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Archiv "Methadon-Substitution in der Behandlung schwerkranker Opiatabhängiger" (31.10.1991)

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AKTUELLE MEDIZIN

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Methadon-Substitution in der Behandlung

schwerkranker Opiatabhängiger

Clemens Rösinger und Markus Gastpar

1. Einleitung

Nachdem die Diskussion über den Einsatz von Methadon in der Behandlung opiatabhängiger Patien- ten in der BRD zu teils heftig ge- führten Diskussionen auch an dieser Stelle geführt hat, erscheint es nun- mehr nach fast dreieinhalb Jahren Laufzeit des Methadon-Erprobungs- vorhabens des Landes NRW ange- bracht, in einem Zwischenbericht die bisherigen Ergebnisse vorzustellen und zu kommentieren.

Die Notwendigkeit, alternative und ergänzende Methoden in der Behandlung Opiatabhängiger zu ent- wickeln beziehungsweise anzuwen- den, ergab sich aus der allgemeinen Verschärfung des Drogenproblems einschließlich der gesamten HIV- Problematik, daneben aus der Erfah- rung, daß herkömmliche Therapie- angebote einen Teil derer, für die sie gedacht sind, nicht erreichen, ferner aus Erfahrungen aus dem sogenann- ten Hammer Modell, die zeigten, daß unter den Absolventen einer drogenfreien Langzeittherapie die, denen es gelungen war, eine soziale und berufliche Stabilisierung zu er- reichen, es später auch eher schaff- ten, drogenfrei zu werden (1).

Erfahrungen über die Metha- donsubstitution im Ausland liegen in großer Fülle vor, das Schweizer Me- thadonprogramm stand in der Kon- zeption dem wissenschaftlichen Er- probungsvorhaben NRW Pate.

Klinik für Allgemeine Psychiatrie

(Direktor: Prof. Dr. med. Markus Gastpar Rheinische Landes- und Hochschulklinik Essen

Die Methadonsubstitution kann ei- ne mit herkömmlichen Therapien vergleichbare Behandlungsform sein. Ein Großteil der Patienten profitiert körperlich, psychisch und sozial, während lediglich 13 Prozent der Patienten wegen nicht behandelbarer Polytoxikomanie ausgeschlossen werden müssen, obwohl im wesentlichen psy- chisch schwer gestörte Patienten behandelt werden. Bei schwer AIDS-kranken Opiatabhängigen zeigen sich im Essener Versor- gungsmodell anhaltende, wenn auch palliative Erfolge als Alterna- tive zur Fortführung des täglichen Fixens mit hohem Ansteckungsri- siko. Die Schaffung eines örtli- chen multiprofessionellen thera- peutischen Netzwerks ist dabei Voraussetzung.

2. Grundkonzepte der Substitution und derzeiti- ger Stand in der BRD

2.1 Grundkonzepte

Historisch geht die kontrollierte Methadonsubstitution zurück auf Dole und Nyswander, die 1964 in New York das erste strukturierte Metha- donprogramm initiierten (2). Aus- gangspunkt war die Hypothese eines biologischen Defekts im System der Opiatrezeptoren (Defizithypothese), welcher, vergleichbar mit dem Insu- linmangel beim Diabetes mellitus, durch Substitution entsprechender Substanzen, in diesem Fall mit Opi- aten, behoben werden könnte.

Ein solches Substitut muß dem- nach zu einer Opiatrezeptor-Absätti-

gung führen, ohne jedoch gleichzei- tig den euphorisierenden und in der weiteren Therapie hinderlichen Dro- geneffekt zu besitzen, ferner dürfen keine gravierenden Nebenwirkungen auftreten. Als eine solche Substanz bot sich Methadon an, ein im Zwei- ten Weltkrieg synthetisiertes Opiat- Analgetikum. Seine Vorteile sind ei- ne lange Halbwertzeit von über ei- nem Tag sowie die orale Verfügbar- keit.

Durch das pharmakologisch auf- gefüllte „Defizit" konnte die biologi- sche Seite der Sucht sozusagen neu- tralisiert werden ( = maintenance), was beim Patienten einmal den Opi- athunger stillte und ihm zum ande- ren die Möglichkeit eröffnete, nach Aufgeben der täglichen Jagd nach Heroin sich seinen psychosozialen Belangen einschließlich therapeuti- schen Angeboten zuzuwenden. Ein wichtiger Bestandteil dieses biolo- gisch fundierten Modells war schon in der Anfangszeit die gleichzeitige psychosoziale Betreuung.

Eine Variante dieser Substituti- ons-Grundidee ist die, daß unabhän- gig von der Annahme irgendwelcher biologischer Defizite es durchaus Sinn machen kann, das vielschichtige Problem der individuellen Abhängig- keit stufenweise zu lösen ( = mainte- nance to abstinence). Dabei bietet das Substitut die Möglichkeit der Verhaltensänderung, die, nachdem es zu einer Stabilisierung im psycho- sozialen und gesundheitlichen Be- reich gekommen ist, sekundär den Verzicht auf sämtliche Drogen er- möglicht. Es handelt sich in diesem, Fall um eine Modellumkehr der her- kömmlichen Drogentherapie, die Drogenfreiheit chronologisch ge- wöhnlich an die erste Stelle setzt.

Eine letzte Variante der Metha- donsubstitution ist der Einsatz von Methadon als sozialpolitische Maß- A-3712 (38) Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991

(2)

Tabelle 1: Zwei Formen der Polamidon-Substitution (BRD)

• Wissenschaftlich begleitetes Erprobungsvorhaben zur medikamen- tös gestützten Rehabilitation drogenabhängiger Patienten:

—wissenschaftliche Prüfung der Substitution als Ergänzung/Alter- native zum bestehenden Therapieangebot für Opiatabhängige

—örtliche und zeitliche Begrenzung

—definierte Rahmenbedingungen — kein Versorgungscharakter

• Polamidon-Substitution nach BGA-Richtlinien:

- Überbrückung/Dauermedikation bei Schwerkranken (zum Beispiel AIDS)

—Versorgungscharakter nahme, wie wir es in den vom Dro-

genproblem überschwemmten Me- tropolen wie New York und Amster- dam auch vorfinden. Hier erfüllen sogenannte niederschwellige Pro- gramme (Methadonbus) die Aufga- be, das Ausmaß der gesundheitli- chen und sozialen Verelendung zu verringern, im Sinne einer Maßnah- me zur Schadensbegrenzung. In ein ähnliches Modell würden sich auch die Abgabe steriler Spritzen und die sogenannten „Fixerräume" (Schweiz) einreihen lassen (9).

2.2 Formen der

Substitution in der BRD

Grundsätzlich sind derzeit zwei Möglichkeiten der Methadonanwen- dung in der BRD denkbar (Tabelle 1). Zum einen sind es wissenschaft- lich begleitete Erprobungsvorhaben, die nach dem Modell Nordrhein- Westfalens nun auch in anderen Bundesländern Eingang finden. Es handelt sich hier um eine in der Re- gel multizentrische wissenschaftliche Prüfung der Substitution als Ergän- zung oder teilweise Alternative zum bestehenden Therapieangebot für Opiatabhängige. Diese Untersu- chungen sind in der Regel örtlich und zeitlich begrenzt, haben defi- nierte Rahmenbedingungen und zu- nächst einmal keinen Versorgungs- charakter.

Solche Studien laufen, außer in NRW, in ähnlicher Form derzeit im Saarland, in Hamburg, in Nieder- sachsen und Schleswig-Holstein an beziehungsweise werden vorbereitet (3). Daneben sieht das BTM-Recht den Einsatz von Betäubungsmitteln, so auch Methadon, vor in den Fällen, in denen keine Alternative besteht, das heißt andere Therapiemöglich- keiten ausgeschöpft sind (sogenann- te Ultima ratio). Der entsprechen- den Indikationsliste zufolge können dies beispielsweise perioperative, fortgeschrittene konsumierende Er- krankungen, die Schwangerschaft, ferner auch die HIV-Erkrankung in fortgeschrittenem Stadium (Stadium WR 3, CDC IV). Daneben (Be- scheid vom 16. November 1990) sind laut Bundesgesundheitsamt andere Einzelfälle denkbar, in denen der Einsatz von Methadon bei dem Feh-

len alternativer Möglichkeiten ver- tretbar ist (4) (Tabelle 2).

Es handelt sich hier also um In- dikationen zur Überbrückung oder auch als Dauermedikation bei schwerkranken Opiatabhängigen, wobei der Therapiecharakter als Ul- tima ratio im Einzelfall belegt wer- den muß.

3. Zur Methodik in der Suchtforschung Jedwede Evaluation in der Suchtforschung muß sich an den Zielkriterien der Suchttherapie ori- entieren. So gilt es, die soziale Stabi- lisierung, die gesundheitliche Stabili- sierung (somatisch als auch psy- chisch) und den zusätzlichen Dro- genmißbrauch zu erfassen. In der Praxis bieten sich dabei zum Teil er- hebliche Probleme insbesondere im Design retrospektiver Katamnesen, aber auch prospektiv ist die Erfas- sung des tatsächlichen Beigebrauchs mittels Urinanalysen von erhebli- chen methodischen Problemen be- gleitet, die hier nicht weiter ausge- führt werden sollen.

In den meisten Forschungsge- bieten haben sich prospektiv ange- legte Studien noch am ehesten als wissenschaftlich valide erwiesen, dies sowohl im Hinblick auf die defi- nierten Zielparameter als auch im Hinblick auf Aussagen zu möglichen Prädiktoren des Therapieerfolgs.

Neben standardisierten Anamnese- verfahren und Befunddokumentati- onssystemen, die weiterhin unter an- derem durch die DHS in Überarbei- tung sind, kommen testpsychologi-

sche Instrumente und laborchemi- sche Methoden zum Einsatz.

Im Erprobungsvorhaben NRW umfassen die testpsychologischen Fragebögen im wesentlichen Merk- male zur Persönlichkeit, dem Sucht- verhalten und kognitiven Funktio- nen. Laborchemische Hilfsmittel dienen neben der Erfassung des Stoffbeikonsums insbesondere auch der Beurteilung des körperlichen Gesundheitszustandes einschließlich des Immunstatus. Wie bei herkömm- lichen drogenfreien Therapien sind auch in Substitutionsbehandlungen folgende Kriterien Grundlage der Beurteilung (5, 6, 10):

> Anteil der erfaßten Patien- ten (derer, die ausschließlich von dieser Therapieform Gebrauch ma- chen können),

I> die Retentionsrate im Pro- gramm (das heißt Verweildauer und Behandlungscompliance),

> die Zahl der Abstinenten im Verlauf der Substitution und in spä- teren Katamnesezeiträumen,

1> die psychosoziale Bewährung (im Falle der Opiatabhängigen ins- besondere auch die offenkundigen Justizkontakte),

D die gesundheitliche Situation (somatisch und psychisch).

4. Erprobungsvorhaben NRW (substitutions- gestützte Rehabilitation i. v. Opiatabhängiger)

4.1 Rahmenbedingungen Aufgrund eines ministeriellen Erlasses aus dem Jahre 1987 (7) fin- A-3714 (40) Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991

(3)

Tabelle 2: Exemplarische Fallgruppen der Indikation für Methadon-Substitution laut Bundesärztekanuner

(erweitert nach BGA [41)

— Drogenabhängige mit lebensbedrohlichen Zuständen im Entzug

— Drogenentzug bei

schweren konsumierenden Erkrankungen

— Drogenentzug bei opiatpflichtigen Schmerz- zuständen

— Drogenabhängige am Ende der Schwangerschaft beziehungsweise unter der Geburt

— Drogenabhängige AIDS- Kranke mit fortgeschritte- ner manifester Erkrankung

— ärztlich begründete Einzelfälle

det an derzeit acht Standorten in NRW eine wissenschaftliche Erpro- bung des Einsatzes von Levometha- don bei Opiatabhängigen statt. Die fest definierten Aufnahmekriterien umfassen neben der langjährigen Opiatabhängigkeit und einer Alters- grenze insbesondere den Nachweis mehrerer gescheiterter Abstinenz- therapien herkömmlicher Art sowie die Verpflichtung zur aktiven Teil- nahme an den medizinischen und so- zialen Therapieangeboten.

Die Vergabe findet täglich unter ärztlicher Aufsicht statt, es erfol- gen regelmäßige Urinkontrollen auf Suchtstoffe sowie Atemluftkontrol- len auf Alkohol. Nach jedem Thera- piehalbjahr wird das Fortbestehen der Behandlungsindikation individu- ell geprüft und einer unabhängigen Kommission auf Landesebene zur Bewilligung vorgelegt.

Die auf fünf Jahre angelegte wissenschaftliche Erprobung wird sowohl sozial als auch internistisch und psychiatrisch jeweils zentral aus- gewertet, die Ergebnisse werden jährlich dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) und der Öffentlichkeit vorgelegt.

Gemäß der beschriebenen Um- kehr des Suchttherapiemodells, in dem die Drogenfreiheit sekundär nach erreichter gesundheitlicher und sozialer Stabilisierung erfolgen soll, bewirkt das Substitut zunächst die biologische „Neutralisierung" der Sucht, Methadon ist somit „Krücke", die dem Patienten ermöglicht, nach Ausbleiben des Entzugsyndroms und des Opiathungers die eigentliche Therapie im psychosozialen Bereich annehmen zu können.

4.2 Ergebnisse NRW

Aufgrund der Prognos-Jahres- berichte (3, 8), einer integrierten Darstellung der somatischen, psych- iatrischen und sozialen Evaluation, sind die nach den beschriebenen Kri- terien in das Erprobungsvorhaben.

aufgenommenen Patienten zu Be- ginn wie folgt charakterisiert:

D Die Mehrheit der Patienten war bei der Aufnahme in das Projekt älter als 30 Jahre (zwei Drittel der Teilnehmer zwischen 30 und 40 Jah- re alt).

D Geschlechtsverhältnis männ- lich zu weiblich: zirka 3 : 1.

D Im Durchschnitt waren die Teilnehmer über zehn Jahre opi- atabhängig, jeder fünfte von ihnen war sogar länger als 17 Jahre drogen- abhängig.

D Alle Patienten hatten in der Vergangenheit mehrfach an länge- ren Abstinenztherapien teilgenom- men und waren damit gescheitert.

Vier Patienten hatten zum damali- gen Zeitpunkt bereits fünf Therapie- versuche hinter sich, einer hatte es sogar zehnmal versucht.

D 15 Prozent der Teilnehmer hatten sich während ihrer Abhängig- keit mit AIDS-Virus infiziert. Die gesundheitliche Situation war bei et- wa der Hälfte der Patienten instabil oder gefährdet.

D Mit wenigen Ausnahmen wa- ren alle Patienten in der Vergangen- heit mehrfach wegen Verstoßes ge- gen das BTM-Gesetz verurteilt wor- den. Darunter fielen auch Verurtei- lungen aufgrund von Beschaffungs- delikten wie Diebstahl und Urkun- denfälschung. Die dafür insgesamt verbüßten Haftstrafen waren teilwei-

se erheblich, sie lagen häufig über zwei Jahre und dauerten in einem Fall sogar bis zu sieben Jahre.

Für den Prognos-Jahresbericht 1990 (8) lagen die kompletten Daten von fünf Zentren mit insgesamt 128 Teilnehmern vor, die Aufstockung auf über 200 Patienten mit den jüngst hinzugekommenen drei weite- ren Standorten hat begonnen.

Zusammengefaßt stellen sich die Ergebnisse anhand der beiden Pro- gnos-Berichte wie folgt dar:

4.2.1. Psychiatrische Evaluation Als wichtigstes Ergebnis läßt sich im Hinblick auf den psychischen Gesundheitszustand der Patienten festhalten, daß neben der eigentli- chen Suchtdiagnose in über 80 Pro- zent der Fälle mindestens eine wei- tere psychiatrische Diagnose gestellt wurde.

Nach Art der Störungen handelt es sich in erster Linie um sogenannte frühe Störungen, das heißt um Pa- tienten mit narzißtischer Persönlich- keitsstörung oder einer Borderline- Persönlichkeitsstörung, daneben wurden im Gesamtkollektiv vor al- lem die Diagnosen Angstneurose und neurotische Depressionen, hy- sterische und asthenische Persön- lichkeitsstörung diagnostiziert.

Eine gewisse Besonderheit bie- tet die Gruppe der depressiven An- passungsstörungen (depressive län- ger oder kürzer dauernde Reaktion), welche fast ausschließlich bei HIV- positiven Patienten auftritt.

Sowohl der Gesamtanteil der Zusatzdiagnosen als auch die Vertei- lung nach Diagnosegruppen ist an- hand der Zusammensetzung des Ge- samtkollektivs und nach allgemeiner klinisch-psychiatrischer Erfahrung nicht verwunderlich. Betrachtet man hingegen die Ausprägung und den Schweregrad der Störungen, gemes- sen an der Einschätzung einer Be- handlungsnotwendigkeit, so findet sich hier ein relativ hoher Anteil von über 50 Prozent. Mit anderen Wor- ten, bei mindestens der Hälfte der zusätzlich diagnostizierten Störun- gen handelt es sich um Diagnosen mit echtem Krankheitswert.

In Einzelfallbetrachtungen wird in vielen Fällen verständlich, daß die Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991 (43) A-3717

(4)

Suchtentwicklung im Rahmen ei- nes vergeblichen "Selbsttherapiever- suchs" gesehen werden kann; insbe- sondere wird dies deutlich bei Pa- tienten mit Angststörungen, worauf auch die mißbräuchliche Verwen- dung von angstlösenden Substanzen wie Benzodiazepinen, seltener Alko- hol oder Barbituraten im Drogenbei- gebrauchsmuster dieser Patienten hinweist.

In der großen Gruppe der Pa- tienten mit sogenannten frühen Stö- rungen hingegen (fast 18 Prozent un- ter den Zusatzdiagnosen) handelt es sich bei der Sucht vielfach um eines von vielen Symptomen bei in der Re- gel psychisch schwerstgestörten Indi- viduen. Bei vielen Methadon-Patien- ten kommt es offenbar zu einer De- maskierung zuvor durch die Drogen- einnahme verdeckter Störungen. Dies macht die Notwendigkeit einer individuell gestalteten psychiatri- schen Behandlung (in den meisten Fällen psychotherapeutisch ausge- richtet, gelegentlich psychopharma- kalogisch unterstützt) deutlich.

Als weiteres wichtiges Ergebnis der psychiatrischen Evaluation ist festzuhalten, daß sowohl anband der klinischen Einschätzung als auch aufgrund der testpsychologischen Ergebnisse kein Anhalt dafür be- steht, daß es unter der Einnahme von Methadon zu einer Einschrän- kung der kognitiven Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Reaktionsfähig- keit, Konzentrationsfähigkeit) und der Wachheit kommt, so daß eine Einschränkung der Psychotherapie- fähigkeit oder auch Arbeitsfähigkeit von dieser Seite her nicht zu erwar- ten ist.

4.2.2. Somatische Evaluation Die schon im Prognos-Bericht 1989 beschriebene deutliche Besse- rung des Allgemein- und Ernäh- rungszustandes der meisten Patien- ten setzte sich im Folgebericht fort.

Wurde der Allgemeinzustand bei der Eingangsuntersuchung in 57 Prozent als gut befunden, so war dies bei der Wiederholungsuntersuchung in 85 Prozent der Fall. Ähnliches gilt für das äußere Erscheinungsbild der Pa- tienten, die durchweg in gepflegte- rem Zustand und besser gekleidet

zur täglichen Methadon-Vergabe er- scheinen.

Was die HIV-Situation betrifft, so sind 85 Prozent der Patienten HIV-negativ, 13 Prozent HIV-posi- tiv, zwei Prozent HIV -erkrankt. Die immunulogischen Auswertungen las- sen erkennen, daß die Abwehrlage der HIV-Positiven und HIV-Er- krankten relativ stabil geblieben ist, so daß auch nach in einzelnen Fällen fast dreijähriger Behandlung in kei- nem Fall eine eindeutige Progre- dienz der Erkrankung festgestellt werden konnte. Von daher läßt sich die gelegentlich geäußerte Vermu- tung, Methadon könne die Abwehr- lage destabilisieren, anband der vor- liegenden Ergebnisse nicht bestäti- gen. Nur ein Prozent konvertierte im laufenden Programm zur HIV -Posi- tivität, wobei ein sexueller Risiko- kontakt vor Aufnahme in das Pro- gramm als ursächlich gesichert gilt.

Schwerwiegende Nebenwirkun- gen von seiten der bestehenden Me- thadon-Medikation traten nicht auf, häufig geklagte Nebenwirkungen be- treffen den neurovegetativen Be- reich, unterliegen zum Teil der Tole- ranz und verlieren sich somit unter der Therapie, lediglich die chroni- sche Obstipation war in Einzelfällen behandlungsbedürftig. In keinem Fall führten Nebenwirkungen zu ei- ner Beendigung der Therapie.

4.2.3 Zusätzlicher Drogenbeigebrauch

Anband der Ergebnisse der re- gelmäßig durchgeführten Urinunter- suchungen auf Suchtstoffe (teils un- ter Sicht gewonnene Proben) ließ sich im Prognosbericht 1989 in zirka zwei Drittel aller Fälle ein akzepta- bler Verlauf zeigen, in einem Drittel der Fälle war der Drogenbeige- brauch von so erheblichem Ausmaß, daß dies in einem Teil der Fälle zu einem Ausschluß aus dem Programm führte. Neben einer deutlichen Ab- nahme des Opiatgebrauchs und ei- ner Zunahme des Anteils drogen- freier Patienten zeigt sich in den in- dividuellen Gebrauchsmustern ein Trend weg von wahllosem Mehrfach- abusus toxischer Substanzen hin zu weniger toxischen individuellen Kombinationen.

A-3718 (44) Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991

Im einzelnen war nach einem Jahr festzuhalten, daß 14 Prozent der Patienten in diesem Zeitraum gänzlich drogenfrei wurden, weitere 11 Prozent immerhin opiatfrei. 43 Prozent zeigten nur noch gelegentli- chen Opiatgebrauch bei zum Teil si- tuativ gehäuftem Beigebrauch ande- rer Stoffe. Bei 31 Prozent der Klien- ten kam es zu einer nur zögerlichen Abnahme des Opiatgebrauchs mit zum Teil fluktuierendem Verlauf, oder andere Drogen wurden in ab- hängiger Weise gebraucht, wobei sich in dieser letzteren Gruppe die Ausschlußkandidaten befinden.

Die beschriebenen Entwicklun- gen bestätigen sich im wesentlichen im Prognosbericht 1990, wobei hier ergänzt wird, daß Benzodiazepine die am häufigsten gelegentlich miß- brauchte Droge sind, was mit derbe- schriebenen psychischen Struktur vieler Patienten gut in Einklang zu bringen ist.

Psychostimulanzien haben quan- titativ einen geringen Stellenwert, ei- ne Abhängigkeit von diesen Substan- zen kommt bei den Programm-Teil- nehmern praktisch nicht vor. Dane- ben ist festzuhalten, daß ein wach- sender, nicht zu vernachlässigender Anteil der Probanden mehr als spo- radisch Cannabis mißbraucht, daß daneben für einen kleinen Teil der Probanden Alkoholmißbrauch ein schwerwiegendes Problem darstellt, was die erfolgreiche Absolvierung des Rehabilitationsprogrammes in Frage stellt. Auch hier wird die Be- deutung einer individuellen Psycho- therapie deutlich, die mit der Be- handlung einer beispielsweise schwe- ren Angststörung auch den Beige- brauch anxiolytischer Substanzen be- heben kann.

4.2.4. Soziale Evaluation Aus dem umfassenden Merk- malskatalog der sozialen Datenerhe- bung seien hier nur die wichtigsten dargestellt.

~ Die Kontakte der Patienten zur jeweiligen Herkunftsfamilie ha- ben sich leicht intensiviert. Die Mehrzahl der Patienten sieht eine positive Entwicklung in der Bezie- hung zur Herkunftsfamilie oder zu einzelnen Familienmitgliedern. [>

(5)

~ Die Bedeutung fester Part- nerbeziehungen hat zugenommen.

Klienten; die bereits länger in einer festen Beziehung leben, berichten mehrheitlich von einer positiven Entwicklung dieser Beziehung im ,vergangenen Jahr.

~ Insgesamt zeigt sich eine deutliche Steigerung von Kontakten zu Personen außerhalb der Drogen- szene und das Bemühen vieler Pa- tienten, sich gänzlich von der Drogenszene zu distanzieren.

~ Deutlich positive Verände- rungen haben sich bei der Freizeitge- staltung eingestellt. Der größte Teil der Patienten berichtet von mehr Zufriedenheit in der eigenen Gestal- tung der Freizeit.

~ Auch bei der beruflichen In- tegration haben sich im letzten Be- obachtungsjahr die ersten Fortschrit- te gezeigt. Die Wichtigkeit der beruf- lichen Integration für die Patienten selbst wird besonders deutlich in den Antworten auf die Frage nach den gravierenden Ereignissen im vergan- genen Jahr. Unter den positiven Er- lebnissen wird dem Aspekt der Inte- gration in das Erwerbsleben und der Erfahrung, beruflichen Anforderun- gen besser standhalten zu können, besondere Gewichtigkeit gegeben.

So zeigen sich Beziehungen zwischen gelungener beruflicher Integration (Erwerbstätigkeit/Ausbildung/Um- schulung) und positiver Situations- beschreibung im Sinne der Erfolgs- parameter des Erprobungsvorha- bens. Berufstätige Patienten haben weniger Kontakt zu Personen in der Drogenszene und umgekehrt, häufi- ger Kontakt zu Personen außer halb der Szene. Bei der Eigenbeurteilung der Grundstimmung zeigten sich für diese Gruppe günstigere Werte. Der Anteil derer, die sich als gesund be- zeichnen, ist in der beruftstätigen Gruppe deutlich höher als bei der ar- beitslosen Vergleichsgruppe.

Im einzelnen hat sich der Anteil der berufstätigen Klienten von 29 Prozent auf 38 Prozent erhöht; eben- falls zugenommen hat der Anteil de- rer, die eine Ausbildung/Umschu- lung absolvieren (von 4 Prozent auf 12 Prozent), das heißt 50 Prozent der Teilnehmer sind beruflich integriert.

Daß auf der anderen Seite der An- teil erwerbsloser Klienten nur wenig

Tabelle 3: Zwischenergebnisse des Erprobungsvorhabens NRW

. ' • • i

1. . Gesundheitliche Stabilisierung:

a) KO'Perl~h . : '. .' .:... . ,., .. . . , . . --: Verbesserung von AZ,

EZ,

äußerem Erschyinungsbild

~ HIY-Sitll'ation: relativ sÜlbil . . .. ' .' ':. .... '

. ~, Medikamentennebenw~rkungen:leie~te,s~lteri '

b) Psychisch. " .," " ' . , . ' .. .

-höh~r Anteilbehandlungsbedürftig psychisch Kr~nker. (über 50%) ' ., . . .., ,'.. . •. ,' .. , ' . , ' .' , , '

- ,klinisch Und testpsy~hölogisch keinekognitiveri. Beeinträchtigun~

ge~ durch:~olamidon (Psyd1otherapiefähigkeit) , "

2. Soziale Stabilisierung:

- ' individue.U,große Uriters~'hiede: ' "

: '-eher langsame. Entw.ickhing ..

: ~ ,limitkrende Faktoren: ,',:

. psychische Grundstörung . "," '. ,>, ..•.. ,

fehlende Arheitsmögli,c:hkeitenmit gestufter Belastung

i.

Beigebrauch:: '

. .;~

. 2. Opiate:' durchweg rapide Abnahnl'e "

,:.. .. Andere:' individuelle Muster " : '

, Ge na,ch Vorkonsum/psychische.rGru?-derkrau'kimg)

abgenommen hat (von 51 Prozent auf 47 Prozent), liegt vor allem dar- an, daß eine nennenswerte Zahl von Patienten aus der Kategorie sonsti- ges (Hausfrau, Schüler/in, Student/in und ähnliches) in Arbeitslosenstatus wechselte.

~ Bei insgesamt 32 Patienten kam es im letzten Beobachtungsjahr zu einer Verurteilung wegen Delin- quenz. Es handelte sich dabei, bezo- gen auf den Delikzeitpunkt, zu Drei- viertel um Delikte, die vor Beginn der Teilnahme am Erprobungsvor- haben begangen worden waren. Bei diesen alten Delikten spielten Ver- stöße gegen das BTMG die größte Rolle. Bei den neun neuen Deliktfäl- len handelte es sich nur in einem Fall um ein Vergehen gegen das BTMG, in den übrigen acht Fällen waren es Eigentumsdelikte. Die Ergebnisse bestätigen den drastischen Rückgang der drogenbedingten Delinquenz.

Was die Eigentumsdelikte betrifft, so wird deutlich, daß ein noch nicht nä- her zu quantifizierender Teil der Pa- tienten kleptomanisches Verhalten zeigt, welches in Einzelfällen als Symptom der zusätzlich diagnosti- zierten psychischen Störung zu inter- pretieren ist.

Bei den Verurteilungen wegen der erwähnten Delikte kam es in zwei Drittel der Fälle zu einer Strafe mit Bewährung, in einem Drittel der Fälle wurden Geldstrafen verhängt.

4.2.5 Vorzeitige Beendigung im Modellversuch

Insgesamt sind seit dem Beginn der Modellerprobung im Jahre 1988 24 Patienten vorzeitig ausgeschie- den. Darunter fallen vier Todesfälle, von denen drei in keinerlei Zusam- menhang mit dem Drogenkonsum stehen (internistische beziehungs- weise neurochirurgische Erkrankun- gen), während einer mit hoher Wahrscheinlichkeit als Suizid durch Einnahme von Medikamenten zu werten ist. In einem Fall wurde der Patient wegen fortschreitender AIDS-Erkrankung in Einzelsubstitu- tion durch einen niedergelassenen Arzt vermittelt, und in einem weite- ren Fall mußte wegen akuter psychi- scher Erkrankung eine psychiatri- sche Behandlung eingeleitet werden.

Ein Klient beendete die Modeller- probung erfolgreich.

So sind insgesamt 17 tatsächli- che Abbrüche beziehungsweise Aus- Dt. ÄrztebL 88, Heft 44, 31. Oktober 1991 (47) A-3721

(6)

}1

Konsiliarische Zusammen- arbeit Organisation notwend. stat.

Aufnahmen

Pat.-Vermitt- lung von

„Krisenhilfe"

an prakt.Arzt

Indikations- gremium (imRahmen weiterer nicht HIV-bedingter Substitutions- Einzelfall- entscheidungen

Regionaler

„Arbeitskreis Polamidon"

Bearbeitung von

Problemen im:

medizinischen, juristischen, organisato- rischen, evaluativen Bereich Psychia-

trische Klinik

Somatischer Facharzt

Niedergelassener Arzt

Drogenberatung (von

„Krisenhilfe e. V.")

Street-Work, Krisencafe

Tabelle 4: Multiprofessionelles therapeutisches Netzwerk

Beteiligte Institutionen

Einzelfunktionen Kooperationsformen

Gesund- heitsamt

Formale Federführung und Organisation, zentrale Registrierung Psych. Diagnostik und Therapie, Kriseninter- vention, stat. Einstellung ggf. selektive Entgiftung HIV-spezifische

somatische Behandlung, HIV-Staging,

(Inn. Med., Dermatologie) somatische Betreuung (Hausarztfunktion) Rezeptur und tägl.

Vergabe

spezifisches psychosoziales Betreuungsangebot

Aufsuchende Struktur Primäre Kontaktaufnahme niederschwellige Begleitung

Soziale Basisarbeit

schlüsse zu verzeichnen, was einem Anteil von 13 Prozent entspricht.

Dieser ist angesichts der Hoch- schwelligkeit der Modellerprobung als gering zu werten.

Die Situation der vorzeitig aus der Modell-Erprobung ausgeschie- denen Patienten stellt sich — ohne Berücksichtigung der Todesfälle — insgesamt wie folgt dar:

I> Fünf Klienten werden wei- terhin durch niedergelassene Ärzte substituiert, in einem weiteren Fall ist die Einzelfallsubstitution vorgese- hen.

D Vier Klienten befinden sich zur Zeit noch in Haft.

D Ein Klient ist nach Aus- schluß aus disziplinarischen Grün- den aus der Modellerprobung nach Drogenmißbrauch verstorben.

D Von den übrigen sieben Pa- tienten ist, soweit Kontakt besteht, bekannt, daß sie sich wieder der Drogenszene angeschlossen haben.

Nach Angaben der Drogenbera- tungsstellen besteht zu zwölf der ausgeschiedenen Patienten weiter- hin ein mehr oder weniger kontinu- ierlicher Kontakt.

Insgesamt (Tabelle 3) zeigt die bisherige Auswertung des Erpro- bungsvorhabens, daß ein relativ ho- her Anteil von Patienten eine psychiatrische Zusatzdiagnose von Krankheitswert aufweist, was die Notwendigkeit der individuellen psychiatrischen Betreuung deutlich macht. Daneben wird deutlich, daß kognitive Einschränkungen durch die Einnahme von Methadon nicht nachzuweisen sind. Schwerwiegen-

de Medikamentennebenwirkungen wurden nicht gesehen.

In somatischer Hinsicht kommt es zu einer deutlichen Verbesserung des Allgemein- und Ernährungszu- standes sowie des äußeren Erschei- nungsbildes, die immunulogische Si- tuation der HIV-Positiven/erkrank- ten Patienten ist stabil, die diesbe- zügliche Serokonversionsrate im lau- fenden Programm ist praktisch Null.

In sozialer Hinsicht sind die deutlichsten Fortschritte in der Be- schäftigungs-/Ausbildungssituation und daneben in der deutlichen Ab- nahme der drogenbedingten Delin- quenz zu sehen. Es kommt darüber hinaus zu einer Distanzierung von der Drogenszene und einer Intensi- vierung des Kontakts zu den Her- kunftsfamilien. Die Rate der ausge- A-3724 (50) Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991

(7)

schiedenen Patienten ist angesichts der Hochschwelligkeit des Projektes gering, in den meisten Fällen handelt es sich um Ausschlüsse wegen nicht tolerierbaren Drogenbeigebrauchs.

4.3 Ausländische Ergebnisse im Vergleich

Es können an dieser Stelle selbstverständlich nicht sämtliche Ergebnisse ausländischer Methadon- programme referiert werden, jedoch sollen einige wichtige neuere Studi- en erwähnt sein.

M. Gmür (10) hat eine Li- teraturübersicht über 66 interna- tionale Arbeiten erstellt und die Er- gebnisse anhand der Merkmale Ver- bleibedauer, Verlaufsprognose, Prä- diktoren, Methadon und Schwanger- schaft, die Bedeutung verschiedener Behandlungsarrangements, Begleit- erscheinungen wie Polytoxikomanie und Alkoholismus und das Auftreten der Nebenwirkungen diskutiert.

Insgesamt wird in dieser Analyse aufgrund von Untersuchungen an Tausenden von Methadonpatienten, vorwiegend im anglo-amerikani- schen Raum, der Methadonbehand- lung der Charakter einer Palliativ- maßnahme zugeschrieben, welche nur unvollständige und oft nur vor- übergehende Erfolge hinsichtlich Di- stanzierung von der Drogenszene, Entkriminalisierung und Erlangung der Erwerbstätigkeit zeigt. Bei Schwangerschaften wird die Metha- donbehandlung, der allgemein nur geringfügige Nebenwirkungen ange- lastet werden, als dringend indizierte Überbrückungshilfe gewertet.

Es ist hierzu anzumerken, daß in dieser Analyse verschiedenste Set- tings der einzelnen Programme mit verschiedenen Zugangsschwellen und Durchführungsmodi in einer Gesamtübersicht bewertet wurden.

Das NRW-Projekt muß sicherlich als hochschwellig gelten, ist also nur be- dingt mit diesen „gemittelten" Er- gebnissen vergleichbar.

Den Schweizer Methadonbe- richt (11) könnte man etwa wie folgt zusammenfassen: ungefähr ein Drit- tel der Patienten zeigt sich im Mehr- jahresverlauf ohne Methadon in ge- sundheitlichen und sozialen Belan- gen stabilisiert, ein weiteres Drittel

erreicht diese Stabilität unter weite- rer Methadoneinnahme, das letzte Drittel muß meist wegen Polytoxiko- manie ausgeschlossen werden. Da- neben verweist der Schweizer Me- thadonbericht auf die in verschiede- nen Arbeiten belegten HIV-präven- tiven Aspekte einer methadonge- stützten Behandlung.

Inzwischen liegen erste Ergeb- nisse des österreichischen Metha- don-Programms vor (12), die für die Bereiche Drogenbeigebrauch und das Auftreten psychischer Auffällig- keiten mit den NRW-Ergebnissen vergleichbar sind. So litten 50 Pro- zent der untersuchten Patienten an Depressionen, 7 Prozent hatten aku- stische Halluzinationen, und 7 Pro- zent litten an paranoiden Ideen, was zum Teil eine neuroleptische respek- tive antidepressive Zusatzmedikati- on notwendig machte.

L. Grönbladh und andere (13) verglichen zwei Gruppen von Hero- inabhängigen miteinander. Die erste Gruppe von 166 Patienten war inner- halb eines Zwölfjahreszeitraumes in ein Methadonprogramm aufgenom- men worden. Die andere Gruppe von 115 Abhängigen erfüllte zwar die Kriterien für eine solche Behand- lung, durfte wegen einer Änderung der schwedischen Drogenpolitik An- fang der 80er Jahre aber nicht mehr aufgenommen werden. Diese Patien- ten, denen andere Wege gewiesen werden mußten, wurden so zu einer unfreiwilligen Kontrollgruppe. Die Patienten in beiden Gruppen wur- den durchschnittlich länger als elf Jahre beobachtet.

Die Sterblichkeitsrate lag bei den Abhängigen, die Methadon er- hielten, achtmal so hoch, wie in der Altersgruppe erwartet worden war.

In der anderen Gruppe war die Mor- talität dagegen 63mal so hoch. Bei den 34 Patienten, die das Methadon- programm wegen guter Rehabilitati- on mit Einverständnis der Therapeu- ten vorzeitig beendeten, war die Sterblichkeitsrate um die Hälfte ge- ringer. Bei den 52 Kranken, die we- gen grober Verstöße gegen den Be- handlungsvertrag aus dem Pro- gramm ausgeschlossen werden muß- ten, betrug sie das 55fache des Er- wartungswertes und war damit fast so hoch wie in der Gruppe, die nicht

in das Programm aufgenommen wer- den konnten.

Die Autoren schließen unter an- derem, daß Methadon als wirksame Hilfe zum Überleben die Sterblich- keit der Opiatabhängigen noch wei- ter senken könnte, wenn mit der Behandlung frühzeitig begonnen würde.

5. Methadon-Substitution in der Behandlung

Aidskranker - ein regio- nales Versorgungsmodell am Beispiel Essen

Neben dem referierten wissen- schaftlichen Erprobungsprojekt gibt es die oben schon erwähnten Einzel- fallindikationen nach Betäubungs- mittelrichtlinien, wonach schwer- kranke Opiatabhängige unter medi- zinischen Versorgungsgesichtspunk- ten behandelt werden können.

Die größte Zahl dieser Patien- ten entfällt auf die AIDS-Erkrank- ten in fortgeschrittenem Stadium (ab WR 3 beziehungsweise CDC IV), in geringen Umfange werden nicht HIV-Infizierte beim Vorliegen an- dersartiger schwer körperlicher und/

oder psychischer Krankheiten sowie in der Schwangerschaft dauerhaft oder vorübergehend substituiert. Bei der Grunderkrankung AIDS geht es dabei naturgemäß meistens um eine palliative, auf Erreichen einer Mo- nosymptomatik gerichteten Behand- lung im Sinne einer Schadensbegren- zung.

Eine vorerst letzte strafrechtli- che Würdigung der Einzelfallsubsti- tution ist in dem Beschluß des Bun- desgerichtshofes vom 17. Mai 1991 (Aktenzeichen 3 STR 8/91) nachzu- lesen, in dem davon ausgegangen wird, daß die strafrechtliche Rele- vanz im Einzelfall geprüft wird, daß bei der Beurteilung dieser Frage al- lein die ärztliche Sorgfalt der Indika- tion und Durchführung, nicht jedoch das Votum von Standesorganisatio- nen, wie zum Beispiel der Bundes- ärztekammer,

maßgeblich ist (17).

Was die bisherigen Therapieer- gebnisse (15) betrifft, so zeigt sich im somatischen Bereich eine durchweg deutliche Besserung des AZ und EZ Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991 (53) A-3725

(8)

nach Substitutionsbeginn, zumindest zeitweise wird eine Stabilisierung der HIV-Situation erreicht. Seit 1986 wurden insgesamt 60 Patienten auf diese Weise in Essen betreut, zur Zeit sind noch 30 in Behandlung.

In einem multiprofessionellen therapeutischen Netzwerk kooperie- ren die Drogenberatung, die nieder- gelassenen Arzte, die somatischen Fachärzte (Internisten, Dermatolo- gen), die Psychiatrische Universitäts- klinik sowie das Geundheitsamt mit- einander. Es existiert seit gut zwei Jahren ein regionaler Arbeitskreis

„Polamidon", dessen Aufgaben in der Bearbeitung von Problemen im medizinischen, juristischen, organi- satorischen und evaluativen Bereich liegen. Aus diesem Kreis rekrutiert sich auch ein regionales Indikations- gremium zur individuellen Beurtei- lung des Einzelfalls (15) (Tabelle 4).

Die rechtliche (14) Grundlage für den Spezialfall der an AIDS er- krankten Opiatabhängigen bildet der ministerielle Erlaß des MAGS des Landes NRW vom 28. Dezember 1987 (16). Im psychischen Bereich zeigen sich auch hier wie im offiziel- len Erprobungsvorhaben die Proble- me der Demaskierung zum Teil vor- bestehender erheblicher Störungen und zusätzlich sekundärer Verarbei- tungsmechanismen der HIV-Erkran- kung.

In vielen Fälle konnte auch die soziale Verelendung verhindert wer- den, was im einzelnen heißt, daß ne- ben der primären Existenzsicherung (Wohnen, Ernährung) die Schulden- situation, in einzelnen Fällen die be- rufliche, schulische Weiter-/Ausbil- dung angegangen werden konnte.

Die Drogensituation ist dadurch gekennzeichnet, daß in einem Drittel der Fälle Opiatfreiheit (außer Me- thadon) erreicht wurde, in einem weiteren Drittel situativer Beige- brauch ohne soziale Verelendung, in einem weiteren Drittel die Notwen- digkeit mehrfacher Zwischenentgif- tungen wegen vor allem situativ ge- häuften Beigebrauchs auftrat, was in einem Teil der Fälle Ausschluß- grund wurde.

Die aus diesem Modell abzulei- tenden strukturellen und organisato- rischen Mindestvoraussetzungen für die Durchführung einer Methadon-

Substitution nach BTM-Richtlinien sind somit (15)

> ärztliche Indikation,

> Durchführung durch erfah- rene Ärzte,

> zentrale Registrierung,

> tägliche kontrollierte Ab- gabe,

> regelmäßige Urinkontrol- len,

> intensive medizinische (so- matisch und psychiatrisch) und soziale Betreuung, I> schriftlicher Behandlungs-

vertrag,

I> Möglichkeit gestufter Sank- tionen.

Die Grenzen einer solchen hochspezialisierten und aufwendigen Behandlung zeigen sich in den limi- tierten Resourcen der personellen Kapazitäten der sozialen sowie psychiatrischen Betreuung, in den teilstationären Möglichkeiten, in den Möglichkeiten des betreuten Woh- nens und erprobenden Arbeitens so- wie in der allgemeinen Wohnungs- not und den für diese Gruppe sicher besonders schwerwiegenden Proble- men des allgemeinen Arbeitsmark- tes.

Literatur

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82 (1990) 223-227

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Gastpar, M.: Multiprofessionale Zusam- menarbeit in der Behandlung, Opiat- abhängiger mit fortgeschrittener AIDS-Er- krankung — Levomethadongestützte Behan- dlung in einem regionalen therapeutischen Netzwerk, Rhein. Landes- und Hochschul- klinik Essen. Erstes Europäisches Sympos- ium „Drogensucht & Aids", Wien 1991 16. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und

Soziales: Verordnung anderer Betäubungs- mittel bei AIDS-kranken Opiatabhängigen, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und So- ziales, Düsseldorf, 1987

17. Bundesgerichtshof: Beschluß vom 17. Mai 1991, AZ 3 StR 8/91

Anschrift der Verfasser

Prof. Dr. med. Markus Gastpar Direktor der Klinik für

Allgemeine Psychiatrie Dr. med. Clemens Rösinger Oberarzt der Klinik für Allgemeine Psychiatrie Rheinische Landes- und Hochschulklinik

Hufelandstraße 55 W-4300 Essen A-3728 (56) Dt. Ärztebl. 88, Heft 44, 31. Oktober 1991

Referenzen

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