Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ
Störungen des Wach-Schlaf-Rhyth- mus können Symptom zahlreicher Grunderkrankungen, aber auch Ausdruck primärer Hirnfunktions- störungen sein. Die Differentialdia- gnose der Hypersomnien und Dys- somnien ist bisher wenig bekannt, obwohl in den letzten Jahren in No- sologie und Therapie wesentliche Fortschritte erreicht worden sind.
Dies betrifft vor allem die Narko- lepsie.
Klinik der Narkolepsie
Unter den mit abnormer Schlafnei- gung einhergehenden neurologi- schen Krankheiten ist die Narko- lepsie die wichtigste. Sie wurde schon 1880 von Gelineau von den eigentlichen Anfallsleiden abge- grenzt, mit denen eine Verwechs- lung in der Praxis immer noch vor- kommt. Das vollständige Symptom- bild der Narkolepsie umfaßt O die narkoleptischen Schlafan- fälle,
O die Kataplexie oder den affekti- ven Tonusverlust,
.0 die hypnagogen Halluzinationen beim Einschlafen,
O die Schlaflähmungen als Form eines dissoziierten Erwachens.
Alle vier Kardinalsymptome brau- chen keineswegs vorhanden zu sein. Bei der „einfachen Narkolep- sie" findet sich nur die vermehrte Schlafneigung bei Tage mit häufi- gen Schlafanfällen. Diese sind ge- kennzeichnet durch wiederholtes Auftreten einer unwiderstehlichen Schlafneigung mit natürlichem Schlaf von wenigen Minuten Dauer,
aus dem die Patienten aufweckbar sind. Damit läßt sich die Narkolep- sie von anderen Hypersomnien, die meist länger dauern, von epilepti- schen und hysterischen Zuständen und von Synkopen abgrenzen.
Atemstörungen mit Zyanose (wie beim Pickwick-Syndrom) kommen bei Narkolepsie kaum vor.
Erleichtert wird die Diagnose, wenn gleichzeitig ein affektiver To- nusverlust vorliegt (Narkolepsie- Kataplexie). Dieser besteht in einem plötzlichen, Sekunden dau- ernden Tonusverlust der Muskula- tur. Herausragendes Merkmal ist die Auslösung durch akute Ge- mütsbewegungen, vor allem freudi- ge Erwartung und Heiterkeit („Lachschlag"). Eine solche situati- ve Auslösung erlaubt eine sichere Diagnosestellung auch ohne Poly- graphie.
Eine polygraphische Untersuchung mit wiederholten Ableitungen des EEG, des EMG und der Augenbe- wegungen während des gesamten Nachtschlafs ist im übrigen bei al- len Hypersomnien erwünscht. Bei Narkoleptikern ist der zyklische Ablauf des Schlafes schwer ge- stört. Ein großer Teil zeigt abnorm frühes Auftreten von „aktivem"
oder „paradoxem" Schlaf mit ra- schen EEG-Wellen und Augenbe- wegungen sowie Häufung von Träumen gleich im Beginn der Nacht und auch im Beginn von Schlafanfällen, doch ist dies nicht bei jedem Kranken und nicht bei jedem Schlafanfall zu sehen.
Schlafbeginn mit aktiviertem Schlaf tritt beim Normalen nur in Sonder-
Die Narkolepsie ist das wich- tigste der vorwiegend durch Schlafsucht gekennzeichne- ten Leiden. Nicht immer ist die Narkolepsie-Tetrade mit Schlafattacken, affektivem Tonusverlust, Einschlafhallu- zinationen und dissoziiertem Erwachen voll ausgeprägt.
Bei Kenntnis der sehr cha- rakteristischen Symptome ist eine Abgrenzung von den ei- gentlichen zerebralen An- fallsleiden, von Synkopen und von anderen Schlaf- Wach-Störungen jedoch mög- lich.
fällen, zum Bespiel nach längerem Schlafentzug oder nach Intoxika- tionen auf. Schlafeintritt mit akti- viertem Schlaf ist die pathophy- siologische Grundlage der hyp- nagogen Halluzinationen sowie der zahlreich wahrgenommenen Träu- me, die auf häufige Wachphasen folgen. Beide lassen den Narkolep- tiker den Schlaf fürchten. Eine schwere subjektive Beeinträchti- gung bedingt ferner das Auftreten von Schlaflähmungen, die auch Wachanfälle genannt werden und in einem dissoziierten Erwachen unter Fortbestehen der muskulären Atonie des paradoxen Schlafes be- stehen. Davon zu unterscheiden sind Störungen des Erwachens in der selbständigen Schlaftrunken- heit, bei der umgekehrt die psychi- sche Wachheit der motorischen Reaktivierung bis zu Stunden nach- hinkt. Diese Erkrankung ist mit Hy- persomnien am Tage verbunden, die sich vor allem durch ihre Dauer (Stunden) von der Narkolepsie ab- grenzen lassen.
Nur bei der sehr seltenen komplet- ten Narkolepsie sind alle vier Kardinalsymptome („Narkolepsie- Tetrade") vorhanden. Patienten mit vollständiger Narkolepsie haben in der Regel ein echtes Schlafdefizit, so daß die Kennzeichnung der Nar- kolepsie als Hypersomnie nicht zu- trifft. Wegen der Desintegration des Wach-Schlaf-Rhythmus und des
Diagnose und Therapie der Narkolepsie
Hinrich Cramer
Aus der Neurologischen Universitätsklinik
mit Abteilung für Neurophysiologie Freiburg (Breisgau) (Direktor: Professor Dr. med. Richard Jung)
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 1 vom 1.Januar 1976 21
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Narkolepsie
Schlafablaufes mit gestörter Folge und Dissoziation der Schlafphasen ist deshalb exakter von einer Dys- somnie (Passourant) zu sprechen.
Das Auftreten der Narkolepsie, ins- besondere des Kataplexie-Sym- ptoms, zeigt einen Gipfel in der Pu- bertät, allerdings haben bereits drei Viertel der Patienten viel früher Schlafprobleme. Dies unterstützt die Annahme einer Reifungsstö- rung der zerebralen Schlafregula- tionen, welche in der Regel eine genetische Basis hat. Es sind Fa- milien mit Auftreten von einfacher Narkolepsie, andere mit Narkolep- sie-Kataplexie beschrieben worden (Roth). Der Erbgang folgt nicht ein- fachen Mendelschen Gesetzen, genetische Beziehungen bestehen zu anderen Hypersomnien (Schlaf- trunkenheit, Excessive day-time sleep-Syndrom, Subwakefulness- Syndrom usw.).
Symptomatische Narkolepsien sind sicherlich seltener, als früher ange- nommen, was vor allem für die post- enzephalitische Narkolepsie gilt, analog zum scheinbaren Rückgang des postenzephalitischen Parkin- son-Syndroms, in Einzelfällen sind ätiologisch Geburtsasphyxien (Ta- kahashi), entzündliche Hirnerkran- kungen und Traumen anzuschuldi- gen. Narkolepsie als Früh- oder Spätkomplikation von Hirnkontu- sionen (L'Hermitte) ist oft mit Epi- lepsie verbunden. In Narkoleptiker- familien ist die lnzidenz von Epilep- sie mit 0,7 Promille ähnlich wie in der Gesamtbevölkerung.
Psychiatrische und soziale Aspekte der Narkolepsie sind praktisch wichtig. Es werden vor allem ra- sche Stimmungsschwankungen, Depressionen, Zwangsvorstellun- gen und häufige Suizidgedanken geklagt. Depressionen sollen bei idiopathischer Narkolepsie sehr viel häufiger sein als bei sympto- matischer (Roth). Ein Großteil der psychischen Störungen ist jedoch Folge der persönlichen, berufli- chen und gesellschaftlichen Beein- trächtigung durch das neurologi- sche Leiden. Befragungen von Nar- koleptikern ergeben eine erhöhte
Unfallneigung. Dennoch sind Ver- kehrsunfälle bei behandelten Pa- tienten recht selten (Guilleminault).
Im Unterschied zur Lage bei epilep- tischen Anfallskranken ist daher die Fahrtauglichkeit nicht mehr grundsätzlich zu verneinen, wie Roth noch 1962 meinte. Zu berück- sichtigen ist eine verminderte Alko- holtoleranz.
Bei schwerer Narkolepsie ergeben sich besondere, auch gutachterli- che Probleme, wenn das kürzlich hervorgehobene „Syndrom der Ver- haltensautomation" vorliegt. Hier- bei handelt es sich um ein amne- stisches Syndrom mit begleiten- den Halluzinationen und bizarrem Verhalten. In leichteren Fällen kommt es zu kurzen Absencen mit starrem Blick ohne Augenbewe- gungen, Versprechen oder lteratio- nen. Längere Episoden können in monotoner Umgebung in Form ei- nes geordneten Dämmerzustandes mit koordinierten Handlungen bis 90 Minuten lang ablaufen (Tharpe), wobei ungewohnte Reize zum Er- wachen führen. Unseres Erachtens bleibt noch zu klären, ob diese Komplikation vor allem durch chro- nischen Schlafentzug und Medika- menteneffekte provoziert ist. Im üb- rigen sind Zustände von automati- schem Handeln in einem partiellen Schlaf ohne Amnesie bei Narkolep- tikern seit langem bekannt, ebenso wie ein gelegentliches Vorkommen von Somnambulismus bei Narko- lepsie.
Therapie der Narkolepsie
Die Therapie der Narkolepsie ist auch heute noch in vielen Fällen schwierig und langwierig. Seit län- gerem ist die Wirkung von sympa- thomimetischen Aminen (Ephedrin, Benzedrin, Amphetamin) bekannt, durch die Schlafanfälle beseitigt und Tonusverluste vermindert wer- den. Monaminoxydasehemmer und auch Barbiturate unterdrücken den raschen paradoxen Schlaf und die mit ihm korrelierten Symptome.
Weitere Fortschritte hat die Einfüh- rung von Dextroamphetamin, den trizyklischen Aminen (Imipramin, Desipramin) und neuerdings die
Anwendung von Methylphenidat (Ri- talin®) gebracht. Clomipramin (Anafranil®, 25-75 mg/die) bes- sert besonders die Kataplexie und eignet sich gut zur Kombination mit Methylphenidat (Ritalin®).
In der Praxis ist in leichten Fällen mit einem Weckamin zu beginnen (Captagon®, Elastonon®, Even- fing und andere). Bei kompletter Narkolepsie ist eine Kombination von Pertofran® (Desipramin, 25-100 mg/die) mit einem Weck- amin, zum Beispiel Ritalin® (mor- gens und mittags eine Tablette), eventuell Pervitin® (2-4 Tabletten täglich) zu empfehlen. Bei Perto- fran® ist auf unerwünschte Blut- drucksteigerungen zu achten. Im Beruf muß monotone Tätigkeit ver- mieden werden, ebenso natürlich die Arbeit an gefährdenden Ma- schinen, so daß ein Berufswechsel nicht selten nötig ist. Das Führen von Kraftfahrzeugen ist in vielen Fällen zu untersagen.
Bei den Weckaminen besteht wie bei allen amphetaminähnlichen Mitteln stets die Gefahr einer Suchtentwicklung. Bei Langzeitbe- handlung wird gelegentlich über Störungen des Kurzzeitgedächtnis- ses geklagt. Umstritten ist, ob Am- phetamine in therapeutischer Dosis toxische Gefäßveränderungen und dauernden Bluthochdruck sowie fetale Entwicklungsstörungen im erstell Trimenon verursachen kön- nen. Bei Psychostimulantien ist
über pulmonale Hypertonien be- richtet worden, der Kreislauf ist dauernd zu überwachen. Aus allen diesen Gründen ist eine fachärztliche Führung der Be- handlung notwendig. Prognostisch gesehen, handelt es sich bei der Narkolepsie trotz ihres sehr quä- lenden Charakters um ein in der Regel gutartiges Leiden, progre- diente schwere Verläufe sind sel- ten, Spontanremissionen möglich.
Literatur beim Verfasser Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Hinrich Cramer Neurologische Universitätsklinik 78 Freiburg im Breisgau
Hansastraße 9
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