Wissenschaft im indischen und im abendländischen Denken
Von E. R. Sandvoss, Saarbrücken
1.
,,Wie der indische Geist ein Träumen und Vorschweben, ein selbst¬
loses Aufgelöstsein ist, so verschweben ihm auch die Gegenstände zu
wirklichkeitslosen Bildern und zu einem Maßlosen. Dieser Zug ist absolut
charakteristisch, und durch ihn allein ließe sich der hidische Geist
in seiner Bestimmtheit auffassen, und aus ihm alles Bisherige entwik-
keln. ... ihr" (der Inder) ,, ganzes Leben und Vorstellen ist nur ein
Aberglauben, weil alles bei ihnen Träumerei und Sklaverei derselben
ist. Die Vernichtung, Wegwerfung aller Vernunft, Moralität und Sub¬
jektivität kann nur zu einem positiven Gefühle und Bewußtsein ihrer
selbst kommen, indem sie maßlos in wilder Einbildungskraft ausschweift,
darin als ein wüster Geist keine Ruhe findet und sich nieht fassen
kann, aber nur auf diese Weise Genüsse findet; — wie ein an Körper
und Geist ganz heruntergekommener Mensch seine Existenz verdumpft
und unleidlich findet, und nur durch Opium sich eine träumende Welt
und ein Glück des Wahnsinns verschafft. "^
G. W. F. Hegel, der in diesem Zusammenhang den Indern ein Ver¬
hältnis zur Geschichte abspricht,^ dürfte in seiner überheblichen, für
die Geisteshaltung des sog. deutschen Idealismus nicht immer bezeich¬
nenden Art, Bedeutung und Leistung des indischen ,Geistes' unter¬
schätzt haben, und das, obwohl zu jener Zeit schon soviel über die
kulturellen Errungenschaften dor Inder bekannt war, daß ein solches
Fehlurteil nur sehwer verständlich erscheint. Wenn F. Überweg^ der
griechischen Philosophie 672 Seiten widmet, der indischen dagegen nur
eine, beruht dieses Mißverhältnis wohl nicht zuletzt auf einer Wirkung
der geringschätzigen Meinung Hegels von der indischen Philosophie
und Wissensehaft. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, die Ge-
^ Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Oeschichte. In: Sämtliche
Werke (Ed. Glöckner). IL Stuttgart 1939, 221, 226.
" Ebd. 220.
' Grundriß der Geschichte der Philosophie des Altertums. Borlin ''1920, 13.
9 ZDMG 129/1
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wichte sind anders verteilt, die Akzente anders gesetzt. In W. Totoks
Arbeit* stehen 286 Seiten Bibhographie zur griechisch-römischen Philo¬
sophie 37 Seiten zur indischen Philosophie gegenüber. Das bedeutet
hinsichthch der Rezeption rein quantitativ immer noch ein Übergewicht
der abendländischen Philosophie über die indische von 8:1, aber es
ist wenigstens ein Anfang gemacht. Totok bemerkt dazu :
,,Die philosophische Geschichtsschreibung des Abendlandes hat das
Denken der Inder erst spät und nur zögernd in den Kreis ihrer wissen¬
schaftlichen Betrachtung einbezogen. Diese Zurückhaltung hatte ihren
Grund teils in der unzulänglichen philologischen Erschließung der
Quellen, teüs in der besonderen Methode des indischen Philosophierens,
die in mancher Hinsicht von der abendländischen abweicht. Erst die
Forseherarbeit von mehreren Generationen europäischer und indischer
Gelehrter hat der indischen PhUosophie die Bedeutung gesichert, die
ihr als einem der hervorragendsten Zeugnisse menschlichen spekulativen
Geistes zukommt. Das indische Denken ist in seiner Zielsetzung nicht
vordringlich auf die objektive Erkenntnis des Weltzusammenhanges und
semes transzendenten Grundes gerichtet. Die denkerisehen Bemühungen
der Inder konzentrieren sich vielmehr auf die Erlangung jenes Wissens,
das den Menschen aus dem leidvollen Daseinsverhaftetsein befreit. Der
Zentralbegrhf dieser Phüosophie ist das Karma, die Tatwirkung des
Einzelwesens: nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung zieht das
moralische Verhalten in der gegenwärtigen Existenz die Vergeltung in
einer anderen Seinsform nach sich. Damit erfährt der gesamte Welt¬
prozeß eine moralische Deutung. Diese Lehre vom karmischen Welt¬
gesetz ruht auf der Annahme der essentiellen Gleichheit aller Lebe¬
wesen, dem Glauben an die endlose Kette der Wiederverkörperung und
an die Ewigkeit des Weltprozesses. Die indische Phüosophie kennt
keine deutlich voneinander geschiedenen Perioden, und ihre Lehrmein¬
ungen schließen sich gegenseitig nicht vollkommen aus. Sie alle gründen
letzten Endes auf der uralten Weisheit der Veden und üpanishaden,
sei es, daß sie sich ausdrücklich auf diese berufen wie die orthodoxen
Systeme der Brahmanen, oder daß sie ihr Lehrgebäude unabhängig davon
entwickeln wie die Schulen der Jainas und Buddhisten."^
Eine der vordringlichen Aufgaben vergleichender morphologischer Be¬
trachtung ist es also festzustellen, in welcher Hinsicht sich indisches
und abendländisches Denken unterscheiden. In diesem Zusammenhang
kommt der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und
* HandblUih der Geschichte der Philosophie. 1: Altertum. Frankfurt a.M.
1964.
5 Ebd. 13.
Wissenschaft in beiden Kulturbereichen insofern eine besondere Be¬
deutung zu, als hier die Unterschiedlichkeit der beiden Denkweisen wie
kaum irgendwo sonst deutlich wird. Es läßt sich nicht verkennen, daß
das Ziel indischen Philosophierens durchweg ein anderes ist als das des
abendländischen. Ernst von Aster* kommt zu dem Ergebnis, das Ziel
der indischen Philosophie sei Erlösung, der Weg dazu das Wissen :
,,Das Hauptthema des indischen Philosophierons ist das metaphysisch-
religiöse. Das Ziel ist die Erlösung, das Mittel Wissen — Wissen vom
Grunde — des Seins oder des Leidens. Dem indischen Denken eignet
ein weltflüchtiger und lebensabgewandter Zug: der Mensch sinnt nicht
nach, um das Ersonnene dem Leben dienstbar zu machen, sondern um
durch das Sinnen sich vom Leben zu lösen. Damit ist das indische
Philosophieren auf der anderen Seite stark zweckbestimmt, aber dieser
Zweck ist eben die Erlösung, d.h. dieser Zweck liegt jenseits des
Lebens. Und diesen Zweck will das indische Denken auch dem Leben
selbst geben: wir sollen unser Leben und Handeln so einrichten, daß
; wir vom Leben — von der Wiedergeburt — frei werden. Also: einheit¬
liche Richtung auf ein Ziel, aber dies Ziel liegt nicht im Leben, sondern
jenseits des Lebens. Der Weise, der Erleuchtete hat das Diesseitige
hinter sich gelassen, er steht außerhalb der Welt, er ist nicht mehr
Mensch, sondern hat teil an der Gottheit, oder die Götter selbst kommen
zu ilim, um Belehrung über den Weg zur Erlösung zu erbitten. Daher
hat der indische Philosoph es mit dem Menschen, der im Leben steht,
vsdrkt, handelt und von diesem Leben vermöge seiner Stellung und
seiner Aufgaben nicht los kann, eigentlich gar nichts zu tun, ihm hat
er nichts zu sagen oder nur eine exoterische Lehre zu geben. Der Weise
selbst vollendet sein Leben, indem er am Ende in die Einsamkeit geht,
als Bettler ganz der Meditation lebt. Die Vorschriften der buddhistischen
Moral sind in ihrer reinen Form nur vom Mönch zu erfüllen. In der Popu-
larphilosophie der ,, Bhagavadgita" wird von den Pflichten gesprochen,
die jedem aus seüier Stellung und seinem Beruf erwachsen : Der Krieger
muß kämpfen, der Bauer den Boden bestellen; es wäre zwecklos, wenn
der Krieger von der höheren Einsicht aus, daß das Töten, das er üben
muß, gegen den tieferen Sinn und die Einheit alles Lebenden verstößt,
den Speer wegwerfen wollte. Aber die Forderungen, denen er sich nicht
entziehen kann und im Sinn einer innerhalb des Lebens zu Recht
bestehenden Moral nicht entziehen darf, heben jene philosophische Ein¬
sicht nicht auf, sondern bestätigen nur, daß das eine Ziel, von dem
der Philosoph spricht, mit den vielerlei Zielen des Lebens ganz un¬
vergleichbar ist, so unvergleichbar, wie das Absolute dem Relativen."' I • Geschichte der Philosophie. Stuttgart "1968, 22f.
' Ebd. 22 f.
9*
132 E. R. Sand VOSS
Es ist klar, daß bei einer derartigen Zielsetzung der PhUosophie auch
die Wissenschaft, als ein Sproß der Philosophie, im indischen Denkbe¬
reich andere Wege ging als hn westlichen. Wir wollen nun die Haupt¬
stadien der beiden Entwicklungen, der westlichen und der östlichen,
vergegenwärtigen, soweit sie Aufschluß über das Verhältnis von Philo¬
sophie und Wissenschaft zu geben vermögen. Dabei ist, wie Totok
richtig bemerkt, von vornlierein in der indischen Phüosophie nicht eine
so strenge Trennung der Perioden und Lehrmeinungen möglich wie in
der abendländischen. Es kann sich mithin nur darum handeln, Schwer¬
punkte und Denkansätze indischen Phüosophierens ohne genaue chrono¬
logische Fixierung zu eruieren, die für die Problematik Philosophie-
Wissenschaft etwas hergeben. Speziell fragen wir danach, ob es in der
indischen PhUosophie eine der westhchen vergleichbare Emanzipation
der Wissenschaften gegeben hat und wenn nicht, warum eine
solche nicht stattfand. Beginnen wir mit der westlichen Entwicklung !
2.
Schon in ihren Anfängen, in der Phüosophie der Vorsokratiker, bietet
sie ein anderes Büd als die indische: Festumrissene Lehren sind nicht
nur an ganz bestimmte Namen geknüpft, sondern darüber hinaus an
profiherte Denkerpersönlichkeiten. Das Individuum hat in der abend¬
ländischen Phüosophie von Anfang an einen höheren Stellenwert als
in der indischen. Während in der indischen Phüosophie, wie Totok
richtig beobachtete, keine Lehre ganz die andere ausschließt, stehen
sich schon im frühgriechischen phüosophischen Denken gegensätzliche
Positionen hart, wie abgezirkelt gegenüber : Thaies-Anaximenes, Parme-
nides-Heraklit, Demokrit-Anaxagoras. Die einzelnen Denkansätze sind
einseitiger, extremer, radikaler als die indischen. Sie haben einen Kern¬
gedanken, der konsequent verfolgt und in der Auseinandersetzung mit
der gegnerischen Position festgehalten, bekräftigt, weiterbegründet wird.
Der individualistischen Komponente entsprechend, bewährt sich der
einzelne Denkansatz im agonalen Für und Wider, in extremer gedank¬
licher Zuspitzung. Es war die Eristik der Sophisten, die Sokrates
auf den Plan rief. Der Kampf des Sokrates gegen die Sophisten spiegelt
sich in den dramatischen Auseinandersetzungen der platonischen Dialoge,
führte Platon zur Dialektik, Aristoteles zur Logik. Feiedeich Nietzsche^ I
erkannte die Bedeutung des Sokrates für die Entwicklung der abend- '
ländischen Phüosophie und Wissenschaften, wenn er auch mit seinem [
' Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Kritische Oesamt¬
ausgabe. (Ed. Colli u. Montinabi). III, 1. Berlin 1972, 85f.
Amoklauf gegen Sokrates weniger diesen als den Sokratismus seiner
Zeit traf.* Nietzsche sah in Sokrates den „Mystagogen der Wissen¬
schaft", ,,den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Welt¬
geschich te".^'*
,,Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung
des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den
Einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; ... Von
diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasehi korrigieren zu
müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und
der Überlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Kultur,
Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu
erhaschen wir uns zum größten Glücke rechnen würden. Dies ist die
ungeheure Bedenklichkeit, die uns jedesmal, angesichts des Sokrates,
ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, Sinn und Ab¬
sicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Altertums zu erkennen. Wer
ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische Wesen
zu verneinen ... ?"."
Was Nietzsche außer der Bedeutung des Sokrates für die Weltge¬
schichte noch erkannte, ist die Tatsache, daß er sich als Einzelner
gegen die Tradition stellte. Der sokratisehe Satz: ,Ich weiß, daß ich
nichts weiß' ist ebenso bezeichnend für das abendländische Denken wie
die Formel des Descaetes: ,Ich zweifle, also bin ich', oder wie
Leibkizens Monadenkonzeption. Diese Radikalität individuali¬
stischen Fragens wird durch die jüdisch-christhche Komponente eines
zum absoluten Maßstab erhobenen Monotheismus noch verstärkt, sofern
sich der Fragende in einer doppelten Hinsicht gefordert sieht: einmal
vom absoluten Wissen Gottes, sodann von der Totalität eines autoritär-
orthodoxen Dogmatismus seitens der Kirche, die dem einzelnen mit dem
Verlust seines Seelenheils droht, wenn er sich gegen die Dogmen der
Tradition auflehnt. So wird der einzelne unerbittlich gefordert, in eine
ausweglose Situation gebracht, aus der er sich nur durch eine Art
Eruption seines Wesens und seiner Existenz befreit, ein verzweifelter Aus¬
bruch in Richtung auf eine unerreichbare Wahrheit, die im Besitz eines
absoluten Gottes ist. In eine solche Situation ist das indische Denken
nie geraten, weil die Religion, aus der es erwuchs und von der es sich
nie ganz löste, im Prinzip tolerant, relativierend, versöhnlich war. Ein
wesentlicher Unterschied abendländischen Denkens zum indischen ist
1 danach der permanent dynamische, dialektisch-individualistische Zug,
seine Radikalität, Exklusivität und sein Absolutheitsanspruch. Das
" Vgl. hierzu: E. Sandvoss: Sokrates und Nietzsche. Leiden 1966.
1» Ebd. 95 f.
11 Ebd. 85 f.
134 E. R. Sand VOSS
abendländische Denken ist seinem Wesen nach emanzipatorisch,
wobei die Emanzipationen in mehreren Stufen aufeinanderfolgen :
1. Die Emanzipation der Philosophie von der Religion.
2. Die Emanzipation der Wissenschaft von der Philosophie.
3. Die Emanzipation der Technik von der Wissenschaft.
4. Die Emanzipation der Industrie von der Technik.
5. Die Emanzipation der Ökonomie von der Industriegesellschaft.
Jeder Emanzipationsschub setzt folgerichtig und unwiderruflich den
vorausgehenden fort. Was aber steht am Ende dieser Ent-wicklung?
Ehe wir eine Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, wollen
wir noch kurz auf einen weiteren Unterschied abendländischen und
indischen Denkens eingehen. Er ist vor allem von angelsächsischer Seite
in die Philosophie und Wissenschaft gelangt: Die Betonung des
Nutzens. Im Vorwort zur Instauratio niagna^^ kommt bereits die radi-
kale Gegenüberstellung der neuen Denkweise zu allem bisher bekannten
Verstehen zum Ausdruck :
"That the state of knowledge is not prosperous nor greatly-
advancing, and that a way must be opened for the human under¬
standing entirely different from any hitherto known, and other helps
provided, in order that the mind may exercise over the nature of
things the authority which properly belongs to it.''^^
Die Gründung der Erkenntnis auf Wahrnehmung, Daten, Fakten, auf
Erfahrung, Analyse, Experiment und Induktion : dieser Weg wurde vom
indischen Denken nie in dieser Ausschließlichkeit und Folgerichtigkeit beschritten, ja nicht einmal versucht.
"The requests I have to make are these. Of myself I say nothing;
but in behalf of the business which is in hand I entreat men to
believe that it is not an opinion to be held, but a work to be done-
and to be well assured that I am laboring to lay the foundation, not
of any sect or doctrine, but of human utility and power.''^*
Utility und power sind die beiden Grundmotive des Erkennens im
neuzeitlich-abendländischen Denken geworden. Bacons Mahnung, das
neue Wissen nicht zur Selbstgefälligkeit zu mißbrauchen, zu Herrschaft,
Profit oder Machtgewinn, sondern zum Wohl des Lebens im Geist der
Liebe,*^ geriet dagegen weitgehend in Vergessenheit. Es läßt sieh nicht
1^ F. Bacon : The New Organon and Related Writings. Ed. F. H. Anderson.
New York 1960, 7.
" Ebd. 7.
" Ebd. 16.
« Ebd. 15.
bestreiten, daß die Wendung westlicher Erkenntnis zu Beginn der Neu¬
zeit auf praktische Weltveränderung, auf Nutzen und Macht, die Erde
in weniger als einem halben Jahrhundert von Grund auf veränderte.
Die Emanzipationswellen des abendländischen Denkens, von der
Religion, von der Philosophie, ja sogar von Wissenschaft und Technik,
die Orientierung an Nutzen, Lust, Gewinn, Herrschaft und Macht haben
der westlichen Welt einen einmaligen Triumphzug beschert: über die
äußere Natur, über materielle Not und Abhängigkeit, aber auch über
andere Völker und Erdteile. Bedeutet dieser dank Pliilosophie, Wissen¬
schaft und Technik gewonnene Machtzuwachs der westlichen Welt für
sie und die Menschheit einen echten Gewinn? Könnte gar der Über¬
winder der Not am Überfluß scheitern? Hat der westliche Mensch, der
auf religiöse Erlösung verzichtete, im Lebensstandard einen Ersatz ge¬
funden? Ist die Natur, die er mit Hilfe seiner Technik vertrieb, auch
aus üim selbst gewichen? Ist der westliche Mensch, der die Ideale der
Phüosophie, Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, dem Nutzen und
der Lust opferte, damit glücklicher geworden? Platon und Christus
stimmen darin überein, daß alle Reichtümer der Erde dem Menschen
nichts nützen, wenn er an seiner Seele Schaden nimmt: ,, Alles Gold
auf und unter der Erde ist nicht soviel wert wie die Tugend".
,,Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und
nähme doch Schaden an seiner Seele ?"i'
Wer will leugnen, daß der neuzeitlich-westliche Mensch die Schätze
dieser Erde gewann, aber seelisch erkrankt ist? Zehntausende von
Psychiatern in der alten und in der neuen Welt werden mit den Seelen-
Schäden nicht fertig, die sich der Mensch als Sieger über die äußere
Natur, aber Verlierer seiner seelischen Gesundheit zuzog. Eine Besin¬
nung auf das Verhältnis von Phüosophie und Wissenschaft im indischen
Denken könnte hier vielleicht weiterhelfen. Zunächst jedoch noch einige
Bemerkungen zum Verhältnis des Menschen zur Natur im indischen und
im westlichen Lebensbereich !
Es läßt sich nicht verkennen,i* daß die Art der Herausforderung der
Natur an den Menschen dort eine andere war als hier. Sind die Um¬
weltbedingungen für den Menschen extrem ungünstig, verharrt er im
Zustand der Ohnmacht, findet auf die Herausforderung der Natur keine
entsprechende Antwort und überlebt gerade noch. Der Mensch erscheint
von der Natur überfordert. Anders bei uns in Europa. Landschaft
und Klima zwangen hier den Menschen nicht in die Knie. Auf mäßige
" Nomoi, 728 a.
1' Matthäus, 16, 26.
" Vgl. Sand VOSS : Nepals Herausforderung. In : Der Staat und sein Territori¬
um. Festschr. für M. SchuAnd. Wiesbaden 1976, 22 f.
136 E. R. Sandvoss
Herausforderungen fand der westliche Mensch angemessene Antworten
und konnte sich in einer durchweg freundlichen Natur behaupten, nicht
nur behaupten, sondern ihr gegenüber durchsetzen. Wer den Mittelmeer¬
raum mit dem Terai und dem Himalaya vergleicht, erkennt die Unter¬
schiede. Wenn Religionen und Philosophien, die in diesen Gebieten Asiens
wurzeln, nicht ganz so zuversichtlich anmuten wie die meisten euro¬
päischen, ist das nieht ver"wunderlich. Diese andere Ausgangssituation
der indischen Philosophie sollte von Anfang an mitberücksiehtigt werden,
sobald man sich fragt, warum dort keine Emanzipationsbewegungen der
Wissenschaften, die den westlichen an Kraft und Wirkung vergleichbar
wären, stattfanden. Der Stellenwert der Befreiung von der Not infolge
einer Überforderung seitens der Natur war und bheb im indischen
Denken ein anderer als im westlichen. So können wir verstehen, wenn
das Erlösungsmotiv in der indischen Philosophie eine so hervorra¬
gende Rolle einnahm und behielt. Der Mensch kann seine Befreiung auf
zwei Weisen versuchen: Einmal, wie im Westen, befreit er sich von
äußeren Zwängen. Er läuft Gefahr, innerlich zu verlieren, was er äußer-
üch gewann. Die Inder gingen den Weg der inneren Befreiung. Er
führte sie in äußere Abhängigkeit. Gibt es eine Synthese beider Be¬
freiungsarten? In ihr würde erst das Höchstmaß menschlicher Freiheit
verwirkhcht, insofern nicht, wie jetzt, eine Freiheit der anderen ge¬
opfert wird. Der westliche Weg der Naturbeherrschung und des Nutzens
muß durch den indischen Weg der Meditation und Weisheit ergänzt
werden. Zahlreiche mehr oder weniger seriöse Sektengründungen, z.B.
die Transzendentale Meditation, zeigen, daß in den USA und in Europa
ein ernstes und ernstzunehmendes Bedürfnis nach kultureller
Kommunikation zwischen Asien und Europa bzw. Amerika besteht.
3.
Was nun die indische Philosophie betrifft, wird der Trennungsstrich
zwischen der ältesten vedischen Literatur, in der noch der Ritualismus
vorherrscht, und den Upanisaden, in denen die rituellen Momente zwar
noch eine Rolle spielen, aber sich doch unverkennbar auch ein Zug zur
Selbständigkeit des Erkennens anmeldet, verschieden stark gezogen.
1* Paul Deussen: Sechzig Upanishad's des Veda. Leipzig ^1938, VIT,
sieht den Unterschied in Analogie zur jüdisch-christlichen Tradition: ,,Die Upanishad's sind für den Veda, was für die Bibel das Neue Testament ist."
Überweg, op. cit., 13, findet schon im Rigveda Anfänge philosophischen
Denkens. Walter Ruben: Die Entwicklung der Philosophie im alten Indien.
Berlin 1971, 60, bemerkt dazu: ,,Von einer Philosophie der homerischen
Epiker kann . . . ebensowenig die Rede sein wie von der der rgvedischen
Mit einigem Recht spricht D. Chattopadhyaya^* im Hinblick auf die
Upanisaden von einer „Emanzipation des Denkens".Nach ihm „ist
das, was die Upanishads kennzeichnet, eine völlig neue Denkhaltung.
Wir finden in ihnen die erste Emanzipation des spekulativen Bewußt¬
seins von dem alles verschlingenden Interesse an dem magischen
Ritual."^^ Wenn es auch nicht zutrifft, daß die indische Philosophie
allgemein als religiös, spiritualistisch und weltfeindlich anzusehen ist,
unterscheidet sie sich schon von der griechischen durch ihre größere
Sorge um das Geschick des Menschen.
Sehen wir uns daraufhin einige Upanisad-Texte an ! Im ersten IChanda
der Chändogya-Upanisad^* läßt sich der Brahmane Närada von dem
Kriegsgott Sanatkumära belehren: Bringe mir vor, was du schon
weißt, so werde ich dir das darüberhinaus Liegende kundmachen."
Närada zählt darauf eine Reihe religiöser, wissenschaftlicher, künst¬
lerischer und magischer Disziplinen auf, hält sich zwar für schriften-
aber nicht für ätmankundig, will jedoch weiterlernen, um den Kummer
zu überwinden: ,,'So bin ich, o Ehrwürdiger, zwar schriftkundig aber
nicht ätmankundig; denn ich habe gehört von solchen, die dir gleichen,
daß den Kummer überwindet, wer den Ätman kennt : ich aber, o Ehr¬
würdiger, bin bekümmert; darum solltest du mich, o Herr, zu dem
jenseitigen Ufer des Kummers hinüberführen !' — Und er sprach zu
ihm: , Alles, was du da studiert hast, ist nur Name {ndman). Name
ist der Rigveda, Yajurveda, Sämaveda, der Atharvaveda als vierter,
die epischen und mythologischen Gedichte als fünfter Veda, Grammatik,
Manenritual, Arithmetik, Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Göt¬
terlehre, Gebetlehre, Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie,
Schlangenzauber und die Künste der Musen, — das alles ist Name.'"
Wir erinnern uns an Goethes ,,Name ist Schall und Rauch". Deutlich
Dichter." In seinem Buch: Die gesellschaftliche Entioicklung im alten Indien.
Berlin 1973, 67, heißt es, das Denken der Priesterdichter habe dort „kurz
vor dem Beginn der Philosophie" gestanden. ,, Philosophie war als von
Wissenschaft oder Religion und Theologie verschiedene Bewußtseinsform
noch nicht herausgebildet." Den Übergang zu den Upanisaden behandelt
S. Radhakrishnan: Indische Philosophie. 1. Darmstadt 1956, 99—115. Nach
ihm sind sie einerseits ,, Vollendung der vedischen Lehren", andererseits J.Grundlage fast aller späteren philosophischen und religiösen Lehren Indiens"
(117).
^° Indische Philosophie. Berlin 1975, 57.
^1 Soweit diese Arbeit den Vorrang des materialistischen Denkens in
Indien zu erweisen sucht, beweist sie ihren ideologischen Charakter.
" Ebd.
N. V. Banebjeb : Glimpses of Indian Wisdom. Neu Delhi 1972, 3.
7, 1. P. Deussen, op. cit. 174.
138 E. R. Sandvoss
wird hier das erlösende Wissen über alles sonstige gesetzt. Wie aber
wird man ätmankundig? Einige Verse aus der Käthaka-Upanisad geben
darüber Auskunft^^.
„Nicht durch Belehnmg wird erlangt der Ätman,
Nicht durch Verstand imd viele Schriftgelehrtheit;
Nur wen er wählt, von dem wird er begriffen :
Ihm macht der Ätman öffenbar sein Wesen."
OfiFensichthch reicht der Erkenntniswille allein nicht aus. Nur das
Selbst, nicht die äußere Erfahrung, vermittelt dem Suchenden Selbst¬
erkenntnis. Selbsterkenntnis aber bedeutet Lösung von der Erscheinungs¬
welt, Erlösung vom Sehein. Eine Stelle der Maiträyana-Upanisad läßt
die Dialektik von Wissen und Nichtwissen erkennen :
,,Doch wer Wissen und Nichtwissen, Eins wie das andre kennt, erlangt Rettung vom Tod durch Nichtwissen Und durch Wissen Unsterblichkeit.
In des Nichtwissens Tiefe hin sich windend.
Sich selbst als Weise, als Gelehrte wähnend.
So laufen ziellos hin und her die Toren,
Wie Blinde, die ein selbst auch Blinder anführt."^^
2* I, 2, 23. Deussen, op. cit. 275. Zur Interpretation vgl. : Eight Upanisads.
1. Koimnentiert von Sankaräcärya, übersetzt von Swämi Gambhiränanda
Kalkutta '1972, 148 f.
7, 9. Deussen, op. cit. 367. Vgl. auch Brhadäranyaka-Upanisad 4
4, 10; 19—21. Deussen, op. cit. 478f.:
,,In blinde Finsternis fahren,
Die dem Nichtwissen huldigen ;
In blindere wohl noch jene,
Die am Wissen genügten sich.
Im Geiste soll man dies merken :
Nicht ist hier Vielheit irgendwie !
Von Tod in neuen Tod stürzt sich.
Wer hier Versohied'nes meint zu sehn.
Als Einheit soll man anschauen.
Unvergänglich, imwandelbar.
Ewig, nichtwerdend, nichtalternd.
Raumerhaben das große Selbst.
Ihm forsche nach, wer als Weiser,
Als Brahmano nach Weisheit ringt,
Nicht trachte er nach Schriftwissen, Das nur Reden ohn' Ende bringt!"
Ein Vergleich mit dem sokratischen Wissen des Nichtwissens liegt
nahe. Während das wissende Nichtwissen des Sokrates das Wissen von
Unwissenheit reinigt und für echtes Wissen öffnet, liegt im indischen
Text der Akzent auf der Befreiung vom Tod durch Nichtmssen. Die
sokratisehe Negation nichtwissenden Wissens führt, wie Nietzsche
richtig erkannte, zur Emanzipation des (gereinigten) Wissens. Im in¬
dischen Text bleibt dieser Weg verschlossen. Die Erlösung des Selbst
vom Wissen und Nichtwissen bleibt letztes Ziel. Es läßt sich einfach
nicht leugnen, daß sich mit der Abwertung des Weltwissens, wie sie im
Westen schon von Heraklit^' vorgenommen wurde, mit dem Vorrang
der Selbsterkenntnis, den Sokrates forderte^^, im indischen Denken
ein Motiv verbindet, das eine bestimmte Art christlicher Einstellung
charakterisiert: Eitelkeit bzw. Nichtigkeit alles Weltlichen. Im 5. Bräh¬
mana der Brhadäranyaka-Upanisad^' befragt Kahola, der Abkömmling
des Kusitaka, den Weisen Yäjfiavalkya, der oft mit Sokrates ver¬
glichen wird:
,, Yäjnavalkya, so sprach er, ,,eben das immanente, nicht transzen¬
dente Brahman, welches als Seele allem innerlich ist, das sollst du mir
erklären." — ,,Es ist deine Seele, welche allem innerlich ist." —
,, Wei che, o Yäjnavalkya, ist allem innerlich?" — ,, Diejenige, welche
den Hunger und den Durst, das Wehe und den Wahn, das Alter und
den Tod überschreitet. —• Wahrlich, nachdem sie dieser Seele sich be¬
wußt geworden, stehen die Brahmanen ab vom Verlangen nach Kindern
und Verlangen nach Besitz und Verlangen nach der Welt und wandern
umher als Bettler; denn das Verlangen nach Kindern ist Verlangen
nach Besitz, und das Verlangen nach Besitz ist Verlangen naeh Welt;
denn alle beide sind eitel Verlangen. — Darum, nachdem der Brahmane
von sich abgetan die Gelahrtheit, so verharre er in Kindlichkeit ; nachdem er abgetan die Kindlichkeit und die Gelahrtheit, so wird er ein Schweiger
(Muni); nachdem er abgetan das Nichtschweigen und das Schweigen,
so wird er ein Brähmana. — Worin lebt dieser Brähmana? ■— Darin,
worin er lebt, wie es eben kommt. — Was von ihm verschieden, das
ist leidvoll." —
Da schwieg Kahola, der Abkömmling des Kushitaka."
2' 22 B 40, Hebmann Dibls: Die Fragmente der Vorsokratiker. 1.
Berlin '1951, 160: ,, Vielwisserei lehrt nicht Verstand <Noon> haben.
Sonst hätte sie's Hesiod gelehrt und Pythagoras, ferner auch Xenophanes
und Hekataios."
Platon, ,Phaidros' 229 e: ,,Ich vermag mich, gemäß der Inschrift in
Delphi, nicht selbst zu erkennen. Es erscheint mir jedoch lächerlich, solange ich dies noch nicht kenne, das übrige zu erforschen."
2» 3, 5 1. Deussen, op. cit. 436.
140 E. R. Sand VOSS
Während sich aber im Westen seit der Renaissance, dem Zeitalter
der Entdeckungen und des Humanismus, ein Widerspruch gegen die
weltverneinenden Tendenzen des Christentums erhob und ein Spannungs¬
feld zwischen Glauben und Wissen, Weltverneinung und Weltbejahung,
Erlösungssehnsucht und Fortschrittsglauben entstand, blieb eine ent¬
sprechende Gegenbewegung im indischen Geistesleben aus. Im Denken
Yäjnavalkyas dominieren Motive, wie wir sie bei Sokrates, Platon und
im Neuen Testament finden, nur daß alles ausschließlich und folgerichtig
auf die Erkenntnis und Erlösung des Selbst abzielt. Als
Yäjnavalkya sich von seinen beiden Gattinnen trennte, sprach die
eine, Maitreyi, die der Rede vom Brahman kundig war: ,, 'Wenn
mir nun, o Herr, diese ganze Erde mit allem ihrem Reichtum e an¬
gehörte, würde ich etwa dadurch unsterblich sein, oder nicht?' —
,Mit nichten', sprach Yäjnavalkya, 'sondern wie das Leben der Wohl¬
habenden, also würde dein Leben sein; auf Unsterblichkeit aber ist
keine Hoffnung durch Reichtum.' — Da sprach Maitreyi :' Wodurch ich
nicht unsterblich werde, was soll ich damit tun? Lege mir lieber, o Herr,
das Wissen aus, welches du besitzest!' Yäjnavalkya sprach: 'Lieb warst
du uns wahrlich schon, o Herrin, und hast die Liebe noch vergrößert;
wohlan denn, o Herrin, ich will es dir erklären; du aber merke auf
das, was ich dir sage.' "
Es folgt eine Aufzählung von Gegenständen, die nicht um ihrer
selbst willen, sondern um des Selbstes willen zu erstreben sind: Gatte,
Gattin, Söhne, Reichtum, Tiere, Brahmanenstand, Kriegerstand, Welten,
Götter, Veden, Wesen, Weltall. Der Abschnitt schließt mit den Worten :
,,Das Selbst, fürwahr, soll man sehen, soll man hören, soll man ver¬
stehen, soll man überdenken, o Maitreyi; fürwahr, von wem das Selbst
gesehen, gehört, verstanden und erkannt worden ist, von dem wird
diese ganze Welt gewußt."
Wer die folgenden Gegenstände außerhalb des Selbstes weiß, den
geben sie preis: der Brahmanenstand, Kriegerstand, die Welten, Götter,
Veden, Wesen, das Weltall: ,,Der Brahmanenstand wird den preis¬
geben, der den Brahmanenstand außerhalb des Selbstes weiß; der
Kriegerstand wird den preisgeben, der den Kriegerstand außerhalb des
Selbstes weiß ; die Welten werden den preisgeben, der die Welten außer¬
halb des Selbstes weiß; die Götter werden den preisgeben, der die
Götter außerhalb des Selbstes weiß; die Veden werden den preisgeben,
der die Veden außerhalb des Selbstes weiß; die Wesen werden den
preisgeben, der die Wesen außerhalb des Selbstes weiß; das Weltall
wird den preisgeben, der das Weltall außerhalb des Selbstes weiß.
Dieses ist der Brahmanenstand, dieses der Kriegerstand, dieses die
Welten, dieses die Götter, dieses die Veden, dieses alle Wesen, dieses
das Weltall, was dieses selbst (diese Seele) ist."
In der Mändükya-Upanigad des Atharvaveda werden Wachen und
Träumen nicht grundsätzlich unterschieden :
„Des Wachens Tun ist zweckmäßig,
Aber nicht, werm wir trämnen mehr;
Drmn, weil es anfängt und aufhört.
Kann auch es nur auf Trag beruhn.
Was er träumend im Geist bildet.
Innerlich, das ist unreal.
Wiewohl sein Geist es griff draußen.
Als gesehn unwahr beides ist.
Umwandelnd stellt er als andres
Vor, was nur im Bewußtsein ist.
Als draußen und als notwendig Stellt in sich es der Ätman vor.
Weim er als Präna's, als alle Die vielen Dinge uns erscheint.
So ist das alles nur Blendwerk {mayä).
Mit dem der Gott sich selbst betrügt.
Wie Traum imd Blendwerk man ansieht.
Wie eine Wüstenspiegelimg, So sieht an diesos Weltganze,
Wer des Vedänta kundig ist.
Wer so erkarmt der Welt Wesen,
Der halte an der Einheit treu ; Der Zweiheitlosigkeit sicher.
Geht er kalt an der Welt vorbei.
Keine Seele entsteht jemals.
Kein Entstehn ist der ganzen Welt, Das ist die höchste Heilswahrheit, Daß es nirgend ein Werden gibt!"'"
Wer die Außenwelt und das Entstehen als Schein durchschaut hat,
hat ,,die höchste Heils Wahrheit" erlangt, wird weise, erstrebt nichts mehr und ,,geht zur Ruhe ein".
,,Wer voll besitzt die Allschauung, Den zweiheitlosen Brahman-Ort,
An dem nicht Anfang, Mitt', Ende,
Dem bleibt nichts zu erstreben mehr.
»<• 2; 7; 9; 13; 19; 31; 36; 48. Deussen, op. cit. 585ff. Vgl. Eight Upani- ahada. 2. Kalkutta '1973, 237ff.
142 E. R. Sand VOSS
Das heißt echte Gemütsruhe, Das ist die wahre Priesterzucht, Das ist der Selbstnatur Zähmung, Wer sie keimt, geht zur Ruhe ein.''^^
Das Werk Sarva-upanisat-sära definiert die Begriffe Ätman, Bindung,
Erlösung, Nichtwissen und Wissen :
,,Der Atman ist Gott. Wenn aber einer wähnt, der Leib usw., welcher
nicht der Ätman ist, sei der Ätman, so heißt dieser Wahn die
Bindung [bandJia) des Ätman. Das Zunichtewerden dieses Wahns ist
die Erlösung (moksha). Was jenen Wahn bewirkt, ist das Nicht¬
wissen (avidyä). Das, wodurch der Wahn zunichte wird, ist das Wissen
(vidyä)."^^
Echtes Wissen ist, so stellt es die Brahmabindu-Upanisad dar, Er¬
lösungswissen, „das andere ist gelehrter Kram".
,,Das Manas also ist TJrsach,
Der Bindung und Erlösimg uns :
Der Bindung, am Objekt hängend.
Der Erlösung, wenn frei davon.
Weil denn durch das objektlose
Manas bedingt Erlösung ist.
Darum soll, wer nach ihr trachtet.
Sein Manas vom Objekt befrei'n.
Wer frei von Sinnenwelthaftung
Sein Memas schließt im Herzen ab.
Und so zur Manaslosigkeit
Gelangt, der geht zum Höchsten ein.
So lange hemme dein Manas, Bis im Herzen es wird zunicht.
Das ist Wissen, ist Erlösung, Das andre ist gelehrter Kram.
Der Weise, Bücher durchforschend Nach Wissensemsicht, die real.
Wie die Spreu, wer nach Korn trachtet.
Wirft weg den ganzen Bücherkram."''
Damit stimmt die Amrtabindu-Upanisad überein :
,,Der Weise, der die Lehrbücher Las und studierte fort imd fort.
Des Brahmanwissens teilhaftig.
Wirft sie von sich, als brennten sie."'*
" Ebd. 4, 85f. Deussen, op. cit. 603. Vgl. Eight Upanishads, 2, 388f.
'2 1—4. Deussen, op. cit. 623.
" 2—5; 18. Deussen, op. cit. 647 ff. " 1. Deussen, op. cit. 651.
Danach erscheint es kaum haltbar, die Priorität der Selbsterkenntnis,
der Heilsweisheit und des Erlösungswissens vor allem übrigen Wissen
zu leugnen. Dieser Vorrang der Weisheit vor der Wissenschaft,
des Dogmas vor der Empü-ie, behauptete sich später aueh in den nicht-
spiritualistischen Gedankengebäuden. Die materialistischen Lehren der
Lokäyatas und Cärväkas blieben nicht weniger spekulativ als die
idealistischen^^. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der indischen
und westlichen Geschichte der Philosophie ist die schvtderigere Abgrenz-
barkeit der indischen. Der klassischen Einteilung der westlichen Pliilo¬
sophie in antike, mittelalterliche und neuzeitliche steht auf indischer
Seite kein vergleichbares Schema gegenüber. Wenn man mit Radhakrish¬
nan^* die vedische Periode (1500—600 v. Chr.) noch relativ klar von der
epischen Periode (600 v. Chr. — 200 n. Chr.) abgrenzen kann, lassen sich
die Perioden der Sütren und die scholastische Periode weniger genau
unterscheiden und reichen beide bis 200 n. Chr. zurück. Obwohl wir,
wie bereits angedeutet, innerhalb der indischen Denktradition bereits
früh antispirituahstische und antireligiöse Systeme vorfinden, kommt
es jedoch niemals zu einer Emanzipation der Wissenschaften von der
Philosophie, die der westhchen Entwicklung vergleichbar wäre. Die philo¬
sophischen Positionen der Upanisaden bleiben im Kern erhalten und
werden nicht wesentlich modifiziert.^'
So hat sich im indischen Denken, soweit es nicht unter westhchem
Einfluß stand, die Situation erhalten, wie wir sie im Westen im Mittel¬
alter beobachten können. Man beschränkt sich auf die Auslegung von
Texten, wobei die westhch-scholastische Formel: 'Phüosophia ancilla
theologiae', mutatis mutandis, auch für die geistesgeschichthche Situation
in Indien gelten dürfte. Das heißt nicht, daß die Inder nicht und nicht
Diese Ähnlichkeit trotz entgegengesetzter Lelirmeinimgen verkennt
Chattopadhyaya, op. cit. 225. So bleibt ihm schließlich nur dio ideologisch
gefärbte Parallele des indischen und europäischen Denkens hinsichtlich der
Verfolgung : Hier die mutigen, 'wissenschaftlichen' Materialisten, die verfolgt werden, dort die herrschenden Priester und Idealisten, die der Ausbeuter¬
klasse zugeordnet werden. Ch. stellt auf europäischer Seite Galilei Descartes
gegenüber (op. cit. 226). Der eine wrde verfolgt, der andere pilgerte zur
Jungfrau von Loretto zum Dank für die Erfindung der analytischen Geo¬
metrie.
3« Op. cit. I, 44ff.
" Vgl. H. V. Glasenapp : Indische Oeisteswelt. Baden-Baden o.J., 175:
„In den großen Grundfragen nach Sinn und Ziel des Lebens und in den
von ihnen empfohlenen meditativen Methoden zur Verwirklichung eines er¬
strebten Heilzustandes stehen sie hingegen mehr oder weniger auf einer
gemeinsamen Basis."
144 E. R. Sand VOSS
sogar schon sehr früh die Wissenschaften gepflegt hätten, aber sie ge.
wannen, wie die zitierten Upanisad-Texte bereits erkennen lassen, unter
der eindeutigen Vorherrschaft von Religion und Philosophie
nie die Bedeutung wie im Westen seit Bacon und Descartes, die Philo,
sophen und (moderne) Wissenschaftler in einer Person waren.
Im einzelnen entwickelten sich Philosophie und Wissenschaften im
indischen Bereich etwa so :
Auf die heiligen Texte der vedischen Offenbarung, die vier Samhitäs
(Rigveda, Sämaveda, Yajurveda, Atharvaveda), auf Brähmana-Texte
und Upanisaden folgen die Werke menschlichen Ursprungs, die 'Erin,
nerungen' (Smrti). Zu ihnen gehören das Mahäbhärata- und das R§,-
mäyana-Epos, die Puränas oder Lehrgedichte, die Ägamas (Überlie.
ferung) und Tantras (Texte) sowie das Gesetzbuch des Manu. Um 530 v
Chr. gründete wahrscheinhch Vardhamäna Mahävira aus Bihar die Sekte
der Jainas. Im Gegensatz zu den Veden huldigten sie dem Atheismus
und Materialismus, in dem Willen, sich von den Leidenschaften zu
befreien, irdische Güter abzuwerten und dem Streben nach Erlösung
stimmen sie mit ihnen überein. Fast zur gleichen Zeit wie der Jainismus
entstand der Buddhismus, als Urbuddhismus mehr eine philosophische
ebenfalls gegen die Veden gerichtete Lehre, neigte er später aber mehr
zum Rehgiös-Praktischen^*.
Je nachdem, ob man den Brahmanismus, beginnend mit derUpanisa-
den-Zeit, vom Hinduismus trennt oder ihn mit der Zusammenfassung
Sahkaras beginnen läßt, erhält man als Anfangszeit entweder ea. 800
V. Chr. oder 800 n. Chr. Im Hinduismus verschmelzen Elemente der
vedisch-brahmanischen Religion der arischen Einwanderer mit Bestand¬
teilen vorarischer Religionen aus dem Industal und Südindien. Der
Hinduismus hat keinen Gründer, keine Dogmatik und verzichtet auf
Bekehrung, wird als ewige Religion (sanätana dharma) angesehen, die,
tolerant und weitherzig, sowohl Poly- als auch Monotheisten, ja sogar
Atheisten aufnimmt. Wesenthch für den Hinduismus sind nur Kasten-
'' Zur Gemeinsamlceit der Jainas tmd Vedäntins vgl. H. v. Glasenapp:
Die Weisheit des Buddha. Baden-Baden 1946, 31. Auch der Buddhismus
war eine philosophische Heilslehre (ebd. 35f.). Es werden fünf Gruppen
(Skandhas) von Daseinsfaktoren (dharmas) unterschieden: Körper (rüpa),
Gefühl (vedanä), Wille (sarnskärä), Erkenntnis (sarnjnä) und Bewußtsein
(vijnäna). Vgl. ferner: Edward Conze: Der Buddhismus. Stuttgart *1971,
62ff. G. Mensching: Buddhistische Oeisteswelt. Baden-Baden o. J. 89£f.
Zugehörigkeit und Anerkennung der Veden. Man unterscheidet sechs
klassische, orthodoxe, d.h. vedagläubige Systeme, wobei jedes System
ein , .Gemisch von Logik und Psychologie, Metaphysik und Religion"
ist^'. Mimärnsä, Nyäya und Vaisesika, Sänkhya, Yoga und Vedänta**.
Die Mimämsä erörtert Opfertexte und endet im Pluralismus, der Nyäya
ist eine Schule des Denkens, das Vaisesika neigt zum Reahsmus, der
sich auf eine Kategorien- und eine Atomlehre gründet*^, das Sänkhya
vereinigt Kosmologie und Heilslehre, der Yoga*^ faßt die Meditations¬
praxis zusammen, der Vedänta gelangt, im Anschluß an die Upanisaden,
zum Monismus. Im Gegensatz zu den sechs orthodoxen Systemen stehen
zwei mit antireligiöser Tendenz. Die Cärväkas, indische Materiahsten,
unterscheiden, wie die antiken Denker hn Westen, vier Grundstoffe:
Erde, Wasser, Feuer, Luft, aus denen sie alles übrige ableiten. Sie
bleiben nicht bei der Negation der Religion stehen, sondern negieren
folgerichtig auch sittliche Pflichten und Ordnungen. Eine andere extreme
Richtung vertreten, im Anschluß an den Mahäyäna-Buddhismus, die
indischen Sohpsisten. Sie reduzieren die Erscheinungswelt auf Spiege¬
lungen des Ichs. So wenig es angeht, die nicht-idealistischen Systeme
vom indischen Denken auszuschließen, ebenso wenig läßt sich eine
(quantitative oder qualitative) Gleichwertigkeit der idealistischen und
der materialistischen Tradition etablieren. Unter dem Einfluß des Islam
und des Christentums wandelte sich das indische Denken sicher in
mancher Hinsicht*^. Die durchgehende Dominanz der Heilslehre
sowie die ausbleibende Spannung zwischen Religion und Philosophie
einerseits, der Philosophie und den Wissenschaften andererseits, ver¬
hinderten einen der westlichen Entwicklung vergleichbaren Prozeß
wissenschaftlicher Emanzipation. So braucht man sich nicht zu wundern,
wenn A. L. Basham** seine Darstellung der Glanzzeit indischer Rehgion
und Philosophie mit den genannten ,,Six Systems of Salvation" aus¬
klingen läßt. Von Glasenapp erwähnt in seiner Darstellung der
indischen Geisteswelt noch den Visnu- und Siva-GIauben sowie die
Säktas der nachklassischen Zeit, die jedoch kein nennenswertes neues
philosophisches Gedankengut enthalten und daher hier außer Betracht
bleiben können.
*" Radhakrishnan, op. cit. II, 15.
Vgl. hierzu: Heinrich Zimmer: Philosophie und Religion Indiens. Zürich 1961, 537ff.
Vgl. A. B. Kbith: Indian Logic and Atomism. New York 1968.
" Vgl. Geraldine Coster: Yoga and Western Psychology. Delhi *1974.
Vgl. V. Glasenapp: Indische Oeisteswelt, 200.
The Wonder that was India. Kalkutta *1971, 325ff.
10 ZDMG 129/1
146 E. R. Sandvoss
Wie vollzog sich indessen die Entwicklung der indischen Wis -
senschaften? In Darstellungen indischer Kultur entfallen die Wis¬
senschaften entweder ganz oder nehmen, verglichen mit Religion und
Philosophie, einen bescheidenen Raum ein. Es läßt sich jedoch nicht
leugnen, daß indisches Denken, auch auf wissenschafthchem Gebiet
beachtliche Leistungen hervorbrachte*^: In Arithmetik, Algebra, Tri¬
gonometrie und Astronomie. Bei den Griechen dominierte die Geometrie.
Sie verstanden Größe vor allem in räumlichem, die Inder in zahlen¬
mäßigem Sinn. Bekannt ist die indische Entdeckung der Null (sünya),
eine Größe, die wahrscheinhch schon in der hinduistischen und bud¬
dhistischen Philosophie konzipiert wurde. Für die Astronomie ist die
Tatsache vielleicht bezeichnend, daß die Inder kein Fernrohr besaßen.
Im Westen erweitert sieh dagegen das Erfahrungswissen durch den Ein¬
satz technischer Mittel. Die ^vissenschaftlichen Forschungen der Inder
erstreckten sich etwa von 800 v. Chr. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr.
Neben der Mathematik sind an 'empirischen' Wissenschaften noch zu
nennen: Physik, Chemie, Biologie und Medizin. Der Satz von der Er¬
haltung der Energie und Masse scheint intuitiv erfaßt zu sein. Das
Kausalitätsprinzip ergab sich wohl aus der Annahme der Transformier¬
barkeit beider. Das Sähkhya-Pataftjali**-System sucht den Aufbau der
Materie zu enträtseln. Andere Zweige der Physik waren Optik, Aku¬
stik, Kinetik. Ebensowenig wie im Westen besaß die Chemie anfangs
den Rang einer selbständigen Wissenschaft. Die Chirurgie, von Suäruta
entwickelt, etablierte sieh im 2. Jahrhundert n. Chr. als Kunst. Ähn¬
liches leistete auf dem Gebiet der Heilkunde Caraka (1.—2. Jahrhundert
n. Chr.). Caraka und Susruta, später Gunaratna (1350 n. Chr.) befaßten
sich auch mit biologischen Fragen, vor allem mit der Klassifi¬
zierung von Pflanzen und Tieren. Auf all diesen wassenschaftlichen Ge¬
bieten blieben die indischen Wissenschaften hinter den neuzeitlichen
u.a. deswegen zurück, weil sie keine genauen Meßinstrumente besaßen
und dem Experiment als unabhängiger Methode der Entdeckung und
Überprüfung kaum Beachtung schenkten.
5.
Im ganzen muß anstelle der pauschalen Urteile, die indische Philo¬
sophie sei niehts anderes als religiöser Mystizismus und Wissenschaften
Vgl. hierzu: Radhakbishnan: History of Philosophy, Eastem and
Westem. 1. London 1952, 431ff.
" Vgl. hierzu: J. H. Woods : The Yoga-System of Patanjali. Delhi »1966.
(Harvard Oriental Series. 17.), XIII.
" Vgl. Rigveda 10, 82, 7.
Über das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft 147
habe es dort nicht gegeben, eine differenziertere Betrachtungs¬
weise treten. Gelegentliche Kritik am Sinn der religiösen Riten findet
sich schon in den vedischen Texten*', aber es kam nie zu einer
Emanzipation, die der sophistischen in Griechenland vergleichbar wäre.
Platon versuchte dann einen Mittelweg zwischen Volksreligion und Auf¬
klärung einzuschlagen und gelangte zu einem kritisch gereinigten Ver¬
nunftglauben wie später ähnhch Kant. Das Spektrum der indischen
W^issenschaften deckt sich weitgehend mit dem westlichen bis zum
Ausgang des Mittelalters, dann aber blieben die indischen Wissenschaften
auf dem Niveau der mittelalterhchen artes liberales stehen. Die Ur¬
sachen für die im indischen Kulturbereich ausbleibende Wendung der
Wissenschaften zur weltverändernden Macht sind, wie wir erkannten,
mannigfach: geographische, psychische, politische und historische. Im
Westen vermochte der Mensch mäßig starken Herausforderungen der
I Natur angemessen zu antworten. Er wurde nicht überfordert wie in
Indien. Die Tendenz zur Integration, die Intention des Ganzen ließ
radikalen Zweifel wie den des Sokrates mit den daraus entspringenden
positiven Folgen für die Wissenschaften, wie z.B. die Begründung
strengen vmd methodischen Denkens, d.h. die unbegrenzte Dialektik
von Analyse und Synthese, ein Denken, das immer einseitig ist und sein
muß, um weiterzuführen, nicht aufkommen. Während im Westen das
Zeitalter der Entdeckungen den Wissenschaften ein unermeßliches Be¬
tätigungsfeld erschloß bzw. die Wissenschaften dieses Zeitalter mit
ermöglichten, überschwemmten Eroberer und neue Religionen Indien.
! Für die Vertreter der indischen Philosophie und Wissenschaft bestand
weder der Antrieb, die Welt zu erschheßen, noch die Macht der Priester
zu verringern. Das indische Denken blieb religiösen Ansprüchen gegen-
I über fügsamer. Man stritt zwar hier und da um Lehrmeinungen, man
I gelangte sogar zu atheistischen und materialistischen Standpunkten, an
I den Grundlagen wurde jedoch, wie wir sahen, nicht ernsthch gerüttelt :
an der Ganzheit der Wahrheit, rehgiöser und philosophischer, am Streben
nach Erlösung, Glück, nieht nach Macht und Nutzen, an der Gültigkeit
I der Kastenunterscliiede. Wenn die materialistische Phüosophiege-
sehichtsschreibung heute alles dies in einen Topf zu werfen sucht, mit
I Schlagworten wie 'Feudalismus', 'Ausbeutung', 'Idealismus-Materialis-
j mus' zu erklären meint, mit der mehr oder weniger ausgesprochenen
Tendenz, die ,, idealistische' Komponente als Ideologie abzuwerten, läßt
sich das im Hinblick auf die Tatsachen nicht aufrecht erhalten. Die
.' indische Philosophie war nie eigentlich 'materialistisch' wie sie auch nie
eigentlich 'idealistisch' war. Idealismus und Materialismus sind spezifisch
westliche Denkextreme, die jene Emanzipationsbewegungen, zu denen
es im indischen Kulturbereich nie kam, gerade erst voraussetzen. Die
10»
m
148 E. R. Sandvoss, Über das Verhältnis der Philosophie
Kombination der vorher genannten Faktoren bewirkte in Europa u.a
die Emanzipation der Wissenschaften von der Weisheit, der Technik von.
der Wissenschaft, in Indien dominierte dagegen die Weisheit oder das
Streben nach ihr weiterhin und dominiert heute noch, sofern die Weis¬
heit nicht zum Aberglauben entartete oder dazu gestempelt und von
den Errungenschaften der westlichen Zivilisation verdrängt wurde. Das
ist die Problemsituation, vor der die indischen Politiker und Kultur¬
träger heute stehen: Sollen sie ihre rehgiöse, ihre philosophische Tradi¬
tion als Aberglauben über Bord werfen und westliche Ideologien, Theo-
rien und Denkschemata übernehmen, oder sollen sie die Herausforde¬
rung des Westens annehmen und mit den geistigen Waffen ihrer
Tradition in eine Auseinandersetzung eintreten, die zunächst für sie
dann aber auch für den Westen nützlich werden könnte. Für Indien
würde eine bewußte Auseinandersetzung mit westlicher Kultur und
Tradition zu einer Reaktivierung der eigenen geistigen Kräfte führen,
dem Westen könnte die Synthese von indischer Weisheit mit
moderner Wissenschaft insofern nicht schaden, als dadurch einmal
ein gesünderes Verhältnis zur Natur, sodann aber auch ein vertieftes
soziales Empfinden geweckt würde, d.h., daß bei der von beiden Seiten
ersehnten und geschichtlich längst fälligen geistigen Begegnung von Ost
und West das gemeinsame Ziel sein müßte, die positiven Kräfte der
indischen Kultur für den Westen 'nutzbar', die negativen für die
Inder 'unschädlich' zu machen.
Ii
Von Volker Moeller, Berlin
Der kunstgesehichtlich interessierte Indologe wird mit Freude naeh
dem seit 3 Jahren im Druck vorhegenden Referat von 0. von Hinüber
über Das Nandyävarta-SymboV- greifen. Hier wird die Lösung eines
Problems angeboten, das seit Coomaraswamys 50 Jahre zurückliegenden
Notes on Indian coins and symbols^ nicht mehr aufgegriffen wurde.
Die Bedeutung des in Neuland der Symbolforschung führenden Arti¬
kels sollte jedoch Anlaß sein, noch einmal den für die Beweisführung
wesentlichen Quellen nachzugehen.
Zunächst sei in wenigen Worten die vom Autor gegebene Bestands¬
aufnahme vtdederholt, um die Fragestellung zu verdeutlichen: Der
Nandyävarta läßt sicli in der uns geläufigen Form, als ein durch ge¬
brochene Linien erweiterter Svastika, in den Miniaturen zum Kalpasütra
bis zum 14., allenfalls bis zum 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Er
kehrt hier regelmäßig in den Reihen der acht Glückszeichen wieder.
Einzelne handschriftliche Besehreibungen dieser Figur führen noch einige
Jahrhunderte weiter zurück. Doch im 8. oder 7. Jahrhundert verliert
sich auch diese Spur. In älteren Aufzählungen ^räd zwar ein Nandyä¬
varta-Symhol erwähnt, jedoch fehlen jegliche Darstellungen des uns aus
Mittelalter und Neuzeit vertrauten Zeichens. Auch die Ayägapatas aus
dem 2. Jahrhundert vom Kankäli Tilä, unter deren Symbolreihen wir
den Nandyävarta hätten erwarten müssen, geben uns keinen Hinweis
auf die vermißte Figur. Sollte der Name also ursprünglich einem anderen
Zeichen zuzuordnen sein?
Der Autor schreibt hierzu: ,, Ausgangspunkt für die Lösung des Prob¬
lems kann nun der bereits genannte jinistische Stüpa von Kankäli Tilä
sein. Hier vmrde die Basis eines Jinabildes gefunden, die etwas links
1 OsKAB VON Hinüber: Das Nandyävarta-Symbol. Li: ZDMG Suppl. II =
XVIII. Deutscher Orientalistentag 1972 in Lübeck. Wiesbaden 1974, pp.
356—365.
^ Ananda Coomaraswamy : Notes on Indian Coins and Symbols. In : Ost¬
asiatische Zeitschrift 14 = NF 4 (1927/28), pp. 175—188. Einen kurzen
Überblick gibt außerdem : P. V. Bapat : Four auspicious things of the
Btiddhists: irivatsa, Svastika, Nandyävarta and Vardhamäna. In : Indica. The
Indian Hist. Res. Inst. Silver Jubilee Comm. Vol. Bombay 1953, pp. 38—46.