M 01/2000 GEF 15. März 2000 44C Motion
0919 Renggli, Biel (FDP)
Mitunterzeichner: 0 Eingereicht am: 11.01.2000
Streichung der Integrationspauschalen (SKOS-Grundbedarf II)
Der Regierungsrat wird beauftragt, alle erforderlichen Schritte einzuleiten, damit die in den SKOS-Richtlinien vorgesehenen Integrationspauschalen (Grundbedarf II) gestrichen wer- den.
Begründung:
Eine Beibehaltung der Integrationspauschalen ist aus folgenden Gründen heute nicht mehr gerechtfertigt:
1. Die finanzielle Situation des Kantons sowie zahlreicher Städte ist katastrophal. Ausser- dem hat die Zahl der Fürsorgegeld-Empfängerinnen und -Empfänger stark zugenom- men. Diese Zahl wächst weiter an. So sind beispielsweise rund 4800 Personen oder 9 Prozent der Bieler Bevölkerung von der Fürsorge abhängig. Allein in der Stadt Biel be- trugen die entsprechenden Ausgaben 1998 insgesamt 28,2 Mio. Franken (Budget 2000:
32 Mio. Franken). Ähnliche Entwicklungen sind auch in Bern und anderen grösseren Städten des Kantons zu verzeichnen.
2. Es muss festgestellt werden, dass viele Langzeitarbeitslose überhaupt nicht mehr moti- viert sind, eine Arbeitsstelle anzunehmen, da sie gemäss den SKOS-Richtlinien auch dann mehr oder weniger komfortabel leben können, wenn sie keine Arbeit haben. Es sei darauf hingewiesen, dass bereits beim Grundbedarf I ein Ermessensspielraum und somit die Möglichkeit besteht, höhere Beträge zu entrichten, um Personen, die wirklich gewillt sind, ihre Situation wieder herzustellen, zusätzlich zu ermutigen und zu unter- stützen.
3. Diese Integrationspauschalen bilden ebenfalls eine frappante Ungleichbehandlung gegenüber zahlreichen Personen, die hart arbeiten und nur mit dem betreibungsrecht- lich vorgesehenen Existenzminimum leben müssen. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Gerichte bei Scheidungs- oder Trennungsverfahren von Ehe- paaren mit knappen Finanzmitteln der Person, die Alimente zahlen muss, nur das be- treibungsrechtliche Existenzminimum lassen und ihr keine Integrationspauschale zu- sprechen, auch wenn sie einer Vollzeitarbeit nachkommt. Es ist nicht verständlich,
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warum eine solche Person, die arbeitet, schlechter gestellt sein soll als eine Person, die nicht arbeitet.
4. Mehrere Gemeinden im Kanton Bern beabsichtigen, diese heute ganz und gar nicht mehr gerechtfertigten Integrationspauschalen vollständig zu streichen. Allerdings wären die Gemeinden, welche die Integrationspauschalen streichen, auf Grund des Finanz- ausgleichs dennoch verpflichtet, sich weiter an den Kosten der Gemeinden, welche diese Pauschalen aufrechterhalten, zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund und um im gesamten Kanton eine gleiche Behandlung zu gewährleisten, ist es nötig, dass die In- tegrationspauschalen im ganzen Kanton aufgehoben werden.
5. Die Regierung beabsichtigt, eine Verordnung auszuarbeiten, welche alle Gemeinden zwingen soll, die Integrationspauschalen beizubehalten. Dies trotz der hier dargelegten Gründe. Mit einer solchen Verordnung würde diese ungerechte Situation fortgeführt.
Der Grosse Rat muss sich darüber äussern können, bevor die Verordnung erlassen wird.
Es wird Dringlichkeit verlangt. Gewährt: 03.02.2000
Antwort des Regierungsrates
Die SKOS-Richtlinien definieren in allgemein anerkannter Form das soziale Existenzmini- mum. Sie stellen eine gesamtschweizerische Lösung aus fachlicher Sicht dar und legen einen einheitlichen Mindeststandard fest. Ein Ausscheren aus diesem Konsens bedeutet immer die Schaffung von Rechtsungleichheit.
Sozialhilfe bezweckt nicht nur nacktes Überleben. Die SKOS-Richtlinien umfassen keinen expliziten Posten "Taschengeld" sondern einzelne Elemente, insbesondere den Grundbedarf II, der der wichtigen und längerfristig gesehen "rentablen" Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung der sozialen Integration von Sozialhilfebezügerinnen und – bezügern dient. Sozialhilfebezügerinnen und –bezüger leben in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Dies gilt insbesondere für Familien mit Kindern im jugendlichen Alter. Die soziale Integration spielt in diesem Alter eine besonders wichtige Rolle und prägt möglicherweise lebenslänglich im gesellschaftlichen, sozialen und finan- ziellen Bereich. Gemäss einer Studie der eidgenössischen Koordinationsstelle für Fami- lienfragen hat der Verlust von Einkommen und knappen finanziellen Ressourcen unter anderem folgende negative Auswirkungen: ein schulischer Rückstand der Kinder, Schwächung der psychischen und physischen Gesundheit der Familienmitglieder und hohe soziale Folgekosten mit Langzeitwirkung (Sucht, Kriminalität usw.). Der Grosse Rat hat im Rahmen der Budgetdebatte im November 1999 beschlossen beim Grundbedarf II der SKOS-Richtlinien den Minimalwert anzuwenden und somit anerkannt, dass der Integrationsanteil in der Sozialhilfe unerlässlich ist. Dieser Entscheid ist zu respektieren und sollte nun in die Praxis umgesetzt werden.
Zu den einzelnen Punkten:
1. Im Jahr 1999 mussten im Kanton Bern 7000 Personen mehr als im Vorjahr unterstützt werden. Der Hauptgrund für die Zunahme sind Arbeitslosigkeit und tiefe Löhne. Die Statistik zeigt allerdings auch, dass die Beträge pro Empfängerin/pro Empfänger von Sozialhilfeleistungen seit 1993 stagniert haben. Zwischen 1996 und 1998 nahmen sie teuerungsbereinigt sogar um 19% oder im 1500 Franken pro Empfängerin/pro Empfänger ab.
2. Fürsorgeleistungen können gemäss Artikel 64 des Fürsorgegesetzes an vertraglich vereinbarte Gegenleistungen gebunden werden. In begründeten Fällen kann
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individuell eine Kürzung vorgenommen werden. Um Anreizsysteme zu schaffen, die zur sozialen und beruflichen Reintegration führen, hat die Gesundheits- und Fürsorgedirektion über 500 Plätze für Beschäftigungsprogramme bewilligt.
3. Wie verschiedene Studien gezeigt haben, führen nicht existenzsichernde Löhne dazu, dass immer mehr Personen, insbesondere Familien ergänzend zu ihrem Einkommen von der Sozialhilfe unterstützt werden müssen. Diesem Problem kann nicht mit einer Senkung der Sozialhilfeleistungen begegnet werden. Die SKOS- Richtlinien decken den Bedarf einer sozialen Existenz und sind Ausfluss des Grundrechts auf Existenzsicherung gemäss Art. 29 Abs. 1 der Kantonsverfassung.
Das betreibungsrechtliche Existenzminimum hat eine andere Bemessungsgrund- lage: Im Gegensatz zur Sozialhilfe werden beispielsweise zu bezahlende Alimente und Steuern im Budget berücksichtigt und das Einkommen des Ehegatten wird nur teilweise angerechnet. Das Betreibungsrecht hat auch einen anderen Auftrag als die Sozialhilfe: Es muss einen Ausgleich zwischen den Interessen der Gläubiger und dem Schuldner schaffen.
4. Mit einer vollumfänglichen Streichung des Grundbedarfs II werden längerfristig kaum Einsparungen erzielt. Da das Integrationsziel verfehlt wird, werden Bedürftige länger von der Sozialhilfe abhängig bleiben. Der Regierungsrat hält an seinem im Rahmen des NMH gefällten Entscheid fest, beim Grundbedarf II den Minimalwert anzuwenden.
5. Der Grosse Rat ist dem Entscheid des Regierungsrates gefolgt beim Grundbedarf II der SKOS-Richtlinien den Minimalwert anzuwenden. Um diese Sparmassnahme durchsetzen zu können, müssen die Richtlinien mittels einer Verordnung verbindlich erklärt werden. Damit wird die Grundlage zur Rechtsgleichheit im ganzen Kanton geschaffen und ein möglichst einheitliches Leistungsniveau in den Gemeinden sichergestellt. Die SKOS-Richtlinien gewährleisten die Berücksichtigung der regionalen Unterschiede in einem gewissen Rahmen, so zum Beispiel indem die Miete im ortsüblichen Rahmen im Budget angerechnet wird.
Antrag: Ablehnung der Motion
An den Grossen Rat