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er Patient in der Klinik war 90 Jahre alt, nach einem Schlag- anfall halbseitig gelähmt, kaum ansprechbar. Die Ärzte wollten ihm eine PEG-Sonde legen, bevor er ins Pflegeheim zurückverlegt wurde. Doch als die Angehörigen sich deshalb mit dem Hausarzt besprachen, kam Wi- derspruch: Dieser kannte seinen Pa- tienten seit Jahren, wusste von ver- schiedenen Vorerkrankungen und war sich sicher, dass eine Lebensverlänge- rung durch eine PEG-Sonde nicht dem Willen des 90-Jährigen entsprochen hätte.Der Fall wurde deshalb im Rahmen einer klinischen Ethikberatung mit al- len Beteiligten erörtert, einschließlich des Hausarztes und einer Vertretung des Pflegeheims, erinnert sich Prof. Dr.
med. Dr. phil. Jochen Vollmann. Der Di- rektor des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum beriet da- mals das Team. Am Ende wurde einver- nehmlich entschieden, den Patienten ohne Sonde ins Heim zurückzuverlegen und ihn dort von seinem Hausarzt be- treuen zu lassen. Er starb nach kurzer Zeit.
Kein Einzelfall, aber auch kein einfacher Fall – und in immer mehr Krankenhäusern mittlerweile Anlass, ei- ne klinische Ethikbe- ratung in einem multi- professionellen Team anzusetzen. Nach An- gaben von Prof. Dr.
med. Dr. phil. Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medi- zin der Universität Tü- bingen und Vorsitzen- der der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekam- mer (BÄK), bieten dies
in Deutschland mittlerweile rund 200 der 2 200 Krankenhäuser an. Standards oder Empfehlungen für die Einrichtung solcher Institutionen fehlten allerdings.
Deshalb hat die Zentrale Ethikkom- mission vor kurzem eine Stellungnah- me dazu verfasst, die Vollmann und Wiesing am 13. Juni in Berlin vorstell- ten (Dokumentation in DÄ, Heft 24, Bekanntgaben). Die Zentrale Ethik-
kommission hofft, auf diese Weise „zu informieren, Probleme zu benennen und Fehlentwicklungen zu vermeiden“.
Die Stellungnahme ist zugleich ein Auf- ruf: Weitere Gründungen entsprechen- der Komitees in den Kliniken seien ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Patientenversorgung, erklärt Wiesing.
„Ethische Sensibilisierung sowie Argu- mentations- und Entscheidungskompe- tenz können verbessert und ärztliche Entscheidungen transparenter gemacht werden.“
Beide Mitglieder der Zentralen Ethikkommission der BÄK betonen aber zugleich, die Beratung solle nicht die persönliche Arzt-Patient-Beziehung stören. Sie ersetzt auch nicht die eigen- verantwortliche Entscheidung über Behandlung und Pflege kranker Men- schen. Sie soll aber allen Mitarbeitern im Krankenhaus als Unterstützung dienen, die in einem konkreten Be- handlungsfall vor ein ethisches Pro- blem gestellt sind. Am besten sei es, wenn un- terschiedliche Berufs- gruppen wie Hierar- chieebenen vertreten seien, stellt Wiesing klar. Dass es Wider- stände gegen klinische Ethikberatungen gibt, ist ihm bekannt: Nicht jeder Chefarzt ist er- freut, wenn jemand aus dem Team dies vor- schlägt und damit zu- gleich stationsinterne Vorgänge transparent machen möchte.
Nach Wiesings Er- fahrungen umfassen die meisten Beratun- gen Fragen der Thera- piebegrenzung, gefolgt von Fragen zu Spätabtreibungen. Auch Konflikte durch sehr hohe Therapiekosten sind schon in Ethikberatungen thematisiert worden: „Wir haben Anfragen, bei denen finanzielle Fragen eine Rolle spielen“, sagt Wiesing. Vollmann ist überzeugt, dass diese zunehmen werden: „Die öko- nomische Begrenzung wird zu Wertfra- gen führen.“ Sabine Rieser
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A1718 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 25⏐⏐23. Juni 2006
Ethikberatung in der klinischen Medizin
Gemeinsame Wegsuche in Grenzbereichen
Die Zahl der Krankenhäuser wächst, die für schwierige Entscheidungen spezielle Beratungen anbieten. Nun hat die Bundesärztekammer dazu eine Stellungnahme veröffentlicht.
Ethikberatung: ein Fall für multiprofessionel- le Teams, besetzt quer durch alle Berufe und Hierarchieebenen.
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Prof. Urban Wiesing: Es gibt schon zahlreiche Formen der klinischen Ethikberatung, aber es fehlte noch weitgehend an Standards.
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