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Archiv "Der Gesundheit des Einzelnen verpflichtet" (19.11.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ärzte aus West- und Osteuropa

Der Gesundheit des Einzelnen verpflichtet

Aus dem Statement von Dr. Karsten Vilmar bei der WHO-Tagung in Wien

Z

ur Rolle und Bedeutung der ärztlichen Berufsorganisa- tionen für die Entwicklung der Gesundheitspolitik, die Ge- sundheitserziehung und die Ge- sundheitsforschung wurde für Osteuropa erklärt, daß es dort unterschiedliche Systeme und unterschiedliche Auffassungen gebe. Das trifft sicher in beson- derem Maße auch für Westeuro- pa zu. Unterschiedliche Auffas- sungen ergeben sich vor allem aus dem Pluralismus, der unter- schiedlichen Mentalität und der Individualität der Völker Euro- pas, bei der — wie bei den Spra- chen —eine faszinierende Vielfalt besteht. So gibt es allein im Be- reich der Europäischen Gemein- schaften neun Sprachen.

WHO-Ziele nicht bindend Als derzeitiger Präsident des Ständigen Ausschusses der Ärz- te der EG, der zwölf Ärzteorgani- sationen aller EG-Mitgliedsstaa- ten mit über 700 000 Ärzten um- faßt, bin ich ermächtigt mitzutei- len, daß wir die vom Regionalbü- ro Europa aus dem ursprüngli- chen WHO-Dokument „Gesund- heit für alle im Jahr 2000" erar- beitete Zusammenfassung für besser als das ursprüngliche Do- kument halten, weil es auf die besonderen Verhältnisse in Eu- ropa Bezug nimmt. Es muß aller- dings unterstrichen werden, daß die erarbeiteten Vorschläge und Regionalziele rechtlich nicht ver- bindlich sein können, weil die Verhältnisse in den 33 Staaten dieser Region außerordentlich verschieden sind.

Das Dokument vom 14. Juli 1984, das bereits im Dezember 1984 in Kopenhagen erörtert worden ist, stellt 38 höchst unterschiedliche Ziele heraus. Teilweise handelt es sich um Forderungen, die

schon seit Jahrhunderten erho- ben werden, die für Ärzte seit langem selbstverständlich sind, die auch in einigen Ländern schon längst erreicht sind; teil- weise jedoch um Ziele, für deren Verwirklichung wissenschaft- liche Erkenntnisse notwendig sind, die zumindest bis heute nicht vorliegen. Diese Ziele sind daher weder mit den Mitteln der Politik noch der Technik erreich- bar.

Es ist von jeher Aufgabe der Ärz- te gewesen, die Gesundheit zu schützen und nicht erst dann tä- tig zu werden, wenn die Gesund- heit gestört ist und wieder herge- stellt werden muß. Wir Ärzte ha- ben also die Pflicht, uns um Prä- vention zu kümmern. Viele Erfol- ge der Medizin sind aus diesem Präventionsgedanken heraus entstanden; ich erinnere zum Beispiel an die Prophylaxe von Infektionskrankheiten.

Wir sollten allerdings vor allem dort tätig werden, wo medizi- nisch-wissenschaftliche Grund- lagen vorhanden sind. Wo sie bislang fehlen, ist zunächst die Forschung zu fördern. Präven- tion ist ferner nicht ausschließ- lich Aufgabe der Ärzte. Es muß vielmehr versucht werden, das Verhalten jedes einzelnen Men- schen und der gesamten Gesell- schaft zu ändern.

Erziehung zur Prävention Dies ist eine Aufgabe der Erzie- hung, die in der Schule begin- nen muß, eine Aufgabe der Poli- tik und der Repräsentanten der Staaten, deren Verhalten auf das Verhalten anderer prägend wirkt. So geben zum Beispiel Po- litiker, die bei Fernsehdiskussio- nen rauchen, sicher kein gutes Beispiel für die Jugend.

Bei allem, was im Rahmen des Gesundheitswesens geplant wird, sollten die Ärzte und auch die Organisationen der Ärzte- schaft als sachkundige, gleich- berechtigte Gesprächspartner mitwirken können. Nur dann können derartige Projekte opti- mal geplant und realisiert wer- den. Leider werden jedoch nicht immer die sachkundigen Rat- schläge der Ärzteschaft in politi- sche Entschlüsse umgesetzt — vielleicht ist das auch politisch nicht immer möglich. Wir halten es aber für unabdingbar, daß die Ärzteschaft zumindest gehört wird.

Vieles wird Utopie bleiben Wir Ärzte müssen uns allerdings auch melden, wenn den Men- schen unbegründete Hoffnun- gen gemacht werden und eine Art „säkularisierter Glückselig-

keit" versprochen wird. Es ist dann notwendig, die Öffentlich- keit darüber zu informieren. So ist vieles, was in der WHO-Defini- tion des Begriffes „Gesundheit"

enthalten ist, genauso utopisch wie manche Ziele, die in der Re- gionalstrategie „Gesundheit für alle im Jahr 2000" aufgeführt sind. Sie sind nicht realisierbar, weil die medizinisch-wissen- schaftlichen Voraussetzungen dafür fehlen. Sie sind vielleicht auch deshalb nicht erreichbar, weil nach heutigem Erkenntnis- stand manche beeinflußbar er- scheinenden Erkrankungen in Wirklichkeit genetisch prädispo- niert sind, also unbeeinflußbar und schicksalhaft verlaufen.

Ferner kann in freiheitlichen Ge- sundheitssystemen gesundheits- bewußtes Verhalten der Bürger nicht erzwungen werden, man kann nur Eigeninitiative und Ei- genverantwortung des Einzel-

1266 (18) Heft 47 vom 19. November 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ärzte aus West- und Osteuropa

benden Population zu verbes- sern.

Mir scheint es außerordentlich wichtig, die Gesamtthematik aus- führlich zu diskutieren, wobei auch Fragen der aktiven und pas- siven Sterbehilfe angesprochen werden müssen, weil sie in eini- gen europäischen Ländern, so zum Beispiel in den Niederlan- den, schon zu Gesetzesinitiativen geführt haben. Diese könnten je- doch dazu führen, daß wiederum Menschen über den „Wert" oder

„Unwert" des Lebens anderer Menschen entscheiden. In einer neuen „Medizin ohne Mensch- lichkeit" könnten dann gewisser- maßen Gesundheitsökonomen zu „Schreibtischtätern" werden.

Für Ärzte sind dagegen heute wie vor zweieinhalbtausend Jah- ren ethische Grundnormen ärzt- lichen Handelns zu beachten, wie sie im abendländischen Kul- turkreis seit Hippokrates im we- sentlichen unverändert gelten.

Diese ethischen Grundnormen wurden von der World Medical Association 1948 im Genfer Ge- löbnis ausdrücklich aktualisiert und bestätigt. Dies Genfer Ge- löbnis steht in der Bundesrepu- blik Deutschland der Berufsord- nung voran und ist somit für alle Ärzte verbindlich.

Die Menschenwürde muß unantastbar bleiben

Fortschritt kann immer nur dann erreicht werden, wenn vorher für unüberwindbar gehaltene Gren- zen überschritten werden. Wir würden es jedoch als tragisch empfinden, wenn durch politisch initiierte Programme Erwartun- gen geweckt werden, von denen schon von Anfang an mit Sicher- heit bekannt ist, daß sie auf ab- sehbare Zeit nicht erfüllbar sind oder die Menschen zu Arbeits- material von staatlichen Gesund- heitsbürokratien machen. Dies wäre unseres Erachtens mit der Beachtung von individuellen Persönlichkeitsrechten und der Menschenwürde unvereinbar. ❑

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft informiert:

Bundesgesundheitsamt schränkt Anwendungsgebiet von Metamizol-haltigen Monopräparaten ein

Alle 104 Metamizol-haltigen Monoprä- parate dürfen nach Bescheid des Bun- desgesundheitsamtes vom 11. Novem- ber 1986 künftig nur noch vertrieben werden zur Anwendung bei

akuten starken Schmerzen nach Verletzungen oder Operationen;

Koliken;

Tumorschmerzen;

sonstigen akuten oder chronischen Schmerzen, soweit andere therapeuti- sche Maßnahmen kontraindiziert sind;

hohem Fieber, das auf andere Maß- nahmen nicht anspricht.

In der Gebrauchsinformation von In- jektionsformen Metamizol-haltiger Arzneimittel ist künftig darauf hinzu- weisen, daß bei der Anwendung der Arzneimittel die Voraussetzungen für eine Schockbehandlung gegeben sein müssen, da der Schock eine mögliche, wenn auch seltene, Nebenwirkung der Präparate ist. In der Gebrauchsinfor- mation ist außerdem darauf aufmerk- sam zu machen, daß die enterale Dar- reichungsform (Tabletten, Tropfen, Zäpfchen usw.) wenn möglich vorzu- ziehen ist.

Die Maßnahmen des Bundesgesund- heitsamtes treten am 1. März 1987 in Kraft.

Mit Schreiben vom 11. November 1986 hat das Bundesgesundheitsamt 44 pharmazeutische Unternehmen von seiner Absicht unterrichtet, für 134 Metamizol-haltige Arzneimittel mit mehreren Wirkstoffen (Kombinations- präparate) die Zulassung zu widerru- fen. Den pharmazeutischen Unterneh- men ist Gelegenheit zur Stellung- nahme binnen drei Wochen gegeben worden. Vom Ergebnis der Stellung- nahme wird es mit abhängen, ob und wann diese Absicht in die Tat umge- setzt wird.

Im Zusammenhang mit der Nutzen-Ri- siko-Abwägung bei Metamizol-halti- gen Arzneimitteln ist das Bundesge- sundheitsamt im übrigen zu der Auf- fassung gekommen, daß die Ver- schreibungspflicht für die enteral an- zuwendenden Metamizol-haltigen Arz- neimittel angeordnet werden sollte, da sie die menschliche Gesundheit auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch gefährden können, wenn sie ohne ärztliche Überwachung angewendet

werden.

nen stärken. Dabei stößt man al- lerdings auf das Phänomen der kognitiven Dissonanz, das heißt, die Menschen wissen zwar, was ihnen schadet, sie sind aber den- noch nicht bereit, sich den Er- kenntnissen der Wissenschaft und ihrem eigenen Wissen ent- sprechend zu verhalten. Viel- leicht resultiert auch gerade aus einem derartig abweichenden Verhalten im Einzelfall eine be- sondere Zufriedenheit und Le- bensfreude.

Erfolgreiche Medizin

Der Arzt ist zwar der Gesundheit des Einzelnen und der gesamten Bevölkerung verpflichtet; er ist aber in erster Linie Anwalt des Patienten und nicht Vertreter der Öffentlichkeit gegenüber einzel- nen Menschen.

Auf ein Versagen der Medizin kann schließlich nicht wegen der Zunahme zum Beispiel von chro- nischen Krankheiten geschlos- sen werden. Im Gegenteil: Weil vielfach vorzeitiger Tod durch wirksame Behandlung verhin- dert werden kann —allerdings oft nur um den Preis der Dauerbe- handlungsbedürftigkeit —, ist dies eher ein Symptom für eine erfolgreiche Medizin.

Von Politikern wird oft ein be- tont ökologischer Standpunkt vertreten, von anderen ein ex- trem ökonomischer. Die Aufwen- dungen im Gesundheitswesen werden nach dem Nutzen für die Gesamtheit beurteilt. Der einzel- ne Mensch, das Individuum, wird damit zur Masse, für die es frü- her die schreckliche Vokabel

„Menschenmaterial" gab. Den Ärzten darf jedoch nicht vorge- worfen werden, sie nähmen mas- sive Eingriffe in natürliche Ab- läufe vor oder hingen einer über- holten Individual-Ethik an. Denn es wäre wohl zutiefst inhuman, wenn Patienten, die wirksam be- handelt werden könnten, ster- ben müßten, um dadurch den Gesundheitszustand der überle-

Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 47 vom 19. November 1986 (19) 3267

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