Radlinien als Enveloppen Anregung: J. W., B.-M.
1 Sehnen im Kreisraster
Wir wählen eine Modulzahl m∈! und zeichnen auf dem Einheitskreis m Punkte Pn in regelmäßigen Abständen. Diese Punkte nummerieren wir von 0 bis m−1. Die Abbil- dung zeigt die Situation für m=9.
Neun Punkte auf dem Einheitskreis
Mit ϕn =n2πm haben die Punkte Pn die Koordinaten Pn
(
cos( )
ϕn , sin( )
ϕn)
. In der Gaußschen Ebene der komplexen Zahlen können wir die Form Pn =eiϕn verwenden.Wir wählen nun einen Faktor f ≥2, f ∈! und zeichnen die Sehne vom Punkt mit der Nummer n zum Punkt mit der Nummer fnmodm, also die Sehne PnPfnmodm. In kom- plexer Schreibweise ist Pfnmodm =eifϕn; da eit in t die Periode 2π hat, wird das Rechnen mit dem Modul m automatisch erledigt.
Die folgenden Abbildungen zeigen links zum Modul m=9 der Reihe nach die Situati- onen für f =2,…, 9. Rechts ist die Sehne PnPfnmodm ersetzt durch den Vektor von
Pn nach Pfnmodm. Wir sehen, welcher Punkt wohin zielt.
f = 2
Der Punkt P0 erscheint isoliert, weil er auf sich selber zielt. Zwischen den Punkten P3 und P6 haben wir einen Doppelpfeil, da P3 nach P6 zielt und umgekehrt.
f = 3
P0 erscheint als schwarzes Loch, in das nur Pfeile einmünden.
f = 4
P0, P3 und P6 zielen je auf sich selber, erscheinen daher isoliert. Im Übrigen haben wir zwei gleichseitige Dreiecke, das eine positiv orientiert und das andere negativ.
f = 5
Im Vergleich zu f =2 laufen die Pfeile in der Gegenrichtung.
f = 6
f = 7
Im Vergleich zu f =4 laufen die Pfeile in der Gegenrichtung.
f = 8
f = 9
P0 erscheint als schwarzes Loch, in das nur Pfeile einmünden.
Sämtliche Figuren haben eine horizontale Symmetrieachse.
Soweit so gut. Nun versuchen wir es einmal mit m=144. Für f =2 ergibt sich:
m = 144, f = 2
Aus Platzgründen ist nur jeder zweite Punkt nummeriert, und es sind nur die Nummern angegeben. Wir sehen eine Kurve, welche an die Kardioide (Herzkurve) erinnert. Wir werden später sehen, dass die Enveloppe der Sehnen tatsächlich die Kardioide ist.
Mit f =3 ergibt sich eine Kurve mit zwei Spitzen nach innen.
f = 3
Bei f =4 ergeben sich drei Spitzen nach innen.
f = 4
Wir vermuten, dass wir jeweils f −1 Spitzen nach innen erhalten.
Tatsächlich ist nur f für das Aussehen der Kurve relevant. Für m=97 und immer noch f =4 sieht das einfach ein bisschen dünner aus, ist aber immer noch dieselbe Kurve.
Anderes m, gleiches f 2 Radlinien
Eine Radlinien entsteht, indem wir ein Rad auf einer Unterlage abrollen lassen und die Bahnkurve eines Punktes auf der Peripherie des Rades verfolgen. Das einfachste Bei- spiel ist die Zykloide; diese entsteht durch Abrollen auf einer Geraden. Wird ein Rad auf einem Kreis mit gleichem Radius abgerollt, entsteht die Kardioide. Hat das Rad halb so großen Radius wie der Kreis, ergibt sich eine Radlinie mit zwei Spitzen nach innen.
Ist der Radradius 1k des Kreisradius, ergeben sich k Spitzen nach innen. Die folgende Abbildung zeigt die Radlinie für 13, also mit 3 Spitzen. Der als Unterlage dienende Kreis ist magenta, die Radlinie blau gezeichnet. Das Rad dreht bei einem Umlauf nicht etwa drei Mal, sondern vier Mal, weil es auch noch die Gesamtkrümmung des magenta Unterlage-Kreises bewältigen muss.
Radlinie
Wir bezeichnen im Folgenden mit r1 den Radius des Unterlage-Kreises und mit r2 den Radradius. Die Radlinie kann als Überlagerung zweier Kreisbewegungen gesehen wer- den: Die Radnabe bewegt sich auf einem Kreis mit Radius r1+r2. Dazu kommt die Radbewegung selber. Bei einer Radlinie mit f −1 Spitzen muss sich dass Rad f Mal drehen pro Umlauf. Damit kann die Radlinie in der Gaußschen Zahlenebene parametri- siert werden:
z t
( )
=(
r1+r2)
eit +r2eift, t∈[
0, 2π]
Zur Berechnung der Radien r1 und r2 überlegen wir wie folgt: Zunächst ist:
r2 =r1 f1−1
Da in unserem Kontext die Figur in den Einheitskreis passen muss, haben wir:
r1+2r2 =1 Aus diesen beiden Gleichungen ergibt sich:
r1= ff−1+1 , r2 = f1+1
r1+r2 = ff+1
Für die Parametrisierung der Radlinie erhalten wir daraus:
z t
( )
=(
r1+r2)
eit +r2eift = ff+1eit + f1+1eift, t∈[
0, 2π]
Die folgende Abbildung zeigt im Fall m=144, f =5 sowohl die Sehnen wie auch die Radlinie.
Sehnen und Radlinie
Offensichtlich ist die Radlinie die Enveloppe der Sehnen. Die Punkte 0, 36, 72 und 108 sind isoliert, von ihnen geht keine Sehne aus, weil die Punkte je mit sich selber verbun- den sind. Diese Punkte sind aber auch die äußersten Punkte der Radlinie. Der Punkt 18 ist mit dem Punkt 90 durch einen Durchmesser verbunden und umgekehrt. Dasselbe gilt auch für die Punkte 54 und 124. Auf diesen Durchmessern liegen die Spitzen der Radli- nie.
3 Beweis
3.1 Vorbereitung
Zur Vorbereitung des Beweises zeichnen wir im Beispiel m=9, f =2 zusätzlich die Punkte KPn =z
( )
ϕn ein. Das sind diejenigen Punkte auf der Radlinie (in unserem Bei- spiel auf der Kardioide), welche zu den Parameterwerten t=ϕn gehören.Kissing Points
Die Figur führt zu folgenden Vermutungen: Die Sehnen sind tangential an die Radlinie.
Die Punkte KPn =z
( )
ϕn liegen auf der Sehne mit den Endpunkten Pn und Pfnmodm und sind die Berührpunkte.Für den Beweis benötigen wir den Tangentialvektor der Radlinie, in komplexer Schreibweise:
d
dtz t
( )
= fif+1eit + fif+1eift = fif+1(
eift +eit)
3.2 Analyse des Beweises
Die Behauptung ist nun folgende: Für eiϕ ≠eifϕ ist die Gerade durch eiϕ und eifϕ Tangente an die Radlinie z t
( )
mit Berührpunkt z( )
ϕ .Beweis in zwei Schritten:
1) z
( )
ϕ liegt auf der Geraden durch eiϕ und eifϕ. 2) z′( )
ϕ ist parallel zur Geraden durch eiϕ und eifϕ.3.3 Erster Schritt Zu zeigen ist:
z
( )
ϕ =eiϕ +s(
eifϕ −eiϕ)
mit s∈!Also:
s= z( )ϕ −eiϕ
eifϕ−eiϕ =
f
f+1eiϕ+f1+1eifϕ−eiϕ
eifϕ−eiϕ = f1+1 feiϕ+eifϕ−(f+1)eiϕ
eifϕ−eiϕ = f1+1 eifϕ−eiϕ
eifϕ−eiϕ = f1+1∈!
3.3.1 Bemerkung
Es ist s=r2. Der Berührpunkt KPn =z
( )
ϕn teilt die Sehne PnPfnmodm immer im glei- chen Verhältnis.3.4 Zweiter Schritt Zu zeigen ist:
d
dtz
( )
ϕ =λ(
eifϕ −eiϕ)
mit λ∈!Also:
λ= dtdz( )ϕ
eifϕ−eiϕ = fif+1 eifϕ+eiϕ
eifϕ−eiϕ
Erweitern mit e−iϕ
f+1
2 liefert:
λ= fif+1 eiϕ
f−1 2 +e−iϕ
f−1 2 eiϕ
f−1 2 −e−iϕ
f−1 2
= ff+1 cosϕ
f−1
( )
2 sin( )
ϕf2−1 ∈!3.4.1 Bemerkungen
a) Für ϕ f2−1=kπ,k∈! wird der Sinus im Nenner null, λ existiert nicht oder ist, intui- tiv gesprochen, „unendlich“. Aus ϕ f2−1=kπ,k∈! folgt: ϕ = 2fkπ−1, aus Periodizitäts- gründen ist nur k=1, 2,…,f −1 relevant. Weiter ist:
fϕ = f 2fkπ−1=
(
f −1+1)
2fkπ−1=2kπ+ 2kπf−1=2kπ+ϕeifϕ =eiϕ
Wir haben es also mit Kreispunkten zu tun, die auf sich selber abgebildet werden. Die Sehne mit den Endpunkten eiϕ und eifϕ degeneriert zu einem Punkt und hat keine Richtung. Die Abbildung zeigt den Fall f =4. Die kritischen Punkte (hellblau) sind die extremen Punkte der Radlinie.
Extreme Punkte
b) Für ϕ f2−1 = π2 +kπ,k∈! werden der Kosinus im Zähler und damit λ null. Wir er- halten:
ϕ f2−1= π2 +kπ
ϕ= f1−1
(
π+2kπ)
fϕ=
(
f −1+1)
f1−1(
π+2kπ)
=π+2kπ+ f1−1(
π+2kπ)
=π+2kπ+ϕeifϕ =ei(π+2kπ+ϕ)=−eiϕ
Die Sehne mit den Endpunkten eiϕ und eifϕ ist ein Durchmesser. Die Abbildung zeigt den Fall f =4. Die kritischen Punkte sind die Spitzen der Radlinie. Hier verschwindet der Tangentialvektor.
Spitzen 3.5 Optische Sonderfälle
Die Enveloppe ist nicht immer sichtbar. Die Tangentialeigenschaft gilt aber trotzdem.
Dazu zwei Beispiele.
Für m=9, f =8 ergibt sich:
m = 9, f = 8
Für m=9, f =9 erhalten wir:
m = 9, f = 9
4 Ausstieg aus dem Kreisraster
Wir haben gesehen, dass der Modul m für das Aussehen der Radlinie irrelevant ist, auch im Beweis kam m nirgends vor. Wir verzichten daher auf die m gleichmäßig verteilten Startpunkte Pn und machen folgendes. Wir beginnen mit einem beliebigen von null verschiedenen Winkel ϕ und definieren auf dem Einheitskreis die Punkte Qj =eifjϕ. Dann zeichnen wir den Polygonzug Q0Q1Q2…. Physikalisch kann man sich einen re- flektierenden Kreis (runder Billard-Tisch) vorstellen, der so reflektiert, dass der Ab- gangswinkel das f-fache des Auftreffwinkels modulo π ist.
Für ϕ = 12 (irrational zu π, wir kommen nie mehr zurück) und f =4 sieht der Start so aus:
Start
Bei 500 Strecken des Polygonzuges ist die Radlinie sichtbar. Die Figur als Ganzes ist aber unregelmäßig.
Radlinie