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Archiv "Psychische Belastungen und Symptome hörbehinderter Kinder: Versuch einer ganzheitlichen Darstellung mit Hilfe der multiaxialen kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik" (14.07.1997)

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D

ie sechs Hauptachsen des multiaxialen Klassifikations- schemas (7) für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (erstens das klinisch- psychiatrische Syndrom, zweitens umschriebene Entwicklungsstörun- gen, drittens das Intelligenzniveau, viertens die körperliche Symptoma- tik, fünftens aktuelle, abnorme psy- chosoziale Umstände und sechstens Globalbeurteilung der psychosozia- len Anpassung) ermöglichen auch bei hörbehinderten Kindern eine „ganz- heitliche“ Diagnostik. Deren Dring- lichkeit soll am Beispiel der Achsen eins, zwei und fünf demonstriert wer- den. Bislang belegten überwiegend amerikanische Studien, daß bei hör- behinderten Kindern von einer drei- bis sechsmal höheren Rate an Verhal- tens- und emotionalen Problemen ge- genüber gleichaltrigen, nicht behin- derten Kindern auszugehen ist, die ei- ner Intervention bedürftig sind. (8)

Psychiatrische

Symptombelastung stark hörgeschädigter Kinder

Im folgenden werden aus einer ei- genen Untersuchung (3) die wichtig- sten Symptome der zugrundeliegen- den Gruppe (Basis: n = 183 Elternin- terviews) zehn- bis vierzehnjähriger, stark hörbehinderter Kinder nach ih- rer Häufigkeit geordnet aufgeführt:

hyperkinetisches Syndrom 29,5 Pro- zent, Zwangshandlungen 18,0 Prozent, Enuresis nocturna 12,5 Prozent, patho- logische Ängste 11,4 Prozent, Zwangs- gedanken, Zwangsgrübeln 8,7 Pro- zent, motorische Tics 8,7 Prozent, mu- tistische Reaktionen 7,6 Prozent. (Die audiometrischen Hörschadensdiagno- sen der Kinder wurden den Schülerak- ten entnommen, sie waren in der Regel mehrfach längsschnittlich bestätigt.)

Fast 30 Prozent sind also im El- ternurteil hyperaktiv, das heißt sie können sich nicht altersentsprechend

konzentrieren, sind motorisch unru- hig, zum Teil auch mangels innerer Sprache impulsiv im Denken und Han- deln. Diese massive Häufung hyperak- tiven Verhaltens könnte auch der kör- persprachliche Ausdruck eines perma- nenten Leidens an der kommunikati- ven Situation sein. Entsprechende Zu- sammenhänge haben sich ausschließ- lich für den Bereich der Familie erge- ben, keinesfalls im Zusammenhang mit der Kommunikation in anderen Lebensbereichen. Zwangshandlungen in Verbindung mit Zwangsgedanken stellen Auffälligkeiten dar, welche ge- rade im Vergleich zu nicht sinnesbe- hinderten Kindern extrem häufig ver- treten sind. In diesem Zusammenhang erscheint ein Interpretationsversuch zur Entstehung solcher Symptome ge- rade bei Hörgeschädigten (8) interes- sant. Demnach ist der einzige von so- zialen und emotionalen Erfahrungsde- fiziten sowie frustrierenden kommuni- kativen Streßsituationen nicht so berührte Bereich die Welt der Objek- te. Hieraus resultiert für das junge, stark hörbehinderte Kind die Versu- chung, sich aus zwischenmenschlichen Beziehungen heraus- und mehr auf

den Bereich besser überschaubarer Wechselwirkungen von Denken und Handeln zurückzuziehen. Im weiteren Entwicklungsverlauf bildet sich ein übertriebenes Konstanzbedürfnis be- züglich räumlicher Anordnungen, zeit- licher Abfolgen, Tempo eigener Hand- lungen heraus, womit ein Gefühl von Sicherheit und Verfügbarkeit der Um- welt erlangt werden soll. Die gleich- falls hohe Rate in diesem Alter noch bettnässender Kinder könnte auf eine Häufung emotionaler Reifungsdefizite hinweisen, dies in Verbindung mit der gleichfalls sehr hoch anmutenden Rate pathologischer, das heißt alltägliche Lebensvorzüge behindernder Ängste.

Motorische Tics wie mutistische Reak- tionen (Sprechverweigerungen) sind zumindest teilweise im Zusammen- hang mit angespannten, frustrierenden kommunikativen Situationen erklär- bar, ein Risiko „oraler“ Verweigerung unter starkem Leistungsdruck in laut- sprachlichen Übungssituationen ist sicher gegeben.

Umschriebene

Entwicklungsstörungen

Die relevanten, sicher nicht pro- blemlos auf stark Hörbehinderte über- tragbaren ICD-10-Kategorien lauten:

1 umschriebene Entwicklungs- störungen des Sprechens und der Spra- che 1 umschriebene Entwicklungs- störungen schulischer Fertigkeiten

1 umschriebene Entwicklungs- störungen der motorischen Funktio- nen.

Inhaltlich kann man unter einer umschriebenen Entwicklungsstörung umschriebene „Ausfälle“ sehr unter- schiedlicher Funktionen fassen, die aus dem übrigen Leistungsniveau bezie- hungsweise Entwicklungsstand eines A-1938

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(42) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 DIE ÜBERSICHT

Stark hörbehinderte Kinder weisen eine massiv erhöhte kinderpsychiatri- sche Symptombelastung auf, die sich auf klinisch-psychiatrische Symptome wie auch umschriebene Entwicklungs- störungen erstreckt. Permanente Kom- munikationsnöte stellen wichtige, spe- zifische, aktuelle, abnorme psychoso- ziale Umstände für diese Kinder dar.

Psychische Belastungen und Symptome

hörbehinderter Kinder

Versuch einer ganzheitlichen Darstellung mit Hilfe der multiaxialen kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik Emil Kammerer

Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde (Direktor: Prof. Dr. med. Emil Harms), West- fälische Wilhelms-Universität Münster

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Kindes herausfallen (sogenannte Dis- krepanzdefinition). Ihr Beginn läßt sich in der Regel bis in das Kleinkindes- alter zurückverfolgen, ihr Verlauf ist als eng mit der biologischen Reifung des

ZNS verknüpft anzusehen und weist in seiner Stetigkeit nicht die für viele primär psychischen Störungen typi- schen Schwankungen auf. Es gibt kei- nen vernünftigen Grund anzunehmen, daß die gesamte Gruppe stark hörbe- hinderter Kinder relativ weniger durch zusätzlich zu nennende, umschriebene Entwicklungsstörungen belastet sein könnte als die Majorität. Im Gegenteil:

die auch in der eigenen Untersuchung (3) belegte, hohe Belastung zehn- bis vierzehnjähriger, also nicht mehr jun- ger Kinder mit sogenannten weichen neurologischen Symptomen, mit Ent- wicklungsrückständen im Bereich der Visuomotorik (Auge-Hand-Koordina- tion) sowie auch mit umschriebenen Entwicklungsstörungen der motori- schen Funktionen oder Gesamt-Kör- per-Koordination läßt schon aufgrund der zu erwartenden positiven Über- schneidungen mit den Entwicklungs- störungen schulischer Fertigkeiten im Vergleich zur allgemeinen Schülerpo- pulation noch erhöhte Raten auch bei den letztgenannten Problemen er- warten. (Allgemeine Prävalenzanga- ben zur umschriebenen Lese- und

Rechtschreibschwäche: etwa vier Pro- zent der Schulkinder eines dritten Schuljahres.) In die Resultate zum visuomotorischen Entwicklungsstand fließen neuropsychologische Teillei- stungen wie visuelle Diskrimination, visuelle Speicherung und schließlich die Umsetzung visueller Reize in eine zeichnerische Leistung ein. Die Glo- balverteilung visuomotorischer Lei- stungen einer Stichprobe (n = 274) von gehörlosen und schwerhörigen Kin- dern auf die drei im Göttinger Form- reproduktionstest (GFT) angebotenen diagnostischen Kategorien ergab fol- gendes Bild: „kein Hirnschaden“, was einer normalen Leistung entspricht: 59 Prozent, „Hirnschadenverdacht“, was einer deutlichen Entwicklungsverzöge- rung entspricht: 38 Prozent, „Hirnscha- den“, was einer extrem schlechten Lei- stung entspricht: drei Prozent. Bei Überprüfung der Leistungen in der Gesamtkörperkoordination mit Hilfe des Körperkoordinationstests für Kin- der (KTK) ergab die Anwendung der Normen für „Normalentwickelte“ die in Grafik 1wiedergegebene Verteilung gruppierter Motoquotienten. Der in unausgelesenen Stichproben etwa nor- mal verteilte Motoquotient gibt ähn- lich dem Intelligenz-Quotienten den grobmotorischen Entwicklungsstand wieder, der Normbereich liegt zwi- schen einem MQ von 85 bis 115. Der relativ größte Anteil (36 Prozent) der Leistungen fiel in den Wertebereich ( 70, was nach den Autoren des Verfah- rens (4) eindeutig Therapiebedürftig- keit begründet. Die nächste Kategorie folgt mit knapp 22 Prozent, womit sich eine deutlich linksschiefe Verteilung ergibt. Sicherlich gibt es Querverbin- dungen zwischen einer hohen Bela- stung mit sogenannten soft signs als Ausdruck einer Reifungsverzögerung der feinmotorischen Koordination so- wie der massiven Häufung von Schwächen der Gesamt-Körper-Koor- dination und dem von van Uden postu- lierten Dyspraxie-Syndrom. (10)

Aktuelle, abnorme psychosoziale Umstände

Eine weite Reihe hier aufgeführ- ter belastender oder schädigender Le- bensumstände (zum Beispiel Erzie- hung mit unzureichender Erfahrungs-

vermittlung) kann natürlich hörbehin- derte wie auch andere Kinder gleicher- maßen betreffen. Man muß sich jedoch immer vorzustellen versuchen, daß es für stark hörbehinderte Kinder, ver- kürzt gesagt, ein grundsätzliches, alle Lebensbereiche durchdringendes Ent- wicklungsrisiko gibt, eben die meist schon in der Familie beginnende Kom- munikationsbarriere gegenüber der Majoriät.

Exkurs zum Thema Kommunikation und Sprachentwicklung

Als Annäherung an das Thema sei eine Definition des komplexen Phäno- mens Kommunikation angeboten: Pro- duktion (Senden, Meinen) und Auf- nahme (Empfangen, Verstehen) non- verbaler wie verbaler, emotionaler wie gedanklicher Mitteilungen unter wech- selseitiger Einbeziehung des situativen und sozialen Kontextes.

Die sich differenzierende Eltern- Kind-Kommunikation verläuft von Anfang an stets multisensorisch. Eltern versetzen sich empathisch in die Ge- fühlsregungen schon ihres jungen Säuglings hinein. Dabei entwickeln sie im Dialog mit ihrem Kind intuitiv ein Alphabet nichtsprachlicher Verständi- gung (5) über Blickkontakt, Mimik, Gestik, Stimme sowie allgemeines mo- torisches Verhalten. Sprachliche Äuße- rungen der Eltern sind in dieses Wech- selspiel früh einbezogen. Nicht die Ab- A-1939

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Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 (43) DIE ÜBERSICHT

35 30 25 20 15 10 5 0

< = 70 71-85 86-100 101-115 116-130 Percentage

Grafik 1

Prozentuale Verteilung der mit dem Körperkoordinati- onstest KTK (4) erhobenen Motoquotienten auf die Ge- samtstichprobe (n = 274) stark hörbehinderter Kinder

fast keine mäßige gut 37,8

73,9

29,3 13,8

32,9 12,3 schwerhörig gehörlos Grafik 2

Selbsteinschätzungen älterer Kinder zu ihren Chan- cen, sich gegenüber Fremden verständlich zu machen (Sendechancen), in Abhängigkeit vom Hörstatus (in Prozent) (Altersmittel 12,9 Jahre)

Prozent

fast keine mäßig gut

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sicht der Belehrung, sondern der Wunsch, Zuneigung auszudrücken, Freude an der Interaktion sowie das Bemühen um Verständigung stehen dabei im Vordergrund. Spätestens mit dem Zeitpunkt der Diagnose einer schweren Hörschädigung setzen aber tiefgreifende Irritationen des bislang so unbeschwerten, intuitiven Wechsel- spiels ein. Isolationsängste werden von seiten der Eltern gespürt und benannt.

Später wird es schwer, intuitivere Ver- haltensformen wiederzufinden, vor al- lem dann, wenn sich der Blick unter Leidensdruck auf die Entwicklungs- problematik des Hören- und Sprechen- lernens verengt und Leistungsdruck entsteht. Nichts dürfte motivierender für das stark hörbehinderte Kleinkind sein, sich am viel zitierten Nadelöhr lautsprachlicher Kommunikation ab- zumühen, als kommunikative Erfolgs- erlebnisse. Etwas plakativ gesagt, führt der kindgemäßere Weg von früher

kommunikativer Sicherheit zur Ar- beitsbereitschaft und nicht umgekehrt von frühem einengendem Leistungs- druck zur Kommunikationsbereit- schaft. Diese Erkenntnis steckt auch in der schön formulierten These der Sprachforscherin Grimm: „Wir kom- munizieren nicht, weil wir grammatika- lische Regeln und Wortbedeutungen gelernt haben, sondern wir lernen dies, weil wir kommunizieren.“ (1)

Völlig ungestörte Kommunikati- on können die Vertreter der hörenden Majorität übrigens bei einer Minder-

heit Hörgeschädigter bewundern, der Gruppe gehörloser Kinder gehörloser Eltern, die auf der Grundlage einer mühelos erlernten Gebärdensprache als Muttersprache in der Regel mit er- staunlichem Erfolg die Lautsprache als Zweitsprache erwerben. Nach dem Linguisten Prillwitz (6) ermöglicht erst die Gebärdenverwendung dem über lange Zeit extrem lautsprachre- tardierten, stark hörbehinderten Kind einen aktiven, auf symbolische Kom- munikation gestützten und darüber bewußt werdenden Zugriff auf seine Umwelt und fördert seine Lautsprach- entwicklung dadurch indirekt über ei- ne einigermaßen altersgemäße kogni- tive Begriffsentwicklung.

Einige Selbsteinschätzungen zu Kommunikationschancen Fortschritte in der Früherkennung von Hörschäden, in der Versorgung mit Hörgeräten sowie neuerdings, und dies mit zunehmender Tendenz, mit dem Cochlearimplantat schaffen sicherlich günstigere Voraussetzungen für das Hören- und Sprechenlernen hochgra- dig hörgeschädigter Kinder. Zweifellos stellt es einen Fortschritt dar, wenn ein ehemals als gehörlos diagnostiziertes, hörtechnisch gut versorgtes und pädagogisch intensiv gefördertes Kind ein stark schwerhöriges Kind wird. Es kann aber keinen Zweifel daran geben, daß auch dieses weiterhin in seinem Leben mit massiven Kommunikations- problemen und ihren psychosozialen wie innerpsychischen Folgen fertig werden muß. Zur Illustration dieser Tatsache sei auf einige Schätzurteile (3) älterer, schwerhöriger Kinder und Ju- gendlicher dazu verwiesen, wie kom- petent sie sich in der Kommunika- tion mit ihnen fremden Menschen in beide Richtungen, sendend wie emp- fangend, erleben. Faßt man beide skep- tischen Urteilskategorien zusammen, so liegen die beiden großen Gruppen hörbehinderter Kinder hinsichtlich ihrer Empfangschancen gegenüber Fremden nicht so weit auseinander (Grafik 2 und 3).

Innerfamiliäre, kommunikations- abhängige Beziehungsrisiken könnten sich hinter den in Grafik 4 und 5darge- stellten Meinungsverteilungen verber- gen: Mütter gehörloser wie schwer- höriger Kinder schätzen anscheinend

nicht selten Kommunikationschancen ihrer eigenen Kinder bedeutsam an- ders ein als diese selbst. Interpretiert man derart abweichende Schätzurteile der hörenden Bezugspersonen als

Fehleinschätzungen, so lassen sich viel- leicht Beziehungsrisiken folgender- maßen als Gefahr umreißen: Als ein Nicht-wahr-haben-Wollen des Aus- maßes von Behinderung und als dauer- hafte Überforderung des betroffenen Kindes. Hintermair und Voit (2) bezie- hen sich in ihrer wichtigen Schrift „Be- deutung, Identität und Gehörlosigkeit“

auf eben diese Meinungsdiskrepanzen, die besonders Schwerhörige betreffen, und interpretieren sie als Risikofakto- ren für die Identitätsentwicklung.

Die ganzheitlich

orientierte Frühförderung

Mit den bisherigen Ausführungen sei keinesfalls gegen ein gezieltes Hör- training argumentiert, sein Stellenwert im gesamten Entwicklungsgeschehen darf jedoch nicht verabsolutiert wer- den. Zumindest im deutschsprachigen Raum tobt leider immer noch eine heftige Auseinandersetzung um den Stellenwert visueller Kommunikation über lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) oder die genuine Deutsche Ge- bärdensprache (DGS) der Gehörlosen beim Einstieg in die Förderung sprach- licher Kommunikation. In diesem Zu- A-1940

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(44) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 DIE ÜBERSICHT

52,9 73,5

19,5 13,2

27,6 13,3 schwerhörig gehörlos

fast keine mäßige gut Grafik 3

Selbsteinschätzungen älterer Kinder zu ihren Chan- cen, Fremde zu verstehen (Empfangschancen), in Ab- hängigkeit vom Hörstatus (in Prozent) (Altersmittel 12,9 Jahre)

fast keine mäßige gut 21,1

34,8

21,0 19,6 57,9

45,6 schwerhörig gehörlos Grafik 4

Selbsteinschätzungen jüngerer Kinder zu ihren Chan- cen, sich in der Familie verständlich machen zu kön- nen (Sendechancen), in Abhängigkeit vom Hörstatus (in Prozent) (Altersmittel 11,5 Jahre)

fast keine mäßig gut

fast keine mäßig gut

(4)

A-1941

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Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 (45) sammenhang sei ein aktuell wahr-

scheinlich immer wichtiger werdendes sozialpsychologisches Moment hervor- gehoben. Es hebt die Gruppe Gehörlo- ser von anders behinderten Gruppie- rungen ab. Die Gehörlosen definieren sich über ihre eigene Sprache, die eine eigenständige kulturelle Leistung dar- stellt und bewirkt, daß sie sich unter- einander als nicht kommunikativ be- hindert erleben. Für selbstbewußte er- wachsene und auch zunehmend immer mehr jugendliche Gehörlose markiert der Begriff „gehörlos“ eine Identität, keine audiometrische Hörschadens- klassifikation. Dem Selbstverständnis des „hörgerichteten Ansatzes“ von (Früh)erziehung entspricht es jedoch, dieses Etikett auf dem Weg über einen frühestmöglichen akustischen Input sowie ein in der Folge intensives aural- orales Reizangebot überflüssig zu ma- chen. Vor diesem strittigen Hinter- grund wird es orientierungsbedürftigen Eltern sehr schwer gemacht, sich zu- mindest das Gefühl eines eigenen We- ges gemeinsam mit ihrem Kind zu be- wahren. Die aktuell wieder verfeinerte, unbedingt begrüßenswerte Hörtech- nologie läßt sich jedoch durchaus in fol- gende Zielvorstellungen für eine ganz- heitlichere, kein zusätzliches Bezie- hungs- oder Entwicklungsrisiko stif- tende (Früh)förderung im Sinne einer Kommunikationsförderung einbauen:

1Stimulation aller Sinneskanäle für eine intensivere, handelnde Aus- einandersetzung des stark hörbehin- derten Kleinkindes mit seiner perso- nalen wie dinglichen Umwelt.

1 Erreichen einer offenen, kom- plementären Kooperation (9) zwi- schen Frühförderer und Eltern, bei

der elterliche Erfahrungen aus dem Umgang mit ihrem Kind sowie Fach- wissen und Hilfestellung des Exper- ten ineinandergreifen, ohne daß der Blick für die Spontanität der Eltern- Kind-Interaktion verlorengehen darf.

1 Frühe Hörgeräteversorgung, selbstverständlich inklusive sorgfältig indizierter Implantatversorgung, aber

ohne frühe Einengung von Kommu- nikation auf ausschließliches Hörtrai- ning und Lautsprachanbahnung.

1 Generelle Unterstützung von Freude an entspannter Kommunikati- on, die bei stark hörbehinderten Klein- kindern ohne intensive visuelle Stützen (Körpersprache, Mimik, Gebärden) undenkbar ist, dies im übrigen auch bei nicht hörbehinderten Kleinkindern.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-1938–1941 [Heft 28-29]

Literatur

1. Grimm H: Sprachentwicklung: Vorausset- zungen, Phasen und theoretische Interpre- tationen. In: Oerter R, Montada M (Hrsg):

Entwicklungspsychologie. München, Wein- heim: PVU, 1995.

2. Hintermair M, Voit H: Bedeutung, Iden- tität und Gehörlosigkeit. Heidelberg:

Groos J, 1990.

3. Kammerer E: Kinderpsychiatrische Aspek- te der schweren Hörschädigung. Stuttgart:

Enke, 1988.

4. Kiphart EJ, Schilling F: Körper Koordina- tionstest für Kinder (KTK). Weinheim:

Beltz, 1979.

5. Papousek M: Frühe Phasen der Eltern- Kind-Beziehungen. Ergebnisse der ent- wicklungsbiologischen Forschung. Psycho- therapie und Psychosomatik 1989; 34:

109–123.

6. Prillwitz S: Zum Zusammenhang von Ko- gnition, Kommunikation und Sprache mit Bezug auf die Gehörlosenproblematik.

Stuttgart, Berlin: Kohlhammer, 1982.

7. Remschmidt H, Schmidt MH: Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Bern: Huber, 1994.

8. Schlesinger HS: The effects of deafness on childhood development: an Eriksonian perspective. In: Liben LS (Ed): Deaf child- ren: Developmental Perspectives. New York, San Francisco: Academic Press Inc, 1978.

9. Speck O, Warnke A: Frühförderung mit den Eltern. München, Basel: Reinhardt, 1983.

10. Uden van A: Diagnostic testing of deaf children: the syndrome of dyspraxia. Lisse:

Swets und Zeitlinger, 1983.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. Emil Kammerer Klinik und Poliklinik

für Kinderheilkunde Bereich Psychosomatik

Westfälische Wilhelms-Universität Domagkstraße 3b

48149 Münster DIE ÜBERSICHT/FÜR SIE REFERIERT

fast keine mäßige gut 1,5

6,6 17,9

93,4 80,6 schwerhörig

gehörlos Grafik 5

Urteile der Mütter zu den Chancen ihrer hörgeschä- digten Kinder, sich in der Familie verständlich ma- chen zu können (Sendechancen), getrennt nach Hör- status (in Prozent)

In den USA ist die Identifizierung eines Gens gelungen, welches für eine familiär auftretende Form der Parkin- sonschen Krankheit verantwortlich ist.

Es wurde eine große, aus Italien stam- mende und jetzt in den USA lebende Familie untersucht, bei der sich das für Morbus Parkinson repräsentative Krankheitsbild in früherem Lebensal- ter manifestiert (46 613 Jahre). Durch Kopplungsanalysen und anschließen- de Sequenzierung der lokalisierten Re-

gion konnte ein Gen auf Chromosom 4 isoliert werden, das für ein präsynapti- sches Protein kodiert und dem eine mögliche Rolle bei der Gedächtnis- speicherung und ähnlichen neuronalen Prozessen zugewiesen wird. Die Se- quenzanalyse ergab, daß es sich um das Protein a-Synuclein handelt, welches auch in den b-Amyloid-Plaques ent- halten ist, die für die Neuropatholo- gie des Morbus Alzheimer charakteri- stisch sind. Die beschriebene Punkt-

mutation führt zu einem Aminosäu- reaustausch. Die Ergebnisse können nach Hoffnung der Forscher zu einem besseren Verständnis der molekularen Ursachen der Parkinsonschen Krank-

heit beitragen. me

Polymeropoulos MH, Lavedan C, Leroy E et al.: Mutation in the a-synuclein gene identified in families with Parkinson’s disease. Science 1997; 276: 2045-2047.

M. H. Polymeropoulos, Laboratory of Genetic Disease Research. National Hu- man Genome Research Institute, Natio- nal Institutes of Health, Bethesda, MD 20692-1430, USA.

Gen für Morbus Parkinson identifiziert

fast keine mäßig gut

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