[112] Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 31–32⏐⏐6. August 2007
S C H L U S S P U N K T
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in Kranführer war aus zwölf Metern Höhe abge- stürzt. „Sturz aus zwölf Metern Höhe in eine Bau- grube!“, kam die Meldung von der Leitstelle. Dies war keiner der üblichen Routineeinsätze. Der Fahrer des Noteinsatzfahrzeugs gab sein Bestes und kurvte uns si- cher durch die Innenstadt. Nach drei Minuten waren wir am Unfallort. Aufgeregte Bauarbeiter geleiteten uns durch ein halb fertiggestelltes Haus in die tiefer gelege- ne Baugrube. Dort lag der verunglückte Kranführer auf einem eingedrückten Armierungsgitter. Bei dem Ver- such, die verhedderte Laufkatze seines Krans vom Bau- gerüst zu lösen, war er kopfüber abgestürzt.Mit einem unguten Gefühl untersuchte ich den Ver- unglückten. Er war jedoch wach, ansprechbar, kreis- lauf- und atmungsstabil und insgesamt in einem be- merkenswert guten Zustand. Es imponierten lediglich ein Spontannystagmus nach rechts und eine leichte Pu- pillendifferenz. Ich legte zwei großlumige Zugänge und die Rettungsassistenten brachten unter HWS-Ex- tension einen Stiffneck an. Eine zweite, nun ausführli- chere körperliche Untersuchung bestätigte den guten Zustand meines Patienten. Auf einer Vakuummatratze immobilisiert, warm eingepackt und mit ausreichend Volumen versehen, wurde er für den Abtransport vor- bereitet.
Da gewahrte ich einen hünenhaften Bauarbeiter, der etwas abseits in der Baugrube stand. Er hatte offensicht-
lich starke Schmerzen und bewegte sich in gekrümmter Haltung. In der Meldung war nur ein Unfallopfer er- wähnt worden. Seine umstehenden Kollegen lösten das Rätsel für mich auf: Der Kranführer war aus zwölf Me- tern Höhe genau auf diesen Riesen gestürzt, welcher sich in der ansonsten menschenleeren Baugrube auf- hielt. Warum er genau zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort gestanden hatte? – Ich weiß noch, wie mir das Wort
„Schutzengel“ durch den Kopf schoss, während ich ihn ebenfalls untersuchte. Auch er war in einem sehr guten Zustand und konnte rasch zur Weiterversorgung ins Krankenhaus gebracht werden.
Unterdessen war die Feuerwehr zur Höchstform auf- gelaufen und hatte den Kranführer mithilfe einer abge- senkten Drehleiter patientenschonend aus der Baugrube geborgen. Aufgrund seiner ZNS-Symptomatik wurde er per Helikopter in die nächstgelegene Neurochirurgie geflogen. Noch am selben Tag wurde ein subdurales Hä- matom ausgeräumt, und eine Woche später wurde der Kranführer entlassen.
Sein „Schutzengel“ konnte das Krankenhaus eben- falls bald wieder verlassen.
Es kommt sicher nicht oft vor, dass man seinen per- sönlichen „Schutzengel“ trifft. Der Kranführer hatte sei- nen „Schutzengel“ sogar punktgenau getroffen. Nur deshalb, da bin ich mir sicher, hatte er überlebt. I Dr. med. Wolf Peter Reutter
ARZTGESCHICHTE