A 22 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 1–2|
7. Januar 2010REGENERATIVE MEDIZIN
Ein Fachgebiet auf Hochtouren
Das große Potenzial von Stammzellen für die Medizin ist unbestritten.
Wie breitgefächert die Forschungsansätze jedoch sind und derzeit auch noch sein müssen, zeigte sich bei der Weltkonferenz für regenerative Medizin.
D
ie Fachrichtung boomt. Na- hezu im Wochentakt wird von neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Stammzellforschung und der regenerativen Medizin be- richtet. Einen Besucherrekord von 1 100 Wissenschaftlern aus 37 Län- dern erlebte in diesem Jahr auch die Weltkonferenz für regenerativeMedizin in Leipzig. Unter dem Motto „Das Potenzial von Stamm- zellen“ widmete sie sich Themen wie Pluripotenz und Reprogram- mierung von Stammzellen, Stamm- zelltherapie und Organersatz durch Gewebezüchtung sowie der Über- tragung therapeutischer Ansätze in die klinische Praxis. Veranstaltet wurde die Konferenz vom Leipzi- ger Fraunhofer-Institut für Zellthe- rapie und Immunologie und Trans- lationszentrum für Regenerative Medizin Leipzig.
„Das Feld der regenerativen Me- dizin hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Dessen ungeachtet liegt noch viel Arbeit vor
den Wissenschaftlern, Unternehmen und regulatorischen Behörden, um dieses neue Wissen sicher und zuver- lässig zum Patienten zu bringen“, be- richtete Kongresspräsident Prof. Dr.
med. Frank Emmrich dem Deut- schen Ärzteblatt.
In der Tat befinden sich viele Ge- biete im Stadium der Grundlagen-
forschung. Obwohl das Potenzial der Stammzellen in der Medizin als un- bestritten gilt, vermag noch niemand zu sagen, wann wirksame und siche- re Therapien in großem Stil verfüg- bar sein werden. Die derzeit größten Hoffnungen werden auf die aus Kör- perzellen abgeleiteten humanen in- duzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) gesetzt.
Gewebespezifische Zellen zur Organregeneration
Wie bei humanen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) können aus iPS-Zellen über entsprechende In-vitro-Differenzierungsprotokolle gewebespezifische Zellen gewon-
nen werden. Mit ihrer Hilfe könn- ten insbesondere Organe regene- riert werden, in denen ansonsten die Kapazität zur Selbsterneuerung durch somatische Stammzellen schwach ausgebildet ist, wie zum Beispiel im Nervensystem, im Pan- kreas oder im Herzen.
Eine weitere Option ist die Mög- lichkeit, pharmakologische poten- zielle Wirkstoffe direkt an Zellen des individuellen Patienten zu tes- ten. Auch Ian Wilmut von der Uni- versität Edinburg, Großbritannien, geistiger „Vater“ des Klonschafs Dolly, hob das Potenzial der indu- zierten pluripotenten Stammzellen hervor. Durch sie könnten sowohl die Ursachen von Krankheiten bes- ser verstanden und gleichzeitig die Sicherheit von neuen Medikamen- ten untersucht werden. „Menschli- che iPS-Zellen bieten die Möglich- keit, unerwünschte Nebenwirkun- gen in einem früheren Stadium des Prozesses zu identifizieren und zu eliminieren“, sagte Wilmut. Sowohl Teragonität als auch Toxizität lie- ßen sich an ihnen besser als im Tiermodell testen.
Grundvoraussetzung für eine Nutzung pluripotenter Stammzellen in der Wirkstoffentwicklung seien jedoch stabile Verfahren zur repro- duzierbaren Gewinnung gewebe- spezifischer Zellen, betonte Prof.
Dr. med. Oliver Brüstle vom Insti- tut für Rekonstruktive Neurobiolo- gie der Universität Bonn. Sein Team konnte kürzlich zeigen, dass sich aus humanen embryonalen Stammzellen stabile neurale Stamm- zellen (long-term self-renewing hES cell-derived neural stem cells, lt-hESNSC) herstellen lassen. Ihr entscheidender Vorteil: Selbst über lange Zeiträume hinweg können aus ihnen verschiedene neurale Subtypen – wie Neurone, Astrozy- Embryonale
Stammzellen im Blastozystenstadi-
um: Da alternative, ethisch unbedenk - liche Verfahren ent- wickelt worden sind, können die Forscher zunehmend auf embryonale Stammzellen ver-
zichten.
Foto: AOK-Bilderdienst
M E D I Z I N R E P O R T
A 24 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 1–2|
7. Januar 2010 ten und Oligodentrozyten – ausrei-fen. Unter geeigneten Differenzie- rungsbedingungen können aus ih- nen zudem Trans mittersysteme ge- wonnen werden, die bei vielen pharmakologischen Fragen relevant sind, wie bei spielsweise GABAer- ge, glutaminerge, dopaminerge und serotoninerge Neurone.
„Die direkte Gewinnung von Neuronen und Gliazellen über diese stabile neurale Stammzellpopulati- on bedingt nicht nur eine enorme Zeitersparnis und Standardisierung.
Sie eröffnet auch die Möglichkeit, genetische Modifikationen direkt an den aus ihnen gewonnenen so- matischen Stammzellen durchzu- führen“, erklärte Brüstle. Auf die- se Weise könnte in schneller Fol - ge eine Vielzahl krankheitsrele- vanter Mutationen in humanen Neuronen und Gliazellen unter- sucht werden.
Eine Alternative beim Einsatz von Stammzellen könnten auch hu- mane spermatogonale Stammzellen sein, die ohne gentechnische Re- programmierung entwicklungsfä- hig erscheinen. Forschungen an Keimzellen von Mäusen hatten zu- nächst gezeigt, dass es möglich ist,
die Stammzellen, aus denen sich Spermien bilden – sogenannte sper- matogonale Stammzellen (SSCs) – in vitro in ein pluripotentes Stadium zu reprogrammieren.
Spermatogonale Stammzellen werden isoliert und kultiviert
Prof. Dr. med. Thomas Skutella vom Anatomischen Institut der Uni- versität Tübingen konnte diese Un- tersuchungen erstmals auf den Menschen übertragen und Kulturen von humanen adulten, pluripoten- ten, aus der Keimbahn abgeleiteten Stammzellen (human germline-de- rived stem cells, haGSCs) gewin- nen. Sowohl in vitro als auch in vivo hat sein Team über lange Zeit- räume hinweg aufgereinigte, proli- ferative haGSC-Kulturen von sper- matogonalen Stammzellen aus adul- ten humanen Hoden isoliert und gezüchtet. Dabei zeigten die Zell- kulturen Expressionsprofile, die de- nen von pluripotenten humanen em- bryonalen Stammzellen vergleich- bar sind. Gleichzeitig konnten sie alle Grundgewebe des menschli- chen Körpers bilden.Skutella schließt daraus, dass die- se Zellen ein adultes Gegenstück zu
den humanen ES-Zellen und eine weitere Alternative zu humanen in- duzierten pluripotenten Stammzellli- nien sind. Ihr Vorteil sei insbesonde- re, dass sie als adulte Zellen im Ge- gensatz zu embryonalen Stammzel- len ethisch unbedenklich eingesetzt werden könnten. Optimal könnten Skutella zufolge diese Zellen auch für die Behandlung erblich bedingter Erkrankungen sein, da die Möglich- keit bestehe, pluripotente haGSC-Li- nien der entsprechenden Pathologien herzustellen. So könnten beispiels- weise Hodenbiopsien bei Parkinson- patienten durchgeführt und die iso- lierten spermatogonalen Stammzel- len über die Transformation in haGSCs in Vorläuferzelllinien des Nervensystems differenziert werden.
Hieraus könnten dann dopaminerge Neurone für pharmakologische As- says induziert werden.
Aufgabe der Forscher ist es jetzt, aus der Vielfalt der Möglich- keiten die Methode zu identifizie- ren, die am zuverlässigsten norma- le Zellen produziert, und die indu- zierten pluripotenten Zellen unter- einander und mit den ES und haGSCs zu vergleichen. ■
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Die Translation von Ergebnissen der Stammzellforschung in die klinische An- wendung bereitet aus verschiedenen Gründen Probleme. „Die Anstrengungen zu den notwendigen klinischen Studien zum Nachweis der Wirksamkeit von Stammzellen müssen deutschlandweit gebündelt werden“, fordert deshalb Priv.- Doz. Dr. med. Philip Kasten, Carl-Gustav- Carus-Universität Dresden. Für Einzelper- sonen oder Einzelinstitutionen sei der derzeit notwendige organisatorische Auf- wand kaum zu bewältigen. Deshalb soll- ten sich Zentren, die regenerative Thera- pien durchführen wollen, zusammen- schließen sowie Studieninitiativen koordi- nieren.
Dies sei auch der Konsens von Ex- pertenworkshops gewesen, die 2009 im Rahmen der Jahreskongresse der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Or-
thopädie und Unfallchirurgie in Abstim- mung mit dem Center for Regenerative Therapies Dresden, dem Berlin-Bran- denburg Center for Regenerative The- rapies und dem Muskuloskelettalen Zentrum Würzburg stattfanden.
„Der Einsatz von mesenchymalen Stammzellen ist auch für den operativ orthopädisch/unfallchirurgisch tätigen Chirurgen interessant“, sagt Kasten.
Leider herrsche jedoch eine große Dis- krepanz zwischen den Daten aus tier- experimentellen Studien und tatsächli- chen klinischen Untersuchungen. Dies sei vor allem auf die in den letzten Jah- ren geänderten gesetzlichen Rahmen- bedingungen zurückzuführen, erläutert der Chirurg.
Entsprechend der 14. Novelle des Arzneimittelgesetzes (vom 29. August 2005) müssen nämlich klinische Studi- en, die die Wirksamkeit und/oder Sicher-
heit von Stammzellpräparaten untersu- chen, nicht nur beim Paul-Ehrlich-Institut angezeigt, sondern von diesem auch genehmigt werden. Dazu muss eine Herstellungserlaubnis des zuständigen Regierungspräsidiums einschließlich ei- ner pharmakologischen/toxikologischen Prüfung vorliegen, die die Qualität des Arzneimittels nach dem Good-medical- practice-Standard voraussetzt. „Dies er- fordert jedoch eine finanziell und experi- mentell aufwendige präklinische In-vivo- Analyse zur chromosomalen Instabilität und Sicherheit“, erklärt Kasten. „Selbst universitäre Forschungseinrichtungen stoßen dabei an ihre Grenzen.“ Mit der 15. Novelle des Arzneimittelgesetzes, die im September 2009 in Kraft getreten sei, seien zudem noch verschiedene Aus- nahmegenehmigungen aufgehoben wor- den, die die klinische Anwendung von Stammzellen erschweren könnten.