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Archiv "Emigration: Von Moskau nach New York — Gespräch mit einem aus der Sowjetunion ausgewanderten Arzt und Hochschullehrer" (19.04.1979)

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Obwohl er als Akademiker Erfolg hatte, vertauschten Dr. Vladimir Golyakhovsky und seine Frau Irina die Sowjetunion mit einer unsiche- ren Zukunft in den Vereinigten Staa- ten. In Rußland erfand Dr. Golya- khovsky einige orthopädische Pro- thesen, aber die Patente werden von der russischen Regierung gehalten.

Ein amerikanischer Arzt, nach Ruß- land verpflanzt, würde weniger ver- dienen als ein Busfahrer, weniger respektiert als ein gut ausgebildeter Facharbeiter, und er sähe sich einer 4:1-Überzahl weiblicher Kollegen gegenüber. Er würde schnell lernen, daß in Rußland der Weg zur medizi- nischen Karriere, sei es in Praxis, Forschung oder Lehre, durch gute Taten in der kommunistischen Par- tei geebnet werden muß — und viel- leicht durch die Bestechung von Parteifunktionären. Er würde in ei- nem System arbeiten, das wenig Wert auf den Gesundheitsdienst legt, mit Einrichtungen und Ausstat- tungen, die hinter dem westlichen Standard dreißig bis fünfzig Jahre herhinken, und mit zentralisierten und von oben durch autoritäre

„Kochbuchrichtlinien" kontrollier- ten Handlungsabläufen. Er würde lernen, daß, obwohl die medizini- sche Versorgung offiziell „umsonst"

ist, die Menschen in der Praxis auf verschiedene Weise zahlen müssen;

daß, obwohl die medizinische Ver- sorgung offiziell für alle gleich ist, in der Praxis das Niveau der Versor-

gung streng nach Parteihierarchie

gestaffelt ist. Er würde lernen, sein mageres Einkommen aufzubessern, indem er Bezahlung, oft Beste- chungsgelder, von Patienten annäh- me. Offiziell wird dies mit Gefängnis bestraft, inoffiziell ist es ein „way of life".

Dies ist das von Dr. Vladimir Golya- khovsky entworfene Protrait der rus- sischen Medizin. Anfang des Jahres 1978 verzichtete er auf seine russi- sche Staatsbürgerschaft und lebt nun mit seiner Familie in New York.

Der Wiederanfang

Dr. Golyakhovsky, 48, hat, wie sein Vater vor ihm, sein Leben mit der Arbeit im sowjetischen Gesund- heitssystem verbracht. Seine Frau Irina, 42, die als Biologin ausgebil- det ist, arbeitete in der Immunolo- gieforschung. Sie verließen die So- wjetunion, sagt er, „damit wir end- lich die Freiheit hatten, wir selbst zu sein, zu sagen, was wir denken".

Die Golyakhovskys leben heute mit ihrem Sohn Vladimir Jr., 20, in einem verblichenen Haus im westlichen Manhattan. Der Arzt lernt für die Prüfungen, die für ausländische Me- diziner angeboten werden, und hofft

„vielleicht diesen Januar, sicherlich im nächsten Juli" zu bestehen (Eng- lisch ist seine größte Hürde); seine Frau, die fließend Englisch spricht, plant eine Ausbildung als Radiolo- gin. Vladimir Jr., Medizinstudent in Moskau, fängt hier mit den vormedi- tionen aneinander anzugleichen.

Zur Zeit schwankt der Beitrag der Krankenversicherung zu den Krankenhauskosten in den einzel- nen Kantonen zwischen 20 und 90 Prozent der Betriebsaufwendun- gen; im Laufe von zehn Jahren will man auf 40 bis 50 Prozent kom- men. 15 Prozent der Aufenthalts- kosten soll der Versicherte selbst tragen, wofür allerdings die Mög- lichkeit von Zusatzversicherungen gegeben ist. Die Krankenhäuser sollen verpflichtet werden, eine Kostenstellenrechnung einzufüh- ren.

Die Verbindung der Schweizer Ärzte ist im großen und ganzen mit der Tendenz des Entwurfes einver- standen, zumal das gegenwärtige freiheitliche Arztsystem erhalten bleibt. Der Entwurf sieht auch die Einführung einer obligatorischen Krankengeldversicherung für Ar- beitnehmer vor, die von den Ge- werkschaften schon seit langem gefordert wird. Im Hinblick darauf, daß die Ärzte als „Verschreiber"

der Arbeitsunfähigkeit davon be- troffen sind, ist die Verbindung der Schweizer Ärzte der Meinung, eine arbeitsvertragliche Regelung der Krankengeldzahlung sei einer so- zialversicherungsrechtlichen Lö- sung vorzuziehen; gegen die Ko- sten einer tariflichen Lohnfortzah- lungspflicht könnten sich die Ar- beitgeber dann versichern. bt

VEREINIGTE STAATEN

Zwei Sorten Blut

Seit vergangenem Sommer ist in den Vereinigten Staaten vorge- schrieben, daß auf Blutkonserven angegeben sein muß, ob das Blut von einem freiwilligen oder von einem bezahlten Blutspender stammt. Die Food and Drug Admi- nistration begründet diese Kenn- zeichnung damit, daß so die Ab- schätzung des Risikos erleichtert werde; nach ihrer Auffassung ist das Risiko einer Hepatitis-Übertra- gung durch Bluttransfusion bei Blut, das von bezahlten Spendern stammt, größer. bt

Emigration:

Von Moskau nach New York

Gespräch mit einem aus der Sowjetunion ausgewanderten Arzt und Hochschullehrer

Im April 1978 ist der sowjetische Orthopäde und Traumatologe Prof.

Vladimir Golyakhovsky mit seiner Familie in die USA emigriert. Die Zeitung der amerikanischen Ärzteorganisation, American Medical News, veröffentlichte ein Interview mit dem Emigranten und seiner Ehefrau, das hier vollständig und in einer den amerikanischen Inter- view-Stil weitgehend beibehaltenden Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von American Medical News abgedruckt ist.

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Emigration: Von Moskau nach New York

zinischen Studien an. Ein paar Blocks weiter leben die 78jährigen Eltern von Dr. Golyakhovsky.

Er war ordentlicher Professor für orthopädische Chirurgie an einer der großen Moskauer medizinischen Hochschulen und sagt: „Wegen meiner Position in Rußland sagte man mir, daß ich vielleicht schon wieder meinen Beruf ausüben kann, nachdem ich das ECFMG-Examen bestanden und nur zwei (anstatt fünf) Jahre hier ansässig war. In der Zwischenzeit müssen meine Eltern und wir mit Lebensmittelmarken und der Wohlfahrt durchkommen."

Die Wohnung ist nur spärlich mö- bliert, aber Dr. Golyakhovsky zeigt stolz die Andenken an seine Arbeit in Rußland: Photos von ihm selbst bei Vorlesungen für Studenten und Kollegen, von den Patenten seiner 16 Erfindungen orthopädischer Pro- thesen (drei davon sind in Großbri- tannien, Italien und den USA paten- tiert), von seinen Artikeln und Bü- chern (er schrieb 100 wissenschaftli- che Artikel, 20 populärwissenschaft- liche Artikel und zehn wissenschaft- liche Bücher) und von seinen Bü- chern mit Kindergedichten (er war Mitglied des Verbandes sowjeti- scher Schriftsteller). Er zeigt auf ei- nen Stapel von handgeschriebenen russischen Manuskripten: „Alles, was ich Ihnen erzählen werde, ist in meinen Schriften dokumentiert. Je- den Tag schrieb ich Daten, Namen, Orte auf."

Ehefrau Irina fügt hinzu: „Er war ein außergewöhnlicher Fall. Er war kein Parteimitglied, wurde jedoch zum Chef des Lehrstuhls für Traumatolo- gie, Orthopädie und Feldchirurgie am Moskauer medizinischen und stomatologischen Institut berufen (normalerweise bekannt unter dem Namen Dritte Moskauer Medizini- sche Hochschule). Von den 52 Lehr- stühlen dieses Institutes wurden nur zwei von Nicht-Parteimitgliedern eingenommen."

Dr. Golyakhovsky sagt: „Alle waren schockiert, als ich 1971 als Chef an- gestellt wurde, aber man berief mich entsprechend den Wettbewerbser-

gebnissen. Meine Erfindungen und Schriften spielten dabei eine große Rolle." Fünf Jahre später wurde er des Amtes enthoben, „weil ich die Interessen der Medizin über die In- teressen der Partei stellte. Ich wurde beschuldigt, westlich orientiert zu sein".

Dr. Golyakhovsky ist ein extrover- tierter, redegewandter Mann, und er hat viel zu sagen. Er ist frustriert von seinem Unvermögen, englisch zu sprechen. Aber er hört stundenlang den Fragen zu, die seine Frau für ihn übersetzt und antwortet dann ihr, damit sie dem Reporter die Antwort übertragen kann. Wir können nur die Oberfläche streifen, gibt er zu:

„Weil das, was ich hier habe, ein Buch ist, aber ich will, daß das ame- rikanische Volk den wahren Zustand der sowjetischen Medizin versteht."

Irina, Vladimir Jr. und Vladimir fan- gen in einem fremden Land neu an, aber zunächst wollen sie festhalten, was vorher war. Irina greift häufig zum Lexikon, um die Wörter, die sie sucht, zu finden. Ihre Gastfreund- schaft ist reizend, doch einmal muß Vladimir sie berichtigen, da sie Salz

— nicht Zucker — für den Kaffee ge- bracht hat.

Dies ist ihre Geschichte unter dem russischen Gesundheitssystem:

Medizinische Ausbildung

Dr. Golyakhovsky zeigt ein dickes russisches Buch. „Dieses Buch ord- net an, wie russische medizinische Hochschulen zu laufen haben", sagt er. „Es ist alles - genau aufgeteilt — so viele Stunden für Mikrobiologie, so viele Stunden für Biochemie usw. Es wird alles von der Partei kontrolliert, und Abweichungen sind nicht er- laubt." Irina deutet auf die Rückseite des Buches und zeigt, daß es zwei Hauptphasen des Curriculums gibt.

„Phase 1", bemerkt sie, „ist das Stu- dium des Marxismus-Leninismus."

„Die Partei hat Inspektoren, um den Unterricht zu unterstützen." Gibt es im Gesundheitswesen auch an an- deren Stellen Inspektionen, fragt man sie. „Die Inspektionen", sagt sie, „sind allgegenwärtig."

„An den russischen medizinischen Hochschulen", sagt Dr. Golyakhov- sky, „wird ein Drittel der Zeit damit verbracht, Parteigeschichte und -philosophie zu lehren. Das erste Examen, das ein Schüler der medizi- nischen Hochschule bestehen muß, ist das Examen in Parteigeschichte und -philosophie. Fast alle Schüler bestehen das Abschlußexamen", sagt Dr. Golyakhovsky, „da ihre Aus- bildung vom Staat finanziert wurde.

Wenn sie durchfielen, wäre das eine Niederlage für die Partei. Die ein oder zwei, die jedes Mal durchfallen, tun dies aus nicht-akademischen Gründen — wie Ärger mit der Partei."

Die Drittel-Verpflichtung des Curri- culums für Parteiunterricht reprä- sentiert nur die formelle, strukturier- te Zeit. Es gibt auch informelle Vor- lesungen. „Oft", sagt Dr. Golya- khovsky, „mußte ich eine eingeplan- te morgendliche Operation absagen, da meine Operationsassistenten Parteiversammlungen beiwohnen mußten. Einmal schrieb ich an die Funktionäre, daß die Operationen wichtiger seien als die Versammlun- gen. Die Versammlungen wurden weiter abgehalten, die Operation wartete."

Die Zulassung zur medizinischen Hochschule, so sagt Dr. Golya- khovsky, sei für die Kinder von Par- teimitgliedern, Regierungsbeamten und Angestellten der medizinischen Hochschulen und der Forschung leichter. Und für die, die Bestechun- gen zahlten. „Jedes Jahr", sagt der ex-russische Arzt, „fängt der Direk- tor mit einer Liste der Namen derer, die zugelassen werden müssen, an den Kindern von hohen Parteifunk- tionären."

„Die Zahlung von Bestechungsgel- dern für die Zulassung ist nicht un- gewöhnlich. In einigen Städten im Gebiet von Georgien ist sie sogar die Regel. Vor einigen Jahren gab es einen großen Skandal, als man ei- nen georgischen Beamten ins Ge- fängnis steckte, der fünf Millionen Rubel beiseite gebracht hatte durch die Annahme von Bestechungsgel- dern, damit bestimmte Leute an der medizinischen Hochschule ange-

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nommen wurden, und für ähnliche Gefälligkeiten. Er landete schließlich im Gefängnis, allerdings nur, weil er mit der Partei aus anderen Gründen Ärger bekam."

„Die Creme der sowjetischen Ju- gend möchte gar nicht Arzt werden"

sagt Dr. Golyakhovsky, „es gibt drei Bewerber für jeden Hochschulplatz, und die Bewerber müssen ein Ex- amen bestehen, aber die besten Stu- denten wollen Künstler oder Inge- nieure oder Fabrikdirektoren oder militärische Wissenschaftler werden oder in politische Bereiche gehen.

Dort findet man das gewünschte An- sehen."

Frau Irina fügt hinzu: „Wenn man in Rußland jemandem erzählt, man sei Schriftsteller oder Tänzer oder Künstler, werden die Leute sagen, ,Oh, wie herrlich!' Wenn man ihnen erzählt, man sei Arzt, werden sie sa- gen (und sie macht eine wegwerfen- de Geste mit der Hand), Ja, und?' Wenn man in Rußland nicht talen- tiert genug ist, ein Buch zu schrei- ben oder ein Bild zu malen oder in einem Ballet zu tanzen oder eine Fa- brik zu leiten oder Militär zu führen, dann kann man immer noch Arzt werden."

Das Land graduiert jedes Jahr 70 000 neue Ärzte, sagt Dr. Golya- khovsky, und von Rußlands ge- schätzten 850 000 Ärzten (diese Zahl enthält etwa 300 000 Zahnärzte) sind fast 80 Prozent Frauen. „In Ruß- land", erzählt Irina, „versuchen wir, Männer für den ärztlichen Beruf zu werben, wie Ihr in den Vereinigten Staaten versucht, Neger zu werben.

Und Rußland diskriminiert Intellek- tuelle zugunsten von Arbeitern, so wie Amerika wahrscheinlich die Schwarzen diskriminiert. In Rußland ist es für die Kinder von Intellektuel- len fast unmöglich, eine gleiche Be- handlung wie Arbeiterkinder zu er- fahren."

Das Ansehen des Arztes

Als ordentlicher Professor und Chef des Lehrstuhls der medizinischen Hochschule erhielt Dr. Golyakhov- sky einst 500 Rubel im Monat. „Der

durchschnittliche Arzt bekommt et- wa 160 Rubel im Monat", sagt Dr.

Golyakhovsky. „Ärzte wurden vor 25 Jahren, als ich promovierte, sehr schlecht bezahlt, und der Lohn ist alle fünf Jahre nur um 10 Rubel ge- stiegen. Der durchschnittliche Bus- fahrer in Moskau bekommt 250 Ru- bel im Monat. Jeden Tag fuhren mei- ne Studenten mit dem Bus zu ihren Vorlesungen und lasen die Plakate:

,Werde Busfahrer und verdiene 250 Rubel im Monat'. Sie fragten mich:

,Warum studieren wir sechs Jahre lang, nur um dann weniger zu ver- dienen als ein Busfahrer?' Ich hatte keine Antwort für sie."

Irina sagt: „Ärzte haben so wenig Ansehen, weil wenig Wert auf das öffentliche Gesundheitswesen ge- legt wird. Bei der Herstellung eines Autos oder einer Kamera oder eines Stückes militärischer Ausstattung kann die Partei die Ergebnisse zu propagandistischen Zwecken, zum Export in andere Länder benutzen.

Aber mit dem für die Gesundheit ausgegebenen Geld kann man kei- nen Profit machen. Im Gesundheits- wesen springt nichts für die Propa- ganda, nichts für das Vermögen des Staates heraus, warum also Geld für die Gesundheit ausgeben?"

Dr. Golyakhovsky schätzt, daß unge- fähr 5 Prozent des russischen Brut- to-Sozialproduktes für die ärztliche Versorgung bereitgestellt wird, sagt aber: „Es ist unmöglich, es genau zu sagen, da die Ausgaben für Medizin mit den Ausgaben für Sport und an- dere Sachen in einen Topf geworfen werden."

„Was deutlich ist", sagt Dr. Golya- khovsky, „ist, daß das russische Ge- sundheitssystem keine eigene finan- zielle Basis hat und von einem Hun- gerlohn der Regierung abhängig ist.

Die Regierung gibt jedoch zuviel für ideologische Unterdrückung, für Hilfe an Satellitenstaaten, für Aufrü- stung und für die Unterstützung der Landwirtschaft und der Industrie aus, um auch noch der Medizin ih- ren Teil geben zu können. So kann die Regierung nur eine miserable Summe für das Gesundheitswesen ausgeben."

„Trotz des niedrigen Ansehens der Ärzte", sagt Irina, „gibt es viele Be- werber für die medizinischen Hoch- schulen, da die große Mehrheit Frauen sind, die gewillt sind, sich mit weniger zufriedenzugeben. Alle Russen streben nach höherer Aus- bildung, und ein Arzt hat Patienten und vielleicht dadurch auch Verbin- dungen, um in das Netz der Partei- struktur einzudringen und, viel- leicht, ein paar Vergünstigungen zu bekommen. Nach dem Motto: Eine Hand wäscht die andere."

Dr. Golyakhovsky sagt, ein Grund dafür, daß es so viele russische Ärzte gäbe (2,4 pro 1000 Einwohner vergli- chen mit 1,6 pro 1000 in den USA, nach seinen Schätzungen) sei, daß

„es bei uns fast so viele Ärzte wie mittlere medizinische Arbeiter wie Krankenschwestern und Feldschere gibt. Außerdem sind wir auch sehr knapp an schlecht bezahlten Schwesternhelferinnen. In meinem Krankenhaus wurde mir mehr von anderen Ärzten assistiert als vom Hilfspersonal. In ihrer Routinearbeit verbringen russische Ärzte ein Drit- tel ihrer Zeit mit Arbeit, die von Kran- kenschwestern oder Schwesternhel- ferinnen getan werden sollte. Ich mußte solche Arbeiten sogar als Chef machen. Deshalb haben wir so viele Ärzte"

Die Qualität der Versorgung Russische medizinische Ausstattun- gen und Einrichtungen liegen „drei- ßig bis fünfzig Jahre hinter westli- chem Standard zurück", sagt Dr.

Golyakhovsky. „Die Ausnahmen bil- den die Einrichtungen für höchste Parteimitglieder, wo man nur westli- ches Material (aus den USA, West- deutschland, Japan, Frankreich und England) benutzt. Die meisten Rus- sen kennen diese Einrichtungen gar nicht, da sie dort nicht behandelt werden dürfen, und die Behand- lungsmethoden werden nur in medi- zinischen Fachzeitschriften be- schrieben. Manche dieser Einrich- tungen sind den westlichen eben- bürtig."

Der russische Chirurg sagt: „Wir ha- ben Krankenhäuser auf dem Lande,

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Emigration: Von Moskau nach New York

die nicht viel mehr sind als Hütten, manche reichen noch zur 1917er Revolution zurück. Als ich Chef des Lehrstuhls an der Moskauer medizi- nischen Hochschule war, hielt ich Vorlesungen in einer Moskauer Kli- nik, die vor über hundert Jahren während des Russisch-Türkischen Krieges aus Holz errichtet und ur- sprünglich als Einrichtung für Ty- phusopfer gedacht war. Sie ist so überfüllt, daß die Patienten sich in den Gängen drängen. Auf meinem Gebiet der orthopädischen Chirur- gie weiß ich, daß die Apparatur min- destens 30 Jahre hinter dem, was es in den Vereinigten Staaten gibt, her ist."

„Viel Forschungsarbeit", sagt Irina,

„auf meinem Gebiet der Immunolo- gie konnte nicht geleistet werden, da wir kein Antiserum hatten. Wir wußten, wie wir die Versuche durch- führen mußten, aber was nützt das Wissen ohne Antiserum?"

Es gibt verschiedene Niveaus der ärztlichen Versorgung in Rußland, die vom jeweiligen Rang in der Par- tei abhängen. Das höchste Niveau

nennt Irina „süße Medizin". Dies ist die Behandlung für die ungefähr 500 höchsten Parteifunktionäre, die im

„Kremlkrankenhaus", oder, im offi- ziellen Sprachgebrauch, der „Vier- ten Abteilung des Ministeriums für Gesundheitswesen", angeboten wird. Dr. Golyakhovsky sagt:

„Sie können es eigentlich nicht Krankenhaus nennen. Es ist eher ein Palast. Es gibt keine Zimmer, son- dern Appartements. Das Kranken- haus besitzt Gartenlandschaft, Brunnen, Teppichböden, Konzertsä- le, Theater, die besten westlichen Apparaturen. Das Krankenhaus ist ausschließlich für die Mitglieder des Zentralkomitees der kommunisti- schen Partei, höchste Regierungs- beamte und ihre Familien da. Es ist allem unähnlich, was ein Durch- schnittsrusse jemals sehen wird."

Weniger imposante, aber für russi- schen Standard überdurchschnittli- che Einrichtungen werden auch für verdiente Arbeiter, ärztliche und wissenschaftliche Arbeiter, Schrift-

steller, Mitglieder des KGB — der rus- sischen Sicherheitspolizei — bereit- gestellt, sagt Dr. Golyakhovsky.

„Medizinische Versorgung wird nach einer strikten Hierarchie, je nachdem wie man in das Schema der Partei paßt, angeboten", sagt der Arzt, „und für die große Mehr- heit ist das Niveau ziemlich niedrig."

Medizinische Forschung

Wie die Ausbildung ist auch die For- schung streng zentralisiert und von der Regierung kontrolliert. „Alles muß nach dem Plan des Ministe- riums laufen", sagt Dr. Golyakhov- sky. „Wenn ein Forscher eine bril- liante Idee hat, die nicht in den Plan paßt, den die Partei zur Zeit unter- stützt, dann ist es unmöglich, Gelder zu bekommen." Er erzählt, daß Leh- re und Forschung streng kontrolliert würden, vom „Ausschuß für medizi- nische Ausbildung" und vom „Auß- schuß für medizinische Wissen- schaft", die beide dem Gesundheits- ministerium unterstehen. „Ungefähr drei Viertel der hohen Lehr- und Forschungspositionen sind mit Par- teimitgliedern besetzt", sagt er. „Im Westen können die besten Forscher sich nach Geldmitteln umsehen und werden gewöhnlicherweise auf ho- he Posten gesetzt, in Rußland finden die schlechtesten Forscher einen le- benslangen sicheren Hafen. Einmal in der Bürokratie festgesetzt, kön- nen sie nie mehr entfernt werden."

Dr. Golyakhovsky mußte für die un- erlaubte Arbeit selbst zahlen, um die künstlichen Ellbogen, Schultern und Handgelenke zu entwickeln, die ihm patentiert wurden. „Als die Regie- rung dann sah, daß die Erfindungen gut waren, da übernahm sie sie.

Aber vorher wollten sie mir nicht helfen." Und Irina sagt: „Wir nah- men das Geld, das ich mir für einen Pelzmantel gespart hatte, um für sei- ne Erfindungen zu zahlen."

„Im Augenblick bestimmt der For- schungsplan Arbeiten über Krebs, Herzgefäße und Umwelt. Alles, was nicht in diese Gebiete fällt, dürfte es schwer haben, Aufmerksamkeit zu erringen."

„Offiziell ist ärztliche Behandlung natürlich umsonst", sagt Dr. Golya- khovsky, „aber am Schluß zahlen die Leute auf viele kleine Arten.

Erstens ist das Krankenhausessen absolut schrecklich, und die Patien- ten weigern sich, es zu essen. Ange- hörige bringen jeden Tag Essen.

Zweitens muß der Patient zahlen, wenn er Betreuung durch Schwe- stern haben will. Diese Stellen wer- den schlecht bezahlt, und es gibt nur ein paar — hauptsächlich alte Frauen. Sie wollen nicht wirklich ar- beiten, und wenn der Patient sicher sein will, daß eine Schwesternhelfe- rin wirklich kommt, dann muß er ihr einen Rubel am Tag zahlen.

Drittens muß der Patient oft für seine Medikamente bezahlen. Die Kran- kenhäuser sind sehr knapp an Medi- kamenten, und manchmal ist der einzige Weg, die benötigten Medika- mente zu bekommen, westliche Pro- dukte auf dem schwarzen Markt zu kaufen.

Viertens wird der Patient manchmal den Arzt bezahlen, damit die Opera- tion ein kleines bißchen besser ver- läuft'. Offiziell sind diese Extrazah- lungen natürlich verboten, aber Pa- tienten haben oft gefunden, daß sich die zusätzliche Zahlung in besserer Pflege bemerkbar macht.

Fünftens muß der Patient mit seiner Zeit zahlen. Es gibt lange Wartezei- ten für nicht akute Behandlungen, und der Patient muß Schlange ste- hen und warten."

„Der Patient besticht auch oft den Arzt", sagt Dr. Golyakhovsky, „um eine Bescheinigung zu erhalten, die besagt, daß er krank ist und daher erlaubterweise bezahlten Kranken- urlaub nehmen kann; wenn er einen Unfall hatte und vom Arzt möchte, daß dieser aussagt, er habe nicht getrunken, und wenn er einen Zu- stand vortäuschen möchte, der ihn hindert, eine bestimmte Tätigkeit auszu üben."

„Ich bin der Partei nie beigetreten", sagt Dr. Golyakhovsky, „weil ich das

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haßte, wofür die Partei steht. Es ist alles so falsch, so unecht, all dies ,Sich-auf-die-Brust-Schlagen', da- mit die Partei größer und besser aussieht.

Ich bin Halbjude, und der Name mei- nes Vaters ist Zak. Meine Frau ist von beiden Seiten jüdisch. Aber in Rußland ist es für Juden üblich, ei- nen russischen Namen anzuneh- men, wenn es möglich ist. Der Name meiner Mutter ist Golyakhovsky, und das ist der Name, unter dem ich be- kannt bin. So tragen alle meine Do- kumente und auch die meiner Frau russische Namen. Mein Sohn, ob- wohl drei Viertel jüdisch, hat einen russischen Namen.

Die Partei wußte, daß ich Halbjude war, aber sie erlaubten mir empor- zukommen, weil ich auf dem Papier ganz russisch aussah. So wurde es der Partei nicht peinlich, zu viele wichtige Positionen mit Juden be- setzt zu haben. Nach den Papieren war ich ein vollblütiger Russe. Ich wußte, daß das KGB mich beschatte- te, aber das ist halt dort so.

Was mir schließlich Ärger einbrach- te, war, daß ich anfing, vorzuschla- gen, daß die medizinische Arbeit den Vorrang vor der Parteiarbeit be- kommen sollte. Die anderen Ärzte meiner Abteilung kamen zusammen und beschlossen, daß ich ein Hin- dernis für die Arbeit der Partei sei.

So wurde ich nach fünf Jahren mei- nes Postens als Leiter des Lehr- stuhls entbunden.

Aber es spielte für mich keine Rolle;

ich hatte schon lange vorher ent- schieden, daß ich das Land verlas- sen mußte. Ich konnte nicht ich selbst sein.

Es gibt 250 Millionen Menschen in Rußland und vielleicht nur 15 Millio- nen gehören der Partei an. Von die- sen sind nur ein paar tausend ein- flußreich. Aber die Partei kontrolliert alles. Offiziell sind natürlich alle gleich, aber die Parteiführer haben alle Privilegien.

Als ich im Monat 500 Rubel verdien- te, lebten wir nach russischen Ver-

hältnissen gut. Als wir jedoch nach Amerika kamen, nahm mein Sohn einen Job als ungelernter Arbeiter in einer Uhrenfabrik an und verdiente mehr Geld, als ich in meinem gan- zen Leben verdient hatte. Einmal hatte ich bei einer Verkaufsschau in Moskau mit einem Engländer meine Erfindungen diskutiert, der dann zu mir sagte: ,Mit all ihren Patenten müssen Sie ja ein reicher Mann sein!' (Dr. Golyakhovsky lächelt breit über diese Ironie). Wissen Sie, die Briten wollten meine Erfindungen vermarkten, aber die sowjetische Regierung sagte nein, Sowjetbürger können nicht mit ausländischen Re- gierungen verhandeln. Die Erfin- dung wurde schließlich im Ausland patentiert, ich bin nur der Urheber.

Die russische Regierung hält die Patente.

Offiziell verdient Leonid Breschnew 1300 Rubel im Monat. Inoffiziell?

Wer kann das zählen. Die Parteifüh- rer haben freie Wagen, freie Dat- schas, freies Essen, freie Kleidung, alles umsonst.

In ganz Rußland gibt es vielleicht zwei Millionen Autos. Die meisten gehören der Regierung. Wenn man ein Auto oder irgend ein ähnliches seltenes Konsumgut haben möchte, muß man einen Parteifunktionär be- stechen, um auf die Liste zu kom- men. Mein Vater hatte mir vor Jah- ren einen Wagen geschenkt und wir konnten ihn immer gegen ein neue- res Modell eintauschen, da der Wert eines Autos in Rußland allerhöch- stens ansteigen kann. Wenn man ir- gend etwas haben möchte, was das Leben ein bißchen einfacher macht, muß man jemanden in der Partei be- stechen. Das ist nun mal so."

Der durchschnittliche Sowjetbürger, so sagt Irina, lerne, die erstickende Parteibürokratie entweder „durch Lügen oder durch Geld, Geld, Geld'' zu umgehen.

Die Golyakhovskys wählten den Hauptweg, um ihre Ausreise zu be- werkstelligen. „Wie es üblich ist", sagt Irina, „sagten wir den Beamten, daß wir zu Verwandten in Israel woll- ten. Wir mußten sechs Monate war-

ten und auf unsere Staatsbürger- schaft verzichten. Natürlich hatten wir gar keine Verwandten in Israel.

Viele, die heute Rußland verlassen, haben dort keine Verwandten. Es ist nur ein Trick. Wir flogen nach Wien, und nach einer Wartezeit half uns die Internationale Föderation der Ju- den, die Erlaubnis zu erhalten, nach New York zu kommen. Wir sind letz- ten April hier angekommen. Wir sind froh, in Amerika zu sein, und wir freuen uns darauf, amerikanische Staatsbürger zu werden."

„Am beeindruckendsten", plaudert Irina, „waren für uns vor allem die Waren in den Läden. Überall gibt es Läden, die vor Waren überzufließen scheinen. In Rußland bieten die Lä- den wenig an. Und hier wirken alle so frei; die Art, wie die Leute sich kleiden und reden und sich beneh- men. Manchmal ist es nicht so schön, wenn wir zum Beispiel laute Musik aus Radios hören, die die Leute auf der Straße mit sich herum- tragen, aber die Freiheit ist etwas Wunderbares. Wir mögen New York, obwohl es uns ohne all diesen Dreck noch besser gefallen würde. Man hat mir erzählt, New York sei nicht Amerika und Amerika sei nicht New York, und so hoffen wir, noch viel mehr von diesem Land kennenzuler- nen."

Dr. Golyakhovskys bisher einzige Reise ging nach Hartford, Connecti- cut. „Wir besichtigten dort ein medi- zinisches Zentrum", sagt Dr. Golya- khovsky, „das mich in dieser kleinen Stadt in Erstaunen versetzte. In der ganzen Sowjetunion gibt es sehr wenige, die dem vergleichbar wären.

In vielen Beziehungen haben wir gar nichts Vergleichbares. Und das war nur Hartford, nicht New York oder eine andere Großstadt."

Der russische Emigrant war wäh- rend eines großen Teils des Inter- views ernst. „Ich bin Chirurg", sagt er, „und ich vermisse es zu operie- ren. Aber ich muß noch viele Jahre warten, und das ist hart."

Dennis Breo

American Medical News

Referenzen

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