechnische Forschungs- und Entwicklungs­

kapazitäten verfügen, sondern auch einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Stromerzeugung

kapazitäten verfügen, sondern auch einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Stromerzeugung