S C H L U S S P U N K T
H
err Stich-ling war ein Patient von knapp 60 Jahren, ehemali- ger Bauhilfsarbeiter, vorzeitig berentet. Er kam regelmäßig am Dienstag und am Frei- tag in die Praxis und holte sich seine Spritze ab. Die Angaben zu sei- nen Beschwerden waren laut, aber ungenau und nuschelnd. Er hielt den Kopf etwas schief, sein Gesicht leicht gerötet, die Augen hinter seiner Brille versteckt, schauten einen nicht an. Ein sympathischer Patient von einfacher Intelligenz. Unverheiratet lebte er mit seiner jüngeren Schwester in einem Haushalt.Ich war neu in dieser Praxis und wunderte mich, dass er so bereitwillig die intramuskulären Spritzen akzep- tierte, Tabletten lehnte er ab. Er klagte immer wieder über schlimme Beinbeschwerden links, vom Ober- schenkel ausgehend und seitlich in den Unterschenkel ziehend. Die Dauerdiagnose lautete Lumboischialgie links. Untersuchungen ließ Herr Stichling geduldig über sich ergehen, er schien keine Eile zu haben. Röntgen- aufnahmen der Lendenwirbelsäule zeigten zwar eine Spondylosis deformans, aber der Befund war altersent- sprechend. In der Computertomografie das gleiche Bild, bei der Kernspintomografie kein Bandscheibenprolaps, nicht einmal eine Protrusio. Kein positives Lasègue, keine Parästhesien, keine Fußheberschwäche, Reflexe seitengleich und gut auslösbar, keine pathologischen Reflexe, klinische und neurologische Untersuchungen beim Facharzt ohne positiven Befund. Die Farbduplex- sonografie zeigte die arteri- elle und venöse Durchblu- tung völlig normal.
Der Patient interessierte mich. Warum holte er sich so regelmäßig seine intra- muskulären Spritzen ab und wollte keine Tabletten ein- nehmen? Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit unterhielt ich mich etwas länger mit Herrn Stichling, und da kam Folgendes her- aus: Er lebte mit seiner Schwester zusammen, die nach seiner Schilderung ei-
ne Xanthippe sein musste und sein Gehen und Kommen mit Argusaugen überwachte. Der Gang zum Arzt war seine einzige Möglichkeit, dem Kommando seiner Schwester zu entgehen, um in aller Ruhe in der Nähe der Praxis einen Kaffee trinken zu können und mit anderen Männern ein Schwätzchen zu halten. Es war Herrn Stichling auch nicht möglich, den Praxisbesuch nur vor- zuschieben, nein, seine Schwester rief in der Praxis an, um festzustellen, ob er tatsächlich behandelt worden sei.
Genausowenig war es möglich, Herrn Stichling nur in die Praxis kommen zu lassen, um ihm ohne intramus- kuläre Spritze ein Alibi für sein kleines „Laster“ zu ge- währen. Seine Schwester kontrollierte sogar, ob die Ein- stichstelle der Injektion mit einem Pflaster versorgt war.
Eines Tages erschien sie in der Praxis und beschwer- te sich, dass Herr Stichling um 8 Uhr 30 einen Termin bei uns hatte und erst um halb eins wieder zu Hause ge- wesen sei. Ich pflichtete ihr bei, dass halb ein Uhr in der Nacht wirklich sehr spät sei. Nein, mittags um halb eins sei er erschienen, und sie würden doch gewöhnlich um halb zwölf zu Mittag essen. Wir suchten und fanden ei- ne Lösung, Herrn Stichling ohne intramuskuläre Spritze zum Kaffeetrinken zu verhelfen. Er erhielt seine Termi- ne, bekam rechts oder links ein Injektionspflaster auf die Hüfte und verließ freudestrahlend die Praxis, um seinen Kaffeeshop aufzusuchen. Wir ermahnten ihn noch,
rechtzeitig zu Hause zu sein. I
Dr. med. Wolfgang Weise
„Warum holte er sich so regelmäßig seine intra- muskulären Spritzen ab und wollte keine Tablet- ten ein- nehmen?“
ARZTGESCHICHTE
Herr Stichling
Zeichnungen:
Elke Steiner
[116] Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1725. April 2008