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A400 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 718. Februar 2005
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ie Mortalitätsrate bei medullärem Schilddrüsenkarzinom ist sehr hoch. Dabei lässt sich der Bo- tenstoff Calcitonin mindestens ein Jahr vor Sichtbarwerden des Tumors im Blut nachweisen. „Warum warten wir mit ei- ner Intervention bei einer Sterblich- keitsrate von 80 Prozent?“ fragte der re- nommierte Zellbiologe und emeritierte Kinderchirurg Prof. Dr. med. Judah Folkman (Harvard Medical School) das Auditorium bei einem Vortrag an der New York Academy of Sciences. Nach seiner Einschätzung „müssen die Pati- enten bereits behandelt werden, bevor eine Krebserkrankung überhaupt er- scheint“.Eine solche Krebsprophylaxe wäre für viele Menschen wünschens- wert. So deuten die Ergebnis- se von europäischen Autop- siestudien darauf hin, dass ungefähr 39 Prozent aller Frauen zwischen 40 und 50 Jahren bereits ein Carci- noma in situ der Schilddrüse aufweisen, welches sich in ei- nem von 100 Fällen zu einem manifesten Karzinom ent- wickelt. Im Alter zwischen 50 und 70 Jahren weisen sowohl Männer als auch Frauen mehr- heitlich harmlose Vorstufen eines Schilddrüsenkarzinoms auf. Ähnliche Zahlen liegen für Männer, die älter als 50 Jahre sind, für das Prostatakarzi- nom vor.
Nicht für alle Krebsformen existie- ren „Surrogatmarker“ im Blut oder Urin, die einen bestehenden Tumor an- zeigen und auch auf ein Ansprechen oder Nichtansprechen der Therapie durch Regression oder Wachstum des Tumors hinweisen. Eine der großen Her- ausforderungen der Forschung bestehe darin, so Folkman, für die verschiedenen Tumoren entsprechende Marker zu
identifizieren. Sind diese bekannt, kön- ne eine antiangiogene Therapie ein- setzen. „Das metastasierte medulläre Schilddrüsenkarzinom ist ein Tumor- typ, für den man eine präventive antian- giogene Strategie in einer kleinen klini- schen Studie testen könnte – zumal An- giogenesehemmer zunehmend weniger toxische Nebenwirkungen zeigen“, be- tonte der Wissenschaftler.
Verschiedene Angiogeneseinhibito- ren wurden entwickelt, die an den En-
dothelzellen der Gefäßwand wirken und die Neubildung von Tumoren ver- sorgenden Blutgefäßen vor der Tumor- entstehung verhindern können. Da die antiangiogene Therapie weniger toxi- sche Nebenwirkungen aufweise und auch nicht so anfällig für eine medika- mentöse Resistenzentwicklung sei wie herkömmliche Chemotherapien, biete sie sich zur Prophylaxe von Patienten mit hohem Krebsrisiko an, sagte der Re- ferent – so zum Beispiel bei Frauen mit einem mutagenen Brustkrebsgen oder bei Krebspatienten nach einer Operati- on, die ein erhöhtes Risiko für ein Tu- morrezidiv haben.
Ein Beispiel für einen Arzneistoff mit antiangiogener Wirkung ist Thali- domid. Zu Beginn der 60er-Jahre wurde die Substanz weltweit vom Markt ge- nommen, weil sie Feten im Mutterleib schädigte und starke Missbildungen bei Neugeborenen hervorrief. Inzwischen wird das ehemalige Hypnotikum wie- der klinisch angewandt. „Australien ist das erste Land, das der Anwendung von Thalidomid bei der Indikation multi- ples Myelom zugestimmt hat“, sagte Folkman. Eine Untersuchung habe ge- zeigt, dass der Wirkstoff bei einem Drit- tel der Patienten mit therapierefraktä- rer Erkrankung die Tumormasse um 50 Prozent zurückgehen ließ.
Thalidomid ist nach Ansicht von Kli- nikern eines der wirksamsten Medika- mente für die Behandlung von multi- plem Myelom und wird nun als Medika- ment erster Wahl erwogen. „Es ist die beste therapeutische Errungenschaft der letzten 25 Jahre“, betonte Gareth Morgan, Vorsitzender des Myeloma Fo- rum Scientific Subcommittee in Groß- britannien, einem Bericht des Magazins
„Lancet“ (Oncology 2003; 4: 713) zufol- ge. Der Behandlungserfolg ließ sich nachweisen anhand der Abnahme der Serumwerte an Myelomproteinen und der Urinwerte der Bence-Jones-Pro- teine, die für das multiple Myelom kennzeichnend sind.
Thalidomid hemmt die Angiogenese, die unter anderem durch die proangio- genen Proteine bFGF (basic fibroblast growth factor) und VEGF (vascular endothelial growth factor) induziert wird. Diese beiden Proteine haben sich als Surrogatmarker für die Wirksamkeit von Thalidomid als nützlich erwiesen.
Krebsforschung
Ein Blick in die Zukunft
Was für und gegen Angiogenesehemmer als Hoffnungsträger der medikamentösen Krebsprävention spricht
Auch für Krebszellen ist die Zufuhr von Nährstoffen über das Gefäßsystem überle-
benswichtig. Das Prinzip der Antiangio- genese hatte Judah Folkman von der Harvard Medical School in Cambridge bereits vor rund 30 Jahren vorgeschla- gen und zunächst Spott geerntet.
Foto:Institut für Anatomie und Zellbiologie Universität Heidelberg
Es bestehe aber „ein dringender Bedarf, Surrogatmarker zu finden, die den the- rapeutischen Nutzen anderer antian- giogener Agenzien bestimmen helfen“, betonte Folkman. Ein Marker für die Tumorangiogenese könnten zirkulie- rende Vorläuferstufen von Endothel- zellen (Endothelial Cell Precursors, ECP) sein. Die Anzahl dieser dem Kno- chenmark entstammenden Endothel- zellen ist ein Maß für die Wirksamkeit der Therapie mit Endostatin, einem en- dogenen Angiogenesehemmer, bei ex- perimentellem Lymphom. Auch nach Thalidomidgabe sank die Zahl der Zel- len um das Zehnfache.
Die Wirksamkeit des Angiogenese- hemmers Bevacizumab, der gegen den
„Vascular Endothelial Growth Factor“
(VEGF) gerichtet ist und bei der An- giogenese eine zentrale Rolle ein- nimmt, haben Radesh K. Jain und Kol- legen vom Massachusetts General Hos- pital in Boston anhand von sechs Pati- enten mit fortgeschrittenem, jedoch nicht metastasierendem Rektumkarzi- nom untersucht (Nature Medicine 2004; 2: 145–147). Nach drei Tagen anti- angiogener Therapie nahm die Zahl der zirkulierenden Endothelzellen im Blut aller Patienten ab. Diese Studie war die erste Untersuchung beim Menschen, die die Wirksamkeit der antiangioge- nen Therapie an den Gefäßen als Studi- enendpunkt hatte.
Bevacizumab ist in den USA seit An- fang 2004 zur Behandlung des metasta- sierten Kolorektalkarzinoms zugelas- sen. Allerdings musste der Hersteller Genentech den US-Ärzten im Juli in ei- nem „Dear Doctor“-Letter mitteilen,
dass es Beweise für einen Anstieg schwerer arterieller thomboemboli- scher Komplikationen gebe. Ein erhöh- tes Risiko auf diese Komplikation hät- ten Patienten mit arteriellen throm- boembolischen Ereignissen in der Anamnese sowie Patienten älter als 65 Jahre. In Europa wurde Bevacizumab als Avastatin®im Januar zugelassen.
Metronomic-Dosing:
Weniger ist mehr
Da die Endothelzellen der Gefäße ge- netisch stabiler sind als Tumorzellen, sind sie weniger anfällig für Mutatio- nen, die zur Resistenz gegen Arzneimit- tel führen. Dies hat den Vorteil, dass Angiogenesehemmer nach einem ver- änderten Regime – dem „Metronomic- Dosing“-Schema – angewandt werden können: Hierbei werden die Wirkstoffe nicht wie bei der herkömmlichen Che- motherapie in hohen Dosen und relativ langen Abständen gegeben, sondern täglich in niedrigen Dosierungen.
In einer tierexperimentellen Studie hat Prof. Dr. med. Robert Kerbel (Uni- versität Toronto) festgestellt, dass die häufige Gabe von Chemotherapeutika in Dosierungen, die niedriger lagen als die maximal tolerierte Dosis (MTD), ei- nen dauerhaften und potenten antian- giogenen Effekt erreichten. Im Wachs- tum gehindert wurden die Endothelzel- len der sich neu bildenden Tumorge- fäße. Dabei blieben die für die Chemo- therapie typischen Nebenwirkungen aus. Dies legt nahe, dass die aktivierten Endothelzellen eine selektive Sensiti-
vität aufweisen. Der Grund hierfür ist noch unklar.
In In-vitro-Studien wurden Endothel- zellen kontinuierlich mit verschiedenen chemotherapeutischen Substanzen – Mi- krotubuli-Inhibitoren und alkylierenden Agenzien – behandelt. Alle Wirkstoffe induzierten die Expression des Proteins Thrombospondin-1 (TSP-1), eines po- tenten und endothelspezifischen Angio- genesehemmers. Diese Ergebnisse impli- zieren, dass TSP-1 im antiangiogenen Geschehen eine Rolle als sekundärer Mediator spielt. Daher könnten erhöhte TSP-1-Werte im Plasma möglicherweise als Surrogatmarker bei der „Metrono- mic-Dosing“-Chemotherapie dienen.
Vor- und Nachteile dieser Therapie- form wägte Dr. Timothy Browder (Har- vard Medical School, Boston) ab: Als positiv werte er die Verzögerung muta- tionsbedingter Medikamentenresisten- zen; auch würde das „Metronomic-Dos- ing“ die Kombination von Zytostatika mit antiangiogenen Arzneimitteln er- leichtern und dadurch möglicherweise die Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit solcher chemotherapiebasierten Kom- binationen erhöhen. Ein Nachteil die- ser Optimierungstherapie bestehe je- doch darin, dass keine verlässlichen Surrogatmarker verfügbar sind. Zudem sei noch unbekannt, wie die antiangio- gene Therapie mit anderen Regimen am besten zu kombinieren ist.
Neben dem Bedarf an Markern steht einem Einsatz der antiangiogenen The- rapie noch eine große Hürde im Weg – die Notwendigkeit für eine Langzeit- therapie. So müssten Angiogenesehem- mer tierexperimentellen Ergebnissen zufolge wahrscheinlich über mehrere Jahre gegeben werden, um die Tumor- bildung bei Patienten zu unterdrücken, sagte Folkman. Die Langzeittherapie stelle bei intravenöser Gabe, die bei den meisten Angiogenesehemmern üblich sei, ein Problem dar. Ein Endostatin- Präparat mit einer verzögerten Freiset- zung, das den Patienten eine bequeme- re subkutane Gabe zu Hause ermögli- chen könnte, wird derzeit geprüft.
Literatur beim Verfasser Anschrift der Verfasserin:
Dr. med. Karen Dente
70 Eighth Avenue, Apt. 5, Brookyln, NY 11217, USA E-Mail: kmd248@nyu.edu
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Das Prinzip der Antiangiogenese
Sobald der Durchmesser eines Tumors mehr als 1–2 mm beträgt, sind die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen sowie das Wachs- tum und die Metastasierung nur noch mög- lich, wenn neue Blutgefäße aussprossen, die den Tumor an bereits vorhandene Blutgefäße anschließen. Zur Induktion der Gefäßneubil- dung sezernieren die Tumorzellen angiogene Faktoren (VEGF oder FGF-2), die vaskuläre Endothelzellen aktivieren und in den Tumor locken. Auf aktivierten Endothelzellen vorlie- gende Adhäsionsmoleküle (avß3-Integrin) ver-
mitteln Adhäsion, Differenzierung und Über- leben der Endothelzellen und tragen so zur Gefäßneubildung und zur tumoraktivierten Angionese bei. Angionesehemmer blockieren die Gefäßneubildung durch spezifische Funk- tionshemmung der Zelladhäsionsmoleküle auf aktivierten Endothelzellen, indem sie die Interaktion zwischen diesen Molekülen und ihrer spezifischen Bindungsstelle auf der Ex- trazellulärmatrix verhindern. Da Endothelzel- len unter diesen Bedingungen absterben, ver- mindert sich die Gefäßneubildung im Tumor, wodurch das Wachstum des Tumors und seine Metastasierung verhindert werden.