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Archiv "Tod als Ziel des Lebens" (02.07.1981)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Das skandalträchtige, aber noch schüchtern vorgetragene „merdre"

(sic!) in Jarrys „Ubu Roi" wurde sa- lonfähig und zugleich allumfassen- des Apodikt der conditio humana bei Louis Ferdinand Cdline, der vor Erscheinen seines ersten Romans

„Voyage au bout de la nuit" der un- bekannte Dr. med. Destouches war.

Aber schon wenig später heißt es auf der ersten Seite des autobiographi- schen Buches „Tod auf Kredit": „Je n'ai pas toujours pratiqud la möde- cine, cette merde. — Ich habe nicht immer die Medizin ausgeübt, diese Scheiße". Und doch hat er sie zeit seines Lebens leidenschaftlich be- trieben, sie war seine Berufung, nicht die Literatur. „Je regrette, la mödecine c'dtait ma vocation".

Trotz dieser schönen, kokett geäu- ßerten Worte von der inneren Beru- fung glaubte ihm das kaum jemand, wurde er doch als Schriftsteller und nicht als Arzt berühmt, obwohl am Beginn seiner ärztlichen Laufbahn wiederum Literatur stand — die Dis- sertation über Ignaz Philipp Sem- melweis — und er am letzten Tag neben seiner literarischen Tätigkeit (am Todestag wird das Rigodon-Ma- nuskript beendet) Praxis ausübte.

Diesem Arzt und Schriftsteller, der das ungeschminkt spontan gespro- chene Wort druckreif machte, gilt diese Recherche. In Frankreich ne- ben Marcel Proust längst, wenn auch zögernd, an die Stelle großer Romanciers unseres Jahrhunderts gerückt, sind sein gesamtes Werk und sein Leben in Deutschland vor- erst nur einem relativ kleinen Kreis bekannt, obwohl hier seine politi- sche Vergangenheit mit dem Vor- wurf der Collaboration kein Grund für die mangelnde Rezeption gewe- sen sein dürfte. Es liegt wohl mehr

an der Schwierigkeit, seine Schrif- ten auch zu „verkraften"; das scheint selbst Literaturwissen- schaftlern nicht leichtzufallen, wenn man die etwas überheblich zurecht- rückende Art sieht, mit der Werk und Autor in deutschen Literatur- Lexika abgehandelt werden. Ent- schuldbar allerdings, wenn man ihn selbst dazu hört: „Ich schreibe, um die anderen unlesbar zu ma- chen."

Kanonenfutter

Cöline wurde am 27. Mai 1894 in Courbevoie bei Paris als Louis Ferdi- nand Destouches geboren. Die El- tern siedelten bald nach Paris über.

Der Vater war ein kleiner Versiche- rungsangestellter, die Mutter betrieb einen gehobeneren Trödelladen.

Man zog in die durch Cdline so be- rühmt gewordene Passage Choi- seul: Ihre den Heranwachsenden so bedrückenden Geräusche und Gerü- che und die durch kleinbürgerliche Irrationalität bestimmten Auseinan- dersetzungen zwischen den Bewoh- nern sind in „Tod auf Kredit" be- schrieben.

Aus diesem Milieu brach der offen- bar zu nichts taugende Knabe, ohne jemals im Leben auch nur ein Detail zu vergessen, frühzeitig aus. Die Schulzeit, während der er zur Erler- nung von Fremdsprachen sogar nach England und Deutschland ge- schickt worden war, wurde unter- brochen und als Lehrlingszeit in Handelsreisen fortgesetzt. Danach folgte eine ehrgeizige Besinnung und schließlich autodidaktische Vor- bereitung auf das Baccalauröat, er- neuter Unlust nach dem ersten Prü- fungsabschnitt die freiwillige Ver- pflichtung zu dreijähriger Militärzeit.

Celine zur Zeit der Veröffentlichung sei- nes ersten Romans „Reise ans Ende der Nacht"

Schon im Herbst 1914 in Flandern verletzt, erhielt er Anerkennung in Form von Medaille und Invalidenren- te. Kritiker sahen das Werk des späteren Fernando Furioso zum Teil als Folge einer mißglückten Trepa- nation ... Die später in Afrika aqui- rierte Malaria tat das ihrige für eine spekulative Pathographie seiner Gegner: Rechtfertigung für Irratio- nalismus und delirante Ecriture.

Pantoffel und Hausjacke

Am Beginn seines Medizinstudiums steht die Heirat mit der 19jährigen Tochter des Direktors der Ecole de Mödecine in Rennes, nachdem er zuvor als medizinischer Laie in Sa- chen TBC für die Rockefeller-Stif- tung umhergereist war. Die auf einer London-Reise heimlich geschlosse- ne Ehe mit einer Engländerin war rasch vergessen und annuliert. Das vom Schwiegervater finanzierte Stu- dium wurde mit der erwähnten Thöse über Semmelweis und seinen

Tod als Ziel des Lebens

Leben und Werk des Docteur Destouches alias L. F. Cdline

Reiner Speck

1358 Heft 27 vom 2. Juli 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen

L. F. Celine

Kampf gegen das Kindbettfieber ab- geschlossen: .. Zur Zeit meiner Dis- sertation lebte ich wie ein Bour- geois, mit Pantoffeln und Haus- jacke ... "

Nach Erreichen einer Mittelklasse- existenz verläßt er Frau und Kind, die guten Empfehlungen seines Schwiegervaters jedoch noch schnell zum Sprung auf einen Po- sten beim Völkerbund ausnutzend. Die Zeit in Genf wird unterbrochen durch abwechslungsreiche Reisen nach Afrika und Amerika sowie durch eine finanziell abgesicherte Boheme; seine Berichte darüber gleichen denen von Gottfried Benn aus der Etappe in Brüssel: Erinne- rungen von Medizinern auf gesi- chertem Posten.

Das frühe Trauma Semmelweis Das Leben des streitbaren und auf- sässigen ungarischen Mediziners I.

Ph. Semmelweis und sein Kampf ge- gen Kindbettfieber und Kollegen müssen den. jungen Destouches fas- ziniert haben: Er formte daraus den exemplarischen Lebenslauf eines Gescheiterten.

Die Dissertationsschrift beginnt mit einem emotionalen Rückblick auf die Revolution, um dann allmählich in das Curriculum vitae des am 1.

Juli 1818 geborenen, später an einer endogenen Psychose erkrankten und schließlich 1884 an einer sich selbst beigebrachten Infektion ge- storbenen Semmelweis überzu- leiten.

Ein Stück heimlicher Autobiogra- phie Celines steckt schon in seiner Dissertation, wenn er enthusiastisch über Semmelweis schreibt: .,Wahr- haftig, die Kindheit eines außerge- wöhnlichen Wesens stößt immer auf die gleiche idiotische Verbohrtheit, auf den gleichen ahnungslosen Stumpfsinn! ... "

Die Stationen in Semmelweis' Leben

werden in einem so literarischen

Ton erzählt, wie man es bei Doktor- arbeiten nicht erwartet. Der Tod am Kindbettfieber wird beinahe lyrisch abgehandelt und dramatisch inter-

pretiert, in einer Schrift, die anson- sten doch nur nüchterne Mitteilung von "Todesfällen", "Todesraten"

usw. gestattet. Auffallend auch Celi- nes beinahe poetische Schilderun- gen der beginnenden Psychose von Semmelweis, deren Inhalt das ver- kannte Lebenswerk war:

.,Man überraschte ihn, als er die

Wände seines Zimmers aufriß, um, wie er versicherte, nach einem tiefen Geheimnis zu fahnden, das ein ihm unbekannter Priester hier verscharrt habe. Im Laufe weniger Monate prägten sich in seine Züge tiefe Spu- ren von Melancholie und sein der Stütze der Dinge barer Blick schien sich in der Ferne zu verlieren." Und über lange Passagen geht es weiter mit der einfühlsamen Beschreibung eines geistigen Verfalls:

"Während er vorwärts drang in die- sem unbarmherzigen bodenlosen Labyrinth des Wahnsinns, erschien ihm Michaelis blutbesudelt, vor- wurfsvoll; Skoda in Riesengröße,

roh; Klin, anklageerhebend in allen

Haßgefühlen einer teuflischen Weit erblaßt; und Seifert und dann Scan- zoni ... Es waren ihrer zu viele, die- ser hohngrinsenden und lügneri- schen Schemen um sein Bett, zu vie- le, als daß er alle deutlich hätte se- hen können: Hörteer denn die argli-

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Celines Dissertation über Semmelweis

1360 Heft 27 vom 2. Juli 1981 DEUTSCHES ARZTEBLATT

stigen Feinde nicht hinter seinem Rücken Verschwörungen anzet- teln?"

Welch ein beneidenswertes Glück

für einen Autor, wenn am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere eine medizinische Dissertation steht! Wie verständnisvoll muß sein Doktorvater Brindeau gewesen sein, dieses literarische Produkt- bar je- der Statistik, Deduktion und wissen- schaftlicher Spekulation- als These anzunehmen. Die Conclusion Celi- nes war: "Was Semmelweis anlangt, so scheint es, daß seine Entdeckung über die Kräfte seines Genies hin- ausging. Das war vielleicht der tiefe Grund all seines Unglücks."

Damit wurde aus einem schwierigen Kind, aus dem Laufburschen, aus dem Abendschüler Louis Dr. Des- touches. Die von der Universität aus- get:eichnete Doktorarbeit wurde erst später von weit her diskutiert: Zu Wort meldete sich höflich und wohl- wollend der ungarische Herausge- ber der Semmelweis'schen Schrif- ten, Tiberius de Györy und über- reichte die- in der "Presse Medica- le" publizierten, zum Teil leicht chauvinistisch gefärbten - Korrek- turen.

Existentielle Neugierde

Dr. Destouches tauschte nun das durchs Stethoskop gehörte Ge- räusch gegen das Rauschen des Meeres, Anamnese-Bögen gegen Manuskripte, die bourgeoise Sicher- heit eines Arzthaushaltes gegen ein ungewisses Abenteuerleben. Oder wollte er nur dahin zurück, wo er herkam? Fühlte sich der Kleinbürger nicht wohl im Großbürgertum? Ich glaube nicht, daß bei diesem ersten großen Bruch in Celines Leben so- ziologische Motive ausschlagge- bend waren. Es war eher seine exi- stentielle Neugierde, die ihn das bür- gerliche Milieu fliehen ließ. Später äußerte er, daß er um der Erkenntnis willen, um der Wahrheit des Lebens ein wenig näher zu kommen, sich in Situationen begeben habe, die nicht nur Gefahren, sondern eindeutige Niederlagen mit sich gebracht hätten.

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Eine Manuskriptseite belegt, wie sehr Celine am geschriebenen Wort feilte, um den Eindruck von Spontaneität zu erreichen

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Durch Reisen in die afrikanischen Kolonien und in die Großstädte Amerikas konnte er zunächst einmal

—allerdings aus honorierter Distanz

—die Misöre der Condition humaine mittels Tropenkrankheiten und indu- striellen Arbeitsbedingungen ken- nenlernen. Die dabei gewonnenen Eindrücke werden ein Leben lang Substrat für seine Bücher liefern.

Dabei zeigt sich bei näherem Hinse- hen, daß ein fast oberflächlicher Ein- druck schon Anlaß genug bietet, ei- ne Publikation von großer Tragweite daraus zu machen:

Wenn bei Robert Poulet stand

„Notre homme fut mödecin chez Ford", dann haben alle Biographen im Zusammenhang mit Cölines ar- beitsmedizinischer Veröffentlichung

„La Mödicine chez Ford" aus ihm einen Werkarzt in Detroit gemacht — vielleicht mit Hilfe seiner mythologi- schen Selbstdarstellung in Inter- views. In Wahrheit weilte er als Be- obachter des Völkerbundes nur 36 Stunden in dieser Stadt. Zeit genug, um auch die Tänzerin Elisabeth Craig wiederzusehen, der er sein er- stes Buch „Voyage au bout de la nuit" gewidmet hat.

Dr. Jekyll and Mr. Hyde

Erster Höhepunkt in seinem literari- schen Leben wurde 1932 schlagartig die Veröffentlichung dieses großen Romans. Da die „Reise ans Ende der Nacht" schnell als eine Art autobio- graphischer Retrospektive erkannt wurde und in Stil und Thematik et- was völlig Neues an Literatur bot, setzte man alle Hebel in Bewegung, den geheimen Autor, der sich hinter dem aus dem Vornamen seiner Mut- ter gebildeten Pseudonym verbarg, zu entdecken. Einen Monat nach der Publikation gelingt es einem Journa- listen des Paris-Soir, das Geheimnis zu lüften. Man war begierig, den monströsen Autor an die Öffentlich- keit zu zerren.

Cöline fühlt sich in diesen Wochen

„un peu comme Dr. Jökyll and Mr.

Hyde": tagsüber unbescholtener Bürger, nachts auf anankastischen Abwegen. Und pathognomonisch für die Vorstellung, die sich alle von

dem Ungeheuer gemacht hatten, ist der stereotype Anfang jeder Repor- tage: Schilderung seines äußerst sympathischen Erscheinungsbildes.

Ein großer schlanker Herr mit hell- blauen durchdringenden Augen, von denen sich viele Besucher so- gleich durchschaut fühlen: „ . .. des yeux de marin (il est Breton) ou de psychiatre (il est docteur)." Ein bril- lanter Gesprächspartner.

Einem Reporter erscheint er als stattlicher Teufel, einer Journalistin, die angibt, von ihm im Operations- saal empfangen worden zu sein, als Christus mit sanften Manieren . Cöline war also wohl wie viele gute Ärzte — auch ein guter Schauspieler, der wußte, welche Erwartungen er wann zu erfüllen hatte.

Welch ein Wandel des Erschei- nungsbildes, wenn Raddatz ihn ein Vierteljahrhundert später so sieht:

„ . aus einem sinnlichen Mund wurde eine böse Wunde, aus fragen- den schönen Augen ein fragwürdig lauernder Blick, aus Erwartung wur- de Desillusion. Cölines Gesicht schloß sich und zerbrach —wie seine Sprache, wie sein Werk."

Der unheimliche Arzt

So sympathisch er geschildert wird, man empfindet ihn auch als „cu- rieux homme". Schon der damalige Journalismus bemühte sich, das me- dizinische Ambiente mit in die Cha- rakterisierung von Werk und Autor einzubeziehen; sogar die Poliklinik in Clichy, in der Cöline arbeitet, wird als vorbildliches Modell für die Kran- kenversorgung in der „Banlieu" ge- lobt — wohl mit der Frage zwischen den Zeilen, wie man als Arzt unter solch vermeintlich idealen Arbeits- bedingungen eine so pessimistische und defaitistische Grundhaltung einnehmen könne. Und mit be- schwörenden Worten warnt man vor zuviel Enthusiasmus gegenüber sei- nem Buch; die Literaturkenner könnten sich ebenso häufig mit ih- ren Urteilen irren wie die Mediziner bei ihren Diagnosen .

In allen Artikeln und Interviews wird auf das klinische Envirement Cö- lines eingestimmt, selbst wenn sich der Autor zur Zeit der Befragung in einem Literatencafö oder in den Räumen seines Verlegers aufhielt.

Die schon immer für das ärztliche Milieu anfällige Presse tat auch da- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 27 vom 2. Juli 1981 1361

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen L. F. Cöline

mals ihr Bestes, Klatsch und Kritik zu mischen und dem Leser einen suffisanten Cocktail anzubieten. Ein Reporter beschreibt das Haus in der Rue Löpic, in dem er gleich die Trep- pen zu Cölines Wohnung heraufstei- gen wird, als eine „maison lö- preuse".

Intrigantes Recherchieren auch schon vor fünfzig Jahren: Ein ande- rer kommt als falscher Patient in Ce- lines Ambulanz, um den „vrai doc- teur" zu entdecken, zu entlarven, publikumswirksam zu beschreiben:

Im Resultat halten sich Enttäu- schung und Journaille die Waage:

Nach einer das gewöhnliche Maß überschreitenden Untersuchung, einschließlich Auskultation und Per- kussion, gibt Dr. Destouches ihm den Ratschlag: „Pas de vin, pas de cafö, pas de liqueur, peu de pain."

Celine weiß, was er der Presse schuldig ist: lapidar, ganz in der Tra- dition eines französischen Curricu- lum vitae befangen und doch mit zynischer Distanz, erwähnt er seine Kriegsteilnahme „ ... En 1914 bies- se, tröpane, reformö, medaillö, mili- taire . . ." Seine These über Semmel- weis führt er an als eine Arbeit über einen Arzt, dessen Leben ein Kampf für Humanität und gegen menschli- che Dummheit war. Mit dem schlag- artig einsetzenden Ruhm kokettie- rend und sich von seiner bourgeoi- sen Vergangenheit distanzierend, berichtet er, wie man ihn während des Studiums gegängelt und prote- giert habe: „On a fait de moi un docteur."

Der Protagonist und sein Double Hauptthema der „Voyage" ist die all- mähliche Desillusionierung des Hel- den durch Krieg und Lebenskampf und die damit verbundene Entwick- lung des Erzählers zum Mediziner.

Die biographische Verknüpfung der beiden Hauptgestalten Bardamu und Robinson gestattet dem Autor, die Aporie im Sinne der Weglosig- keit bis zum Exzeß durchzuspielen;

die Widersprüchlichkeit war sein Programm. Die Geworfenen lande- ten — in hilfloser Agonie und obsku- rer Metapher — am Ende der Nacht.

Die Odyssee des Bardamu und sei-

nes alter ego Robinson führt durch Afrika und Amerika, Länder, die Celi- ne vorher gut kennengelernt hatte.

War auch das Menschenbild in sei- ner Erzählung Frucht der Empirik?

Wahrscheinlich — denn es setzt sich zusammen aus körperlicher Hinfäl- ligkeit und seelischer Misere. Hier hatte jemand, der sich als aufge- klärten Intellektuellen sah, Freud, Claude Bernard und Bergson ge-

Die skandalträchtigen Publikationen Cä- lines werden von der Kritik mit Karikatu- ren des Autors attackiert

mendelt und das Ergebnis als ago- nalen Prototypen hingestellt.

Die offensichtliche Kongruenz zwi- schen Autor und Protagonist mach- te neugierig. Wer war der Mensch, für den jeder, der ihm begegnete, ein schon fast Toter, nur noch zufäl- lig Lebender war?

Am Anfang steht der Krieg als das auslösende Moment einer großen Verunsicherung — am Ende seine medizinische Berufung. So chao- tisch in Stilistik und Handlung die Voyage prima vista anmuten mag, sie unterliegt einer klaren Komposi- tion, die dem streng analytisch ge- schulten Denken des Mediziners Ce- line entspringt. Anhand der Schilde- rung eines Einzelschicksals gelingt ihm zuweilen der Entwurf für eine grundsätzliche Anthropologie.

Die Voyage steckt voller bitterer Me- dizin. Der Un-Kollege Celine (die ärztlichen Gestalten in diesem Ro- man kommen allesamt nicht gut da- von: Der eine ist nicht sonderlich begabt für seinen Beruf, der andere übt ihn lustlos aus, der Dritte be- nutzt ihn nur als Mittel zum Zweck.) beklagt zum Beispiel die konjunktu- relle Anfälligkeit der Ärzteschaft, die Bestechlichkeit im Verlauf einer wis- senschaftlichen Karriere, das mora- lische Dilemma des Arztes:

Hier spiegelt sich nur zum Teil das spezifisch französische System nach dem ersten Weltkrieg wider.

Es erhält allgemeingültige Züge durch Aussagen ähnlicher Proble- matik, wie sie von Celines Kollegen — Ärzten und Schriftstellern wie Döblin und Benn — zur gleichen Zeit im deutschen Sprachraum gemacht wurden. In den Augen des Erzählers ist die Medizin — und mit ihr die Psychologie dehumanisiert, zur Wis- senschaft des instrumentellen Den- kens entartet.

Trotz dieser Idealismen ist die ganze Voyage ein unsicheres Suchen eines zynischen Skeptikers, der sich in Aporien suhlt. Das ni l'un ni l'autre macht schließlich seine sogenannte Lebenserfahrung aus und läßt ihn in einem windigen Pragmatismus überleben.

Hauptthema bleibt jedoch der Tod, daher auch Cölines Bewunderung für Villon. Eine ruhige meditatio mortis kommt freilich nirgends zu- stande.

Die „Reise ans Ende der Nacht" ist — wie sein nächster großer Roman

„Tod auf Kredit" — geformt aus zu- weilen nur von Medizinern ganz nachvollziehbaren Details und Si- tuationen, die ob einer empirischen

Einfühlnahme dann auch erst die Tragweite des Apodikts „merde"

verstehen lassen.

• Wird fortgesetzt Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Reiner Speck Facharzt für Urologie Dürener Straße 252 5000 Köln 41

1362 Heft 27 vom 2. Juli 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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