[100] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 9|
5. März 2010ARZTGESCHICHTE
Bauchschmerzen
„Da läuten doch alle Alarmglocken,
Blinddarm, Gallenkolik, Magendurchbruch, Nierensteine, Harnwegsinfekt . . . also kein Rezept ohne Befragung und Untersuchung.“
E
s war zu Beginn der 70er Jahre, meine Praxis be- stand etwa seit einem halben Jahr, und der Zulauf neuer Patienten war erfreulich groß – wohl nach dem Motto „Neue Besen kehren gut“ –, so dass die Sprech- stundentermine schon voll ausgelastet waren, aller- dings mit eingeplanten Leerzeiten für Akutfälle.Vormittags, während des Röntgens – damals noch nach langer Dunkeladaptation – teilt mir meine Helferin mit, eine junge, hier noch unbekannte Patientin wünsche nur ein Rezept gegen ihre Bauchschmerzen, sie wolle den Doktor gar nicht weiter aufhalten. Bauchschmerzen!
Da läuten doch alle Alarmglocken, Blinddarm, Gallen- kolik, Magendurchbruch, Nierensteine, Harnwegsinfekt . . . also kein Rezept ohne Befragung und Untersuchung.
Die Patientin wird gebeten, bis zur Beendigung des Röntgens zu warten, und so geschah es.
Die Anamnese ist mager: Beschwerden seit heute früh mit schmerzfreien Pausen, keine ernsten Vorerkrankun- gen, letzte Regel vor drei Wochen. Befund: Schwanger- schaft, nach internistischer Einschätzung wohl ziemlich am Ende der Zeit, eindeutige Herztöne und Kindsbewe- gungen, also Wehen. Dann die Überraschung: Die junge Dame behauptet steif und fest, sie sei nicht schwanger, das sei auch gar nicht möglich, sie wüsste auch nicht, wovon sie denn wohl schwanger sein könnte!
Nach längerer Diskussion gelingt es mir wenigstens, sie davon zu überzeugen, dass ihre Beschwerden von den Unterleibsorganen ausgingen und dass somit ein Frauenarzt die Behandlung übernehmen müsse. Auf meine dringende Anweisung hin ist sie auch bereit, den ganz in der Nähe praktizierenden Gynäkologen aufzu- suchen.
Aber es kommt anders als gedacht: Die junge Dame bekommt Hunger und entschließt sich, zum Mittages- sen mit dem ÖPNV – damals sagten wir noch mit dem Bus – zu ihren zehn Kilometer entfernt wohnenden El- tern zu fahren. Gesättigt kommt sie zurück zu ihrer Lehrstelle, erhält vom Meister die Erlaubnis, noch ein- mal zum Arzt zu gehen und sucht nun den Gynäkolo- gen auf.
Dieser ruft mich am Nachmittag an und fordert mich auf, meine Helferinnen zu einem Arbeitseinsatz zu ihm zu schicken. Die Bauchschmerzen waren in der Tat We- hen, und die Entbindung fand unmittelbar nach dem Eintreffen im schnellstens umfunktionierten Sprech- zimmer meines Kollegen statt. Einzige Komplikation:
dringend erforderliches Großreinemachen.
Folge für mich: größte Zurückhaltung bei der Aus-
stellung von Wunschrezepten. ■
Dr. Karl-Hans Eckstein
Zeichnung: Elke R. Steiner