AKTUELLE MEDIZIN
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Maria-Luise Leister, Benno Stinner
und Friedhelm Heß
Lokale Radiatio
als Palliativmaßnahme beim inoperablen
Ösophaguskarzinom
Bei Patienten mit einem inoperablen Ösophaguskarzinom steht, be- dingt durch die kurze Überlebenszeit, eine symptomorientierte, wenig invasive komplikationsarme Therapie im Vordergrund. Mit dem hier vorgestellten Behandlungskonzept für eine palliative Therapie dyspha- gischer Beschwerden bei stenosierenden, fortgeschrittenen Ösopha- guskarzinomen werden formal die wesentlichen Anforderungen für ein solches Regime beim präfinalen Patienten erfüllt: Die Belastung pro Behandlung ist gering, die Hospitalisierungszeit kurz, und die Erfolgs- quote nach subjektiven Angaben des Patienten liegt immerhin bei über siebzig Prozent.
B
ei den Ösophaguskarzi- nomen handelt es sich in den meisten Fällen um verhornende oder nicht verhornende Platten- epithelkarzinome (über 90 Prozent), seltener auch um die im distalen An- teil gelegenen Adenokarzinome mit muköser und auch submuköser Aus- breitung und frühzeitiger lymphoge- ner und hämatogener Metastasie- rung (Lunge, Leber, Knochen). Man unterscheidet drei verschiedene pa- thologisch-anatomische Formen, die vom Ausmaß der Tumorproliferati- on und der Reaktion des Stromas ab- hängig sind:1. Das polypöse, blumenkohlar- tig wachsende Karzinom führt durch sein exophytisches Wachstum bereits frühzeitig zu Stenoseerscheinungen;
2. das schüsselförmig ulzierende oder medulläre Karzinom umgreift gürtelförmig den gesamten Osopha- gus. Während im Zentrum ein ge- schwüriger Zerfall entsteht, kommt es am Geschwulstrand zu wallartiger Vorwölbung in das Lumen und da- mit zur Stenose;
3. das diffus infiltrierende oder szirrhöse Karzinom wächst vorwie- gend submukös und führt durch sei- ne frühzeitige Wandstarre schnell zu einer hochgradigen Stenose (6).
Männer erkranken etwa zehn- mal häufiger als Frauen, mit Manife- station um das 50. Lebensjahr (8).
Prädisponierende Faktoren stellen chemische und physikalische Noxen wie Laugenverätzung, Strikturen, Al- kohol, Nikotin und der Genuß von heißen Speisen dar (11). Leitsym- ptom ist die kurzfristig zunehmende Dysphagie, die zunächst feste Spei- sen, später auch breiige und flüssige Kost betrifft, verbunden mit rascher Gewichtsabnahme. Fehlende Übel- keit und nahezu völlige Schmerzfrei- heit führen den Patienten meist erst im fortgeschrittenen Tumorstadium zum Arzt und zur Behandlung. Die Diagnose wird aufgrund der klini- schen Symptomatik, röntgenologi- scher Verfahren (Osophagogramm) und der Endoskopie gestellt und durch endoskopisch gewonnene ge- zielte Biopsien gesichert.
Für die Operabilität ist die Tu- morlängsausdehnung, der Tumor- durchmesser, das lokale Tumorstadi- Medizinisches Zentrum für Radiologie Abteilung für Strahlentherapie
(Leiter: Prof. Dr. med. Friedhelm ließ);
Medizinisches Zentrum für Operative Medizin I (Leiter: Prof. Dr. med.
Matthias Rothmund)
Philipps-Universität Marburg/Lahn
um und das Vorhandensein von Fernmetastasen (meist in Lunge, Le- ber oder Knochen) von Bedeutung.
Operativ unter kurativen Gesichts- punkten angehbar sind nur die Öso- phaguskarzinome, die auf die Schleimhaut begrenzt sind, ohne Or- ganüberschreitung und ohne Lymph- knotenbefall.
Fast 80 Prozent der diagnosti- zierten Ösophaguskarzinome sind al- lerdings fortgeschritten mit Lymph- knoten- und/oder Fernmetastasen (7), so daß als Therapie im allgemei- nen nur noch palliative Maßnahmen infrage kommen Diese sind indi- ziert, wenn durch ein ausführliches Tumorstaging (Röntgenthorax in zwei Ebenen, CT-Thorax, CT-Abdo- men, Ultraschall-Abdomen, Bron- choskopie) (5) und eine präoperative Risikoabschätzung (Lungen- und Leberfunktion) sicher Inoperabilität gegeben ist (2).
Bedingt durch die zu erwartende kurze Überlebenszeit von nur weni- gen Monaten bei inoperablen Öso- phaguskarzinomen steht eine sym- ptomorientierte, komplikationsarme Therapie im Vordergrund, die das
Hauptsymptom des Osophaguskarzi-
noms, die Schluckbeschwerden, be- heben soll. Als Palliativtherapie kommen die Tubusimplantation, die Dt. Ärztebl. 88, Heft 8, 21. Februar 1991 (39) A-551
Abbildung 1: Röntgendokumentationsaufnahme zur Lagekontrolle des Applikators
Abbildung 2: 40jähriger Patient mit einem ossär metastasierenden, nicht verhomenden, zirkulär stenosierenden Plattenepithelkarzinom im mittleren Drittel mit ausgeprägter Dysphagie; Röntgenbefund vor intraluminaler Radiatio
Laserkarbonisation und die im fol- genden vorgestellte intraluminale, lokale Radiotherapie infrage.
Das Therapieziel dieser Strah- lentherapie ist ausschließlich die Verbesserung der Schluckfähigkeit, um die Überlebenszeit möglichst be- schwerdefrei zu gestalten.
Methode der
lokalen Radiotherapie Unter palliativen Gesichtspunk- ten wurden in unserer Klinik in Zu- sammenarbeit mit der Chirurgischen Klinik alternativ zur Tubusimplanta- tion und der Laserkarbonisation 22 Patienten mit einem histologisch ge- sicherten, lokal fortgeschrittenen oder metastasierenden Osophagus- karzinom der endoösophagealen Ra- diotherapie zugeführt. Endoskopi- sche Maßnahmen wie Laserkarboni- sation und Bougierung erfolgten grundsätzlich nur dann, wenn für die Positionierung des 8 mm dicken Strahlenapplikators eine Lumen- weitung des Osophagus notwendig wurde.
Nach einer sedierenden Präme- dikation mit 5 bis 15 ml Dormicum i.v. erfolgte zunächst eine orientie- rende Endoskopie zur Sicherstellung eines ausreichenden Restlumens für die Einlage des Applikators. Vor Po- sitionierung des blind endenden Ap- plikators wurde die makroskopisch sichtbare Tumorausdehnung mit dem Endoskop festgelegt und per Durchleuchtung mit einem Sicher- heitsabstand von 1 cm proximal und distal des Tumors auf die Haut mar- kiert (Abbildung 1). Die Einführung des Applikators erfolgt über einen zuvor in das Restlumen eingelegten Führungsdraht. Abschließend wird
die Lage des Applikators nach Be- schickung mit inaktiven Markerpel- lets radiologisch dokumentiert. Nach Verlegung des Patienten in den Strahlenschutzbereich werden die aktiven Pellets „ferngesteuert" in den liegenden Applikator einge- bracht. Die Überwachung des Pa- tienten während der einstündigen Bestrahlungszeit erfolgt über einen Monitor. Nach Bestrahlungsende wird der Patient zur Beobachtung für eine Nacht hospitalisiert.
Als Strahler verwenden wir 137-Cäsium. In einer Sitzung appli- zieren wir 10 Gy, bezogen auf 5 mm Herdtiefe. Mit diesem Verfahren
Tabelle 1: Subjektives Dysphagieempfinden und endoskopischer Ste- nosegrad (n = 32)
endoskopischer Dysphagie vorher
Stenosegrad leicht mäßig schwer
Bougierung 2 4
eben passierbar 2 9 4
gut passierbar 4 5 1
polypös 1
A-554 (42) Dt. Ärztebl. 88, Heft 8, 21. Februar 1991
Abbildung 3: dersel- be Patient wie in Ab- bildung 2: Röntgen- befund nach intralu- minaler Radiatio mit
10 Gy; Beseitigung der Dysphagie mit verbesserter röntge- nologischer KM-Pas- sage und Öffnung der Stenose
11 9 12
32
Tabelle 2: Abhängigkeit des Behandlungserfolges von der vorange- gangenen Dysphagie (n = 32)
Dysphagie vor der Behandlung
Zustand nach der Behandlung unverändert etwas besser viel besser leicht: 6
mäßig: 17 schwer: 9
2 8 1 2
6 1
2 3 7
Abbildung 4: 74jähri- ger Patient mit einem metastasierenden, verhornenden, zirku- lär stenosierenden, ulzerierenden Plat- tenepithelkarzinom im oberen Ösopha- gusclrittel; Röntgen- befund vor lokaler Radiatio
können Tumoren bis zu einer Ge- samtlänge von 15 cm bestrahlt wer- den. Der Vorteil dieser Bestrah- lungstechnik liegt in dem steilen Do- sisabfall mit weitgehender Schonung kritischer Organe wie Lunge und Rückenmark (3), so daß auch perku- tan vorbehandelte Patienten bei ei- nem Rezidiv noch intraluminal be- handelt werden können. Der gesam- te Behandlungsablauf kann mit der entsprechenden Prämedikation in seiner Belastung wie eine konventio- nelle Gastroskopie eingestuft wer- den.
Ergebnisse
Insgesamt wurden bisher 32 in- traluminale Bestrahlungen bei 22 Patienten mit einem fortgeschritte- nen Ösophaguskarzinom und dys- phagischen Beschwerden durchge- führt. Sieben Patienten wurden zwei- mal, drei Patienten dreimal jeweils beim Wiederauftreten von Schluck- beschwerden behandelt. Der Alters- median betrug 68 Jahre (43 bis 86 Jahre). Bei zwei Patienten lag ein Rezidiv nach Voroperation (Zustand nach Magenhochzug beziehungswei- se nach Koloninterposition) und bei zwei Patienten ein Rezidiv nach zu- vor erfolgter perkutaner Radiatio
vor. Eine akute Komplikation wäh- rend der lokalen Bestrahlung wie Aspiration, Blutung oder Perforati- on trat bei keinem der von uns be- handelten Patienten auf. Die Abbil- dungen 2 bis 5 zeigen Röntgenbefun- de vor und nach intraluminaler be- ziehungsweise lokaler Radiatio bei einem 40jährigen und einem 74jähri- gen Patienten.
Bei zwei Patienten sahen wir nach zirka drei Wochen bei den Nachuntersuchungen im Ösopha- gogramm jeweils eine ösophagotra- cheale beziehungsweise zwei blind endende Fisteln, die klinisch blande verliefen. Es kann sich bei dieser Fi- stelbildung sowohl um eine Bestrah- lungsfolge, als auch um eine lokale Tumorprogression gehandelt haben.
Nach der Behandlung und bei
den Therapiekontrollen nach Be- strahlung wurden die Patienten über die subjektive Beeinträchtigung und Dt. Ärztebl. 88, Heft 8, 21. Februar 1991 (43) A-555
11 12
9 32
Tabelle 3: Abhängigkeit des Behandlungserfolges von der Histologie Dysphagie nach der Behandlung unverändert etwas besser viel besser Histologie
verhornendes
Plattenepithel: 10 nicht verhornendes PE: 16 Adenokarzinom: 5 undifferenziert: 1
7 5
3 4 3 1 7
2
11 32 12
Tabelle 4: Abhängigkeit des Behandlungserfolges von der Lokali- sation
Lokalisation Dysphagie nach der Behandlung unverändert etwas besser viel besser oberes Drittel: 9
mittleres Drittel: 10 unteres Drittel: 13
Cardia: 1
2 3 7
1 6 4 4
1 3 1 den eigenen Eindruck über die Ent- wicklung der Schluckfähigkeit be- fragt. Die Schluckfähigkeit wurde von den Patienten selber „unverän- dert", „etwas besser" und „viel bes- ser" eingestuft. Nach dieser Klassifi- kation konnte ein Behandlungserfolg bei 23 Bestrahlungen erzielt werden ( = 72 Prozent).
Auffallend war aber eine Dis- krepanz zwischen den subjektiven Angaben des Patienten und den ob- jektivierbaren Parametern der Endo- skopie oder des Ösophagogramms, die innerhalb von vier Wochen nach Radiatio erfolgten. Eine deutliche Lumenweitung im Osophagogramm beziehungsweise in der Endoskopie zeigte sich nur bei zwei Patienten.
Tabelle 1 zeigt, daß das subjektive Dysphagieempfinden des Patienten und der endoskopische Stenosie- rungsgrad nur einen losen Zusam- menhang haben: Bei zwei Patienten, die eine leichte Dysphagie vor Be- handlung angaben, war die Osopha- gusstenose mit dem Endoskop eben passierbar. Im Gegensatz dazu war bei einem anderen Patienten mit ei- ner subjektiv schweren Störung der
Abbildung 5: dersel- be Patient wie in Ab- bildung 4: Röntgen- befund nach lokaler Radiatio mit 10 Gy;
Verbesserung der Dysphagie mit rönt- genologisch nach- weisbar besserer KM-Passage sowie Aufweitung der be- stehenden Stenose
Schluckfähigkeit die Stenose mit dem Endoskop frei passierbar.
Eine objektive Bewertung des Therapieerfolges nach Angaben des Patienten ist somit schwierig, da die- se in dem fortgeschrittenen Stadium ihrer Erkrankung oft Schwierigkei-
ten haben, selbst in den hier angege- benen einfachen Kategorien mehr oder minder exakte Angaben über ihre Schluckfähigkeit zu machen.
Aus Tabelle 2 ist ersichtlich, daß eine eindeutige Prognose des Therapieer- folges aus dem bevorstehenden Ste- nosegrad nicht möglich ist.
Hinsichtlich der Histologie zeigt sich, daß verhornende Plattenepi- thelkarzinome etwas strahlensensi- bler sind als nicht verhornende oder Adenokarzinome (Tabelle 3). Tumo- ren im distalen Osophagus waren therapieempfindlicher, unabhängig von der Histologie, als Tumoren im oberen Drittel, dies ist in Tabelle 4 zusammengefaßt. Die dysphagiefreie Zeit beträgt bei unserem Patienten- gut nach Bestrahlung 6,5 Wochen (1 bis 40 Wochen).
Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Friedhelm Heß ehem. Leiter der Abteilung für Strahlentherapie am Klinikum der Philipps-Universität Baldingerstraße
W-3550 Marburg/Lahn A-556 (44) Dt. Ärztebl. 88, Heft 8, 21. Februar 1991