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Archiv "Priorisierung: Vom schwedischen Vorbild lernen" (22.05.2009)

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riorisierung wird von vielen für ein verschleierndes Syno- nym für die eigentlich gemeinte Ra- tionierung gehalten; diese solle in krisenhafter Situation unter Aus- schluss der Ärzteschaft von Politik und Kostenträgern zulasten von Pati- enten in die Wege geleitet werden und sei geeignet, die ärztliche Frei- heit weiter einzuschränken. Diese

„katastrophisierenden“ Vermutun- gen erweisen sich allerdings als weit- gehend grundlos, wenn der Blick auf die Erfahrungen in Schweden ge- lenkt wird. Dies zeigt eine versor- gungswissenschaftliche Analyse der in Schweden seit Beginn der 90er- Jahre nachweisbaren Priorisierungs- aktivitäten (1). Sie stützt sich metho- disch auf eine ausführliche Literatur- und Dokumentenanalyse und auf die Ergebnisse von 20 Experteninter- views in Schweden von November 2007 bis September 2008 (1).

Schweden war nicht das erste skandinavische Land, das sich dem Priorisierungsthema stellte. In Dä- nemark lässt sich die Diskussion bis in die Mitte der 70er-Jahre zurück- verfolgen (2). In Norwegen gab es von 1985 bis 1987 eine parlamenta- rische Kommission, das sogenannte Lønning-I-Komitee. Hier ging es nicht um die Verwaltung eines Res- sourcenmangels, sondern – ganz im Gegenteil – um die vorsichtig vor- ausschauende „Bewältigung“ eines sich abzeichnenden gesellschaftli- chen Reichtums (Nordsee-Öl).

Schweden folgte dem Beispiel des westlichen Nachbarlandes 1992, wenn auch in einer bedrängteren wirtschaftlichen Situation. Der An- teil aller Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt hatte 1980 den Höchstwert von 9,1 Prozent erreicht und war (1991) auf 8,2 Prozent

zurückgeführt worden (3). Die von Experten unterstützte Kommission des schwedischen Reichstags war bis 1995 tätig. Sie sollte ethische (nicht primär ökonomische) Prinzi- pien für die Priorisierung von medi- zinischen Leistungen formulieren.

Die Medizin hatte die Erwartung, durch Priorisierung dem steuerfi- nanzierten Gesundheitswesen Res- sourcen hinzuzugewinnen, unter an- derem für die damals defizitäre Ver- sorgung von Krebskranken. Vorsit- zender der Kommission war Jerzy Einhorn, ein international bekannter Onkologe und christdemokratisches Mitglied des schwedischen Reichs- tags. Die Ergebnisse der umfangrei- chen Arbeit der Kommission wur- den in zwei Berichten zusammenge- fasst (4, 5).

Ethische Prinzipien als Basis von Priorisierung

Die Lektüre des ersten Berichts der Parlamentskommission hinterlässt bei vielen (deutschen) Lesern einen

zwiespältigen Eindruck. Nichts sei wirklich falsch, hieß es in den Bera- tungen der Zentralen Ethikkommis- sion (ZEKO) der Bundesärztekam- mer, alles irgendwie richtig, aber auch schrecklich allgemein, praxis- fern und dann noch theoretisch dürf- tig. Die ZEKO legte im September 2007 eine zweite Stellungnahme zur

„Priorisierung medizinischer Leis- tungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung“ vor (DÄ, Heft 40/2007).

Diese Kritik übersieht, dass prak- tisch-konkrete Priorisierungsschrit- te einer langen Vorbereitung und so- zialen Legitimierung bedürfen. In Schweden dienten dazu neben der Einsetzung einer Kommission des Parlaments vor allem die sich mit deren Arbeit auseinandersetzende öffentliche Diskussion, die aus- drückliche Bekräftigung vertrauter ethischer Grundprinzipien und der Ausschluss oft diskutierter, hier aber für illegitim gehaltener Priori- sierungskriterien.

Die von der Reichstagskommis- sion erarbeitete „ethische Platt- form“ formulierte drei Grundprinzi- pien. An die erste Stelle setzte sie das Prinzip der Menschenwürde:

Alle Menschen hätten die gleiche Würde unabhängig von persönli- chen Merkmalen und ihren Aufga- ben in der Gesellschaft. Seine Be- deutung gewann dieses Prinzip durch den expliziten Ausschluss von zu ihm in Widerspruch stehen- den Kriterien (Priorisierung unter anderem nach Alter, sozialem Status oder Lebensstil). Als zweites folgte das Prinzip „Bedarf und Solida- rität“: Die jeweils verfügbaren Res- sourcen sollen den Personen mit dem größten (objektivierbaren) Be- darf zugutekommen. Nachgeordnet

PRIORISIERUNG

Vom schwedischen Vorbild lernen

Hierzulande wird zunehmend über die Priorisierung medizinischer Leistungen diskutiert.

In Schweden hat sich aus dem Priorisierungsprojekt ein versorgungswirksames Steuerungsinstrument unter Führung und Beteiligung der Ärzteschaft entwickelt.

Heiner Raspe, Thorsten Meyer

Institut für Sozialmedizin Universitätsklinikum Schleswig-Holstein,

Campus Lübeck:

Prof. Dr. med. Dr. phil. Raspe, Dr. phil. Dipl.-Psych. Meyer PRIORISIERUNG

DÄ-ARTIKELSERIE

Die Artikelserie im DÄ befasst sich mit verschiedenen Aspekten zum Thema „Priorisierung im Gesund- heitswesen“. Bisher erschienen:

>„Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung – was ist gemeint?“ (DÄ, Heft 12/2009)

>„Öffentlicher Diskurs erforder- lich“ (DÄ, Heft 14/2009)

>„Individuelle Rangfolgen – Kosten einsparen oder Qualität ver- bessern?“ (DÄ, Heft 17/2009) Zusätzlich ist ein Diskussionsforum auf www.aerzteblatt.de/foren ein- gerichtet.

(2)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 21⏐⏐22. Mai 2009 A1037 wurde das Prinzip der Kosteneffizi-

enz. Es zielt auf ein angemessenes („reasonable“) Verhältnis von Kos- ten und Nutzen ab und soll nur in- nerhalb eines Indikationsbereichs angewandt werden (Tabelle 1).Die- sen Prinzipien und ihrer Rangord- nung ist unter anderem die der Palliativversorgung zugesprochene hohe Priorität zu verdanken.

Die mehrjährige Arbeit der Par- lamentskommission sensibilisierte die Öffentlichkeit und auch die Mit- arbeiter im Gesundheitswesen für die Thematik. Sie führte 1997 zu ei- ner Novellierung des Gesundheits- gesetzes (6). In seiner Präambel heißt es jetzt in § 2: „Die Gesund- heitsfürsorge soll auf der Gleich- wertigkeit aller Menschen und der Würde des einzelnen Menschen ba- sieren. Derjenige mit dem größten Bedarf an Gesundheitsleistungen hat Vorrang im Gesundheitswesen.“

Um die Diskussion lebendig zu halten und weiterzuführen, wurde 1998 eine zweite parlamentarische

„Priorisierungsdelegation“ (bis 2001) ins Leben gerufen (7). Sie trug zur Gründung eines wissenschaftlichen Priorisierungszentrums (Priorite- rings-Centrum) an der Universität Linköping (seit 2001) bei (8).

Parallel zu diesen politischen Aktivitäten entwickelte sich im na- tionalen Zentralamt für Gesundheit und Soziales, Socialstyrelsen, (www.socialstyrelsen.se) und in der Schwedischen Ärztegesellschaft (Läkaresällskapet) die Idee, medizi- nische Leistungen innerhalb einzel- ner Erkrankungsbereiche zu priori- sieren. Hierfür bürgerte sich der Begriff „vertikale Priorisierung“

ein. Genau genommen wurden nicht medizinische Leistungen, sondern Kopplungen von bestimmten „inter- ventions“ mit bestimmten „medical conditions“, also klinische Indika- tionen definiert. Dies erfolgte in An- lehnung an die 1991 im US-Bundes- staat Oregon erarbeitete und später ins Schwedische übersetzte „Ore- gon-Liste“ (dort war von „condition- treatment pairs“ die Rede) (9).

Für die Implementation knüpften Socialstyrelsen und interessierte Kliniker an die wiederbelebte Ent- wicklung von medizinischen Leitli- nien an. Die Schwedische Medizini-

sche Gesellschaft gründete im Jahr 2000 unter der Leitung ihres dama- ligen chirurgischen Vorsitzenden Thomas ihre verschiedene Fach- gruppen, zuerst zur Priorisierung von Indikationen im Bereich der kardiologischen Versorgung. Die Gesellschaft war der Überzeugung, dass das Setzen von Prioritäten in der Medizin immer schon unver- meidlich war und dass die ärztliche Profession der Politik hierfür eine fachliche Grundlage zur Verfügung stellen könne und solle. Von der Politik wurde erwartet, dass sie an- schließend die verschiedenen Ver- sorgungsbereiche priorisieren solle („horizontale Priorisierung“) (10).

Tragfähiges Modell der vertikalen Priorisierung

In der zeitlich parallelen und zum Teil gemeinsamen Arbeit vom Socialstyrelsen und der Ärztegesell- schaft entwickelte sich in Schweden ein bis heute tragfähiges Modell zur vertikalen Priorisierung. Ihr zentra- les Ergebnis war die Veröffentli- chung der ersten nationalen Priori- sierungsleitlinie des Socialstyrelsen im Jahr 2004 zur Versorgung von Herzkranken. Sie umfasste 118 Pro- blem-Leistungs-Kopplungen, die in eine Rangordnung von eins (höchs- te) bis zehn (niedrigste Priorität) gebracht worden waren. Über die Leitlinie (im Original für uns miss- verständlich „riktlinjer“ genannt) wurde im Deutschen Ärzteblatt be- reits berichtet (11). Für die Rangord-

nung maßgebend waren und sind die Schwere und Gefährlichkeit des Krankheitszustands, die Nutzen- und Schadenpotenziale der an sie anknüpfenden Intervention und ihre ökonomische Effizienz sowie die Qualität der Evidenzlage zu jedem der drei Bereiche. Keine Rolle spiel- ten die Inzidenz beziehungsweise Prävalenz der genannten Krank- heitszustände und damit implizit auch die absolute Budgetbelastung, die Zielrichtung der Intervention (zum Beispiel Diagnostik, Präventi- on, Kuration, Rehabilitation) und die für sie jeweils hauptverantwortliche Profession und Disziplin (zum Bei- spiel Allgemeinarzt, Facharzt, Pfle- ge, Psychologie). Tabelle 2 veran- schaulicht den Aufbau der Leitlinie am Beispiel der präventiven Sta- tintherapie bei unterschiedlichen Ri- sikoniveaus (aus der Priorisierungs- leitlinie zum Schlaganfall [12]).

Eine zweite Version der Leitlinie zur Versorgung von Herzkranken wurde im Februar 2008 mit jetzt 340 Problem-Leistungs-Kopplungen veröffentlicht (13). Sie enthält ne- ben den bekannten Rangplätzen zu- sätzlich eine Kategorie „Forschung und Entwicklung“, um klinisch vielversprechende, aber noch un- zureichend evaluierte Verfahren zu markieren. 25 Indikationen sind mit einem „Nicht Tun“ („icke göra“) gekennzeichnet (14).

Neben den Leitlinien für Herz- kranke (2004/2008) und Schlagan- fallpatienten (2005) wurden in TABELLE 1

Leitfaden zur Priorisierung bei klinischen Aktivitäten (SOU 1995:5; S. 103) Priorisierungs- Versorgungsbereich

gruppe

I A Versorgung von lebensbedrohlichen Erkrankungen und Erkrankungen, die unbehandelt zu permanenter Behinderung oder vorzeitigem Tod führen

I B Versorgung von schwer chronischen Erkrankungen.

Palliative Versorgung. Versorgung von Menschen mit eingeschränkter Autonomie

II Individualisierte Prävention in Kontakten mit medizinischen Diensten. Habilitation/Rehabilitation

III Versorgung von weniger schweren akuten und chronischen Erkrankungen

IV Grenzfälle

V Versorgung aus anderen Gründen als Erkrankungen oder Verletzungen

(3)

schwedischer Sprache Leitlinien zur Venenthrombose (2004), zu Asthma/

COPD (2004), Brust-, Kolon- und Prostatakarzinomen (2007) veröf- fentlicht. Weitere sind in Arbeit (15).

Was ist das Besondere dieser Leit- linien, welche Funktionen überneh- men sie? Diese Frage erfordert einen Hinweis auf die Organisation des schwedischen Gesundheitswesens.

Die Verantwortung für die Gesund- heitsversorgung der Bevölkerung liegt bei den Parlamenten der 21 schwedischen Provinzen und ihren Repräsentanten. Die nationale Regie- rung kann nur indirekt Einfluss auf die Aktivitäten in den Provinzen neh- men, zum Beispiel durch die Fest- schreibung von Höchststeuersätzen, die die Provinziallandtage erheben dürfen. Auch die von Socialstyrelsen herausgegebenen nationalen Leitlini- en sind für ihre wesentlichen Adres- saten (Kliniker, Administratoren, Re- gionalpolitiker) nicht bindend.

Ihr Ziel ist es, alle Beteiligten über die evidenzbasierten und in ei-

ne konsentierte Rangreihe gebrach- ten Indikationen zu informieren.

Dabei entsprechen die zugeordneten Rangplätze in etwa dem, was in kli- nischen Praxisleitlinien „Empfeh- lungsstärke“ genannt wird.

Unter Führung und aktiver Beteiligung der Ärzteschaft

Dennoch sind die Priorisierungsleit- linien klinisch nicht direkt nutzbar.

Im Vergleich etwa zu klinischen Praxisleitlinien (16) formulieren sie ihre Indikationen vergleichsweise grob. Sie geben keine Hinweise zur Diagnostik der „medical conditions“

und kennen keine Differenzial- und Kontraindikationen. Somit können sie kaum zur Lenkung oder Bewer- tung der medizinischen Versorgung von Einzelfällen herangezogen werden.

Dass die kardiologischen Leitli- nien dennoch das Versorgungsge- schehen beeinflussen, liegt auch und vor allem an ihrem Zusammen- spiel mit der nahezu kompletten

Registrierung aller invasiven kar- diologischen Leistungen in Schwe- den. Die Register ermöglichen Ver- gleiche der absoluten und relativen Häufigkeiten von inzidenten Krank- heitsfällen (zum Beispiel akuter ST- Hebungsinfarkt) und realisierten Indikationen (STEMI × PTCA) zwischen Regionen und Einrichtun- gen. So kann man zum Beispiel untersuchen, welcher Anteil von Pa- tienten mit einem akuten STEMI (unter 90 Minuten Prähospitalzeit) etwa in Linköping invasiv behan- delt worden war und welchen Anteil diese Kombination (Priorität 1) hier am Gesamt aller invasiven Eingriffe in diesem oder jenem Jahr hatte.

Und man kann diese Daten mit de- nen von etwa Uppsala, Göteborg oder Stockholm in aller Öffentlich- keit (17, 18) vergleichen.

Die Priorisierungsleitlinien sollen und können also Kliniker, Adminis- tratoren und Regionalpolitiker (aber auch Laien und Patienten) informie- ren und ihnen bewusste Schwer-

TABELLE 2

Beispiele unterschiedlicher Priorisierungen aus der Leitlinie Schlaganfall (Primärprävention durch Statine) Blutfettstörung,5 %

Risiko für einen kardiovas- kulären Tod innerhalb von 10 Jahren (Primärpräventi- on)

Ratschläge für Lebensstil- änderungen sowie Simvastatin-Generikum Klinischer

Zustand Intervention

Blutfettstörung,5 % Risiko für einen kardio- vaskulären Tod innerhalb von 10 Jahren und nicht erreichtes Zielniveau (Primärprävention) Ratschläge für Lebens- stiländerungen sowie Atorvastatin, Pravastatin, Rosuvastatin und Fluva- statin

Blutfettstörung, < 5 % Risiko für einen kardio- vaskulären Tod innerhalb von 10 Jahren (Primär- prävention)

Ratschläge für Lebens- stiländerungen sowie Simvastatin-Generikum

Blutfettstörung (Primärprävention) Reduzierung der Blutfette mit Atorvastatin, Pravastatin, Rosuvastatin und Fluva- statin als Mittel der Wahl

Hohes Risiko eines kardiovaskulären Todes innerhalb von 10 Jahren (5 %)

Schwere der Erkrankung und Bedarf für Intervention

Hohes Risiko eines kardiovaskulären Todes innerhalb von 10 Jahren (5 %)

Moderates Risiko eines kardiovaskulären Todes innerhalb von 10 Jahren (< 5 %)

Geringes Risiko eines kardiovaskulären Todes innerhalb von 10 Jahren (< 5 %)

Geringfügige bis moderate Risikobeeinflussung eines kardiovaskulären Todes (1–10 %)

Wirkung der Intervention

Geringe bis moderate Risikobeeinflussung eines kardiovaskulären Todes (1–10 %)

Geringfügige Risiko- beeinflussung eines kardiovaskulären Todes (0–2 %)

Geringe bis moderate Risikobeeinflussung eines kardiovaskulären Todes (1–10 %)

Evidenzstärke 1 Evidenz für

die Wirkung

Evidenzstärke 1 Evidenzstärke 1 einige wissenschaftliche Evidenz

gering Kosten pro

gewonnenem Lebensjahr/

QALY

gering bis moderat gering bis moderat moderat bis hoch

geschätzt Gesundheits-

ökonomische Evidenz

geschätzt geschätzt geschätzt

5

Rang 7 8 10

(4)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 21⏐⏐22. Mai 2009 A1039 punktsetzungen ermöglichen. Klini-

ker schätzen die Hinweise auf Posterioritäten (Indikationen der Rangplätze sieben bis zehn); dies erleichtert ihnen Diskussionen auch mit Patienten. Andererseits unterstüt- zen hohe Prioritäten ihre Wünsche auf angemessene Ressourcen. So habe sich die Zahl der Herzkatheter- labors in Schweden im Vergleich zum Zeitraum vor Veröffentlichung der ersten kardiologischen Leitlinie verdoppelt (Lars Wallentin, persönli- che Mitteilung, November 2007).

Die Leitlinien unterstützen offenbar eine kontrollierte Einführung fort- schrittlicher Technologien.

Ein weiteres Potenzial ist in der durch sie beförderten Angleichung der kardiologischen Versorgung zwischen Regionen zu sehen. Die auf Konsens und Gleichheit ausge- richtete schwedische Gesellschaft reagiert auf interregionale Versor- gungsunterschiede besonders sensi- bel. Dass sich die interregionalen Unterschiede verringert haben, ist nachgewiesen. Dass die Priorisie- rungsleitlinien hieran einen Anteil hatten und damit zu einer distributiv gerechteren Versorgung beitrugen, ist hoch wahrscheinlich.

Die Leitlinien schließen (bisher) nur wenige Indikationen aus. Jede kann, wenn ein Kliniker dies für an- gemessen hält, verwirklicht werden, in Ausnahmefällen auch die unter

„icke göra“ geführten. Damit inter- ferieren die Leitlinien nicht mit der professionellen Autonomie der Kli- niker, speziell dem therapeutischen Privileg der Ärzte – und dies umso weniger, als die Rangreihen auf ei- nen evidenzbasierten Konsens na- hezu der gesamten schwedischen Kardiologenschaft zurückgehen.

Anders als in den skandinavi- schen Nachbarländern ist das Priori- sierungsprojekt in Schweden nicht Mitte der 90er-Jahre versandet, son- dern über jetzt fast zwei Jahrzehnte zu einem offenbar versorgungs- wirksamen Steuerungsinstrument fortentwickelt worden. Dies ge- schah unter Führung und aktiver Beteiligung der Ärzteschaft. Der in- haltliche Einfluss der Politik und Verwaltungen war und ist gering.

Die Leitlinien haben sehr wahr- scheinlich zur Ausweitung, Profi-

lierung, Qualitätsentwicklung, Ra- tionalisierung und Homogenisie- rung unter anderem der kardiologi- schen Versorgung der schwedischen Bevölkerung beigetragen – nicht durch die für das deutsche Gesund- heitswesen typischen Richtlinien und Sanktionsandrohungen, son- dern durch den Mechanismus sozia- ler (positiver wie negativer) Verstär- kung: Welche Region/Einrichtung möchte sich schon am unteren Ende einer Vergleichstabelle wiederfin- den? Unsere wiederholten Fragen nach rechtlichen Implikationen und Konsequenzen der Priorisierungs- leitlinie sind in Schweden stets auf Unverständnis und Verwunderung gestoßen.

Priorisierung schließt zunächst so gut wie nichts aus

Anhaltspunkte für eine mit der Leit- linie beförderte Rationierung von Leistungen haben sich für uns nicht ergeben (sieht man von einem ge- scheiterten Versuch in Östergötland ab, bestimmte Leistungen katego- risch auszuschließen). Mehrere Kardiologen betonten, dass ihnen alle für notwendig gehaltenen Leis- tungen zur Verfügung ständen. Von mehreren Gesprächspartnern wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die Leitlinien eine Leistungseinschrän- kung einleiten könnten. Wenn ir- gendwann einmal rationiert werden müsse, dann zuerst im Bereich des weniger Wichtigen, der Posterio- ritäten.

Damit sind wichtige Unterschie- de zwischen offener Priorisierung und offener Rationierung angespro- chen; es muss zwischen beiden Ak- tivitäten deutlich unterschieden werden:

>Priorisierung informiert und orientiert Versorgungsentscheidun- gen mithilfe von Leitlinien, Ratio- nierung vollzieht sie mithilfe sankti- onsbewehrter Richtlinien. Priorisie- rung schafft zuerst „nur“ gedanklich Ordnung.

>Priorisierung fokussiert Pati- entengruppen, Krankheitszustände und klinische Indikationen und folgt damit einer klinischen Orientierung, Rationierung hat die Gesundheit/

Wohlfahrt ganzer Bevölkerungen (Public Health) im Blick.

>Zentraler ethischer Wert von Priorisierung ist das Patientenwohl, Rationierung dient vor allem einer eng definierten Bedarfs- und der Verteilungsgerechtigkeit.

>Rationierung schließt Leistun- gen definitiv aus, Priorisierung schließt zunächst so gut wie nichts aus, sie erlaubt auch ein „upgrad- ing“ alter und neuer Indikationen.

>In der Priorisierung spielen die klinischen Professionen eine domi- nante, die Gesundheitsökonomie eine untergeordnete Rolle, in der Rationierung ist es umgekehrt.

Vertikale Prioritäten fallen nicht vom Himmel, sie können auch nicht einfach importiert werden. Sie sind in jedem Land und Versorgungsbe- reich neu zu erarbeiten.

Wir erleben in Deutschland ge- genwärtig ein zunehmendes Dik- tat ökonomischer Ordnungs- und Entscheidungsprinzipien. Hiergegen scheint eine Neuformulierung und Abstufung der Kernaufgaben (19) der Medizin notwendig. Sie setzt ei- ne intraprofessionelle wie gesamtge- sellschaftliche Diskussion über die Ziele der Medizin und die sie tragen- den ethischen Prinzipien voraus.

Die schwedischen Vorarbeiten, Erfahrungen und Arbeitsergebnisse zur vertikalen Priorisierung könnten hierzulande helfen, verlorene Zeit gutzumachen; eine mehrjährige öf- fentliche multi- wie interprofessio- nelle – medizinische, methodologi- sche, rechtliche, ethische und politi- sche – Diskussion werden sie nicht ersparen. Diese könnte jetzt vorur- teilsfreier geführt werden. Priorisie- rung ist keine Rationierung; sie kann auf medizinischen Sachverstand nir- gends verzichten; in Schweden je- denfalls hat sie sich als Ausdruck und Behauptung von „medical pro- fessionalism“ (20) bewährt.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2009; 106(21): A 1036–9

Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe Institut für Sozialmedizin

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck

Beckergrube 43–47 23552 Lübeck

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit2109

@

(5)

LITERATUR

1. Meyer T, Raspe H: Das schwedische Mo- dell der Priorisierung medizinischer Leis- tungen: theoretische Rekonstruktion, eu- ropäischer Vergleich und Prüfung seiner Übertragbarkeit. Hintergrund und erste Er- gebnisse, in: Wohlgemuth WA, Freitag MH (Hrsg.): Priorisierung in der Medizin – in- terdisziplinäre Forschungsansätze, Berlin:

MWV 2009.

2. Tørning J: Prioritering i sundhedssektoren – mål og midler. Kommunal Årbog 1978;

7–15.

3. Calltorp J: Priority setting in health policy in Sweden and a comparison with Norway.

Health Policy 1999; 50: 1–22.

4. Swedish Parliamentary Priorities Commis- sion: No easy choices – the difficult priori- ties of healthcare. Stockholm: SOU 1993.

5. Swedish Parliamentary Priorities Commis- sion: Priorities in health care. Ethics, eco- nomy, implementation. Stockholm: SOU 1995.

6. Hälso-och sjukvårdslag.

http://lagen.nu/1982:763

7. Prioriteringsdelegationen: Prioritingar in vården. Perspektiv för politiker, profession och medborgare. Slutbetänkande från Pri- oriteringsdelegationen. Stockholm: SOU 2001; 8.

8. National Centre for Priority Setting in Health Care (PrioteringsCentrum): Report on activities for the years 2001–2003.

SWOT analysis. Operational plan for 2005–2007, 2004.

9. Kitzhaber JA: Prioritising health services in an era of limits: the Oregon experience. In:

Rationing in action. London: BMJ Publis- hing Group 1993; 35–48.

10. Svenska Läkaresällskapet: Öppna priorite- ringar i hälso – och sjukvård. Slutrapport från Svenska Läkaresällskapets priorite- ringskommitté 2004.

11. Carlsson J: Prioritätenlisten als „aktive“

Rationierung. Dtsch Arztebl 2005; 102(5):

A 264–5.

12. Socialstyrelsen: National guidelines for stroke care. Support for priority setting.

(ohne Verlag) 2005.

13. www.socialstyrelsen.se.

14. Carlsson J: Praxis der Priorisierung am Beispiel der Versorgungsleitlinie Kardiolo- gie in Schweden. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheits- wesen 2009; 103: 92–98.

15. www.socialstyrelsen.se (Zugriff:

28.05.2008).

16. Bundesärztekammer, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, Kassenärztliche Bun- desvereinigung: Nationale Versorgungsleit- linie Chronische KHK 2006.

http://www.versorgungsleitlinien.de 17. Carlsson J, Frhr. v. Wangenheim B: Schwe-

disches Herzinfarktregister: Spiegel des ärztlichen Handelns und Transparenz für die Patienten. Dtsch Arztebl 2006;

103(16): A 1050–2.

18. Swedish Association of Local Authorities and Regions, Swedisch National Board of Health and Welfare: Quality and efficiency in Swedish Health Care. Regional Compa- risons 2007 (ohne Verlag) 2008.

19. Allert G (Hrsg.): Ziele der Medizin. Stutt- gart: Schattauer 2002.

20. Medical professionalism in the new mille- nium: A physician charter: Annals of Inter- nal Medicine 2002; 136: 243–6.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 21/2009, ZU:

PRIORISIERUNG

Vom schwedischen Vorbild lernen

Hierzulande wird zunehmend über die Priorisierung medizinischer Leistungen diskutiert.

In Schweden hat sich aus dem Priorisierungsprojekt ein versorgungswirksames Steuerungsinstrument unter Führung und Beteiligung der Ärzteschaft entwickelt.

Heiner Raspe, Thorsten Meyer

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