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Fragen von Leben und Tod

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Academic year: 2022

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RELIGION, FILM UND MEDIEN 8

Fragen von

Leben und Tod

Medizin und Ethik im Film

Fragen von

Leben und Tod

Walter Lesch

Markus Leniger Hg.

Lesch / Lenig er Frag en von Leben und T od

RELIGION, FILM UND MEDIEN 8

Fragen der medizinischen Ethik haben mit existentiell herausfordern- den Situationen am Lebensanfang, in Krankheit und am Lebensende zu tun. Sie sind deshalb ein herausragender Stoff für Filme. Religionen sind hier ebenfalls mit Sinnangeboten, Beratungen, manchmal auch mit starken Wertungen präsent wie in kaum einem anderen Feld der Ethik. Deshalb ist es naheliegend, Filmkunst, Ethik und Religion mitei- nander in ein Gespräch zu bringen, das sie oft nur übereinander führen.

Das Buch lädt ein zu einer intensiven Beschäft igung mit ausgewählten Kinofi lmen, TV-Produktionen und Streaming-Angeboten, an denen sich exemplarisch die Bedeutung von Filmen für die ethische Refl exion, für den gesellschaft lichen Diskurs sowie für die medizinethische Aus- bildung und andere Orte der Bildungsarbeit zeigen lässt.

Der Schwerpunkt liegt auf »klassischen« Fragen des Umgangs mit Krankheit und Sterben: realen Situationen im privaten Umfeld und in klinischen Sett ings. Science-Fiction-Szenarien und neuere Entwicklun- gen im Kontext des Trans- und Posthumanismus erweitern das Spekt- rum mit ungewöhnlichen Sichtweisen auf Leben und Tod.

Mit Beiträgen von Sabine Gott getreu, Thomas Pablo Hagemeyer, Solveig Lena Hansen, Markus Leniger, Walter Lesch, Christof Mandry, Alexander Darius Ornella, Daria Pezzoli-Olgiati, Karsten Schmidt, Angelika Thielsch, Christian Wessely, Franz Günther Weyrich, Sabine Wöhlke, Markus Zimmermann und Reinhold Zwick.

Religion, Film und Medien Bd.8

RZ_RFM_8_Lesch_Ethik.indd 1 10.01.22 16:15

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Walter Lesch / Markus Leniger (Hg.) Fragen von Leben und Tod Medizin und Ethik im Film

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Religion, Film und Medien

Schriftenreihe der Forschungsgruppe «Film und Theologie»

und der Katholischen Akademie Schwerte herausgegeben von:

Freek Bakker, Universität Utrecht Peter Hasenberg, Meckenheim

Markus Leniger, Katholische Akademie Schwerte Gerhard Larcher, Universität Graz

Marie-Therese Mäder, Universität München (LMU) Charles Martig, Katholisches Medienzentrum, Zürich

Daria Pezzoli-Olgiati, Universität München (LMU) Joachim Valentin, Universität Frankfurt a. M.

Christian Wessely, Universität Graz Reinhold Zwick, Universität Münster

Band 8

Die Reihe «Religion, Film und Medien» widmet sich der Beziehung zwischen Religion und Film sowie weiteren (audiovisuellen) Medien.

Sie bietet innovativer Forschung aus Theologie, Religions-, Film- und Medienwissenschaft sowie interdisziplinären Projekten eine Plattform.

«Religion, Film und Medien» führt die Reihe «Film und Theologie» fort, die von 2000 bis 2016 in 29 Bänden erschienen ist.

https://www.religion-film-media.org/buchreihe/

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FRAGEN VON LEBEN UND TOD

Medizin und Ethik im Film

Walter Lesch / Markus Leniger (Hg.)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schüren Verlag GmbH

Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg www.schueren-verlag.de

© Schüren 2022

Alle Rechte vorbehalten Gestaltung: Erik Schüßler

Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Frechen

Umschlagbild: Filmstill aus Halt auf freier Strecke (Andreas Dresen, DE 2012, Blu-ray-Edi tion, Pandora Film)

Druck: Booksfactory, Stettin Printed in Poland

ISSN 2568–8510

ISBN Print 978-3-7410-0400-1 ISBN eBook 978-3-7410-0164-2

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der

Gesellschaft zur Förderung der Katholischen Akademie Schwerte e. V.

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Inhalt | 5

Inhalt

Walter Lesch und Markus Leniger

Vorwort 7

Interdisziplinäre Grundlagen

Walter Lesch

Biomedizinische Ethik im Film

Konturen eines Programms für Praxis und Forschung 19 Solveig Lena Hansen

Dystopie und Methode

Zur fiktionalen Verhandlung moralischer Überzeugungen

in der Bioethik 37

Sabine Wöhlke, Solveig Lena Hansen und Angelika Thielsch Geschichten von Gewicht

Gesundheitsethische und hochschuldidaktische Überlegungen

zum Einsatz von Dokumentarfilmen am Beispiel Adipositas 59 Sabine Gottgetreu

Ethische Fragen im zeitgenössischen medical drama Ein filmwissenschaftlicher Blick auf das Genre der Arzt- und

Krankenhausserien 79

Pablo Hagemeyer

Ein Blick auf das Genre der Arzt- und Krankenhausserien – aus der Perspektive ärztlicher Fachberatung in der Film-

und Serienproduktion 99

Filmbesprechungen

Reinhold Zwick Entscheidungskrisen

Pränatale Diagnostik und (Spät-)Abtreibung im Film 115

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6 | Inhalt

Daria Pezzoli-Olgiati

Adoleszenz als abgründige Metamorphose

Eine Besprechung von Lisa Brühlmanns Blue My Mind 127 Walter Lesch

Eine Analyse von KINDESWOHL

Verknüpfungen von Ethik, Recht, Religion und Medizin

im Roman und im Film 141

Markus Leniger

HALT AUF FREIER STRECKE von Andreas Dresen –

Eine filmische ars moriendi? 159

Franz Günther Weyrich

Zwischen ars moriendi und ars vivendi

Der Film Die Lebenden reparieren von Katell Quillévéré 175 Markus Zimmermann

GOTT

Theologisch-ethischer Kommentar zu einem verfilmten Theaterstück 195 Walter Lesch

Der zerbrochene Kreis des Lebens

Medizinethische Überlegungen zu The Broken Circle Breakdown 207

Neue Fragen nach dem Menschsein

Christof Mandry

Transhumanismus und Posthumanismus

Utopie – Ideologie – Gesellschaftskritik 227

Karsten Schmidt

Die Frage nach dem Menschsein in BLADE RUNNER und

BLADE RUNNER 2049 247

Christian Wessely und Alexander Ornella Körperhardware und Geistessoftware

Zur Genese eines Missverständnisses 269

Autorinnen und Autoren 293

Abbildungsnachweise 300

Filmregister 301

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Vorwort | 7

Vorwort

Dieses Buch möchte zur Beschäftigung mit Filmen in einem Themenfeld einladen, das unter der Bezeichnung «medizinische Ethik» für ein Fachpu- blikum relevant ist, darüber hinaus aber auch für einen weiteren Kreis von Leser:innen von Interesse sein dürfte. Erfahrungen des Lebensanfangs und des Lebensendes sowie die Krisen von Krankheit, Schmerz und Trauer sind Teil einer jeden Existenz, nicht nur für diejenigen, die beruflich in Medizin und Pflege täglich mit diesen Fragen zu tun haben. Damit sind zahlreiche ethische Herausforderungen verbunden, da über Normen und Werte, die in diesen Lebenslagen geltend zu machen sind, mit guten Gründen gestrit- ten wird. Über die Ethik hinaus stehen grundsätzliche Haltungen der Welt- deutung zur Diskussion, sodass die philosophische und theologische Rele- vanz der großen Fragen von Leben und Tod evident zu sein scheint.

Die Internationale Forschungsgruppe Film und Theologie (https://www.

religion-film-media.org/forschung/) hat das Thema zu ihrem Schwerpunkt im Jahr 2019 gewählt und wie üblich in zwei verschiedenen Veranstaltun- gen bearbeitet. Die Jahrestagung fand vom 19. bis 20. Juni 2019 unter dem auch für die Publikation beibehaltenen Titel «Fragen von Leben und Tod.

Medizin und Ethik im Film» in der Katholischen Akademie Schwerte statt.

Bei der Vorbereitung hatte sich herausgestellt, dass neben den klassischen Bereichen medizinischer Ethik ein besonderes Interesse an jüngeren filmi- schen Entwicklungen im Umfeld des Transhumanismus zu verzeichnen war. Unter dem Titel «Jenseits des Menschen. Post- und Transhumanismus im Film» wurde dieser Aspekt bei der Ökumenischen Expert:innen-Tagung am 25. und 26. Januar 2019 im Haus am Dom in Frankfurt diskutiert. Beide Tagungen waren eng aufeinander bezogen, sodass Beiträge aus Frankfurt und Schwerte in diese Publikation eingeflossen sind.

Im Rückblick drängt sich die Frage auf, warum die Forschungsgruppe sich erst jetzt dieser Themen angenommen hat, da sich deren Bedeu- tung doch gerade auch im Kontext von Religion und Theologie und deren Gespräch mit herausragenden Werken der Filmkultur aufdrängt. Offen- sichtlich hat es nie an aktuellen Ideen und kreativen Konzepten gefehlt, sodass der Ideenspeicher auch für die kommenden Jahre gut gefüllt ist. Die Sommertagung in Schwerte bot den besonderen Anlass, auf dreißig Jahre eines internationalen Forschungsprojekts zurückzublicken, in dem Fach-

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8 | Vorwort

leute aus mehreren europäischen Ländern kooperieren. In diesen drei Jahr- zehnten wurde ein breites Themenspektrum bearbeitet, das nicht notwen- dig durch explizit religiöse Bezüge definiert ist. Filme werden vielmehr als Anlässe theologischer und religionswissenschaftlicher Reflexion analysiert und dabei als autonome Kunstwerke respektiert, in der Regel als Zeugnisse einer säkularen Welt. Theologische, philosophische und ethische Diskurse entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit den in Filmen angebote- nen Sichtweisen. Diese Arbeit geschieht in Lehre und Forschung an den jeweiligen europäischen Projektstandorten, im regelmäßigen Austausch der beteiligten Wissenschaftler:innen und in den Tagungen, mit denen der Kontakt zur Öffentlichkeit gesucht wird. Speziell die Jahrestagungen rich- ten sich an ein interessiertes Publikum, das sich durch die Leidenschaft für die Filme qualifiziert und keine anderen Eintrittsvoraussetzungen mitbrin- gen muss. Durch diese Offenheit ist über die kollegialen und freundschaft- lichen Kontakte hinaus ein Netzwerk von Teilnehmenden entstanden, die mit ihrer Kompetenz und ihrem kritischen Verstand die Diskussionen bereichern.

Das gewählte Format ist auf Orte angewiesen, die sich für solche Begeg- nungen eignen. Für das Jahresthema 2019 waren es die Akademien in Frankfurt und Schwerte, die mit ihrer Infrastruktur und ihrer Gastfreund- schaft das Ambiente geschaffen haben, das im akademischen Betrieb nicht immer selbstverständlich anzutreffen ist. Es ist außerdem ein gut etablier- ter Brauch, dass aus den Veranstaltungen Publikationen erwachsen, die oft über eine reine Tagungsdokumentation hinausgehen. Diese Ambition hat auch der vorliegende Band, der von der Beobachtung ausgeht, dass vor allem in englischer Sprache zahlreiche Standardwerke existieren, die das Zusammenspiel von Filmanalyse und medizinischer Ethik zum Gegenstand haben. Zur Erschließung dieses Feldes in deutscher Sprache möchte das Buch einen Beitrag leisten, dem hoffentlich weitere Projekte folgen werden.

Das «Einsammeln» und Redigieren der Beiträge fiel in die Zeit der Pan- demie, die für sich allein ein geeigneter Gegenstand bioethischer Refle- xion gewesen wäre. Die Herausgeber haben sich darauf verständigt, diesen Aspekt der Aktualität nicht forcieren zu wollen und sind dabei verblieben, die Ende 2019 und Anfang 2020 in Auftrag gegebenen Arbeiten zu einem kohärenten Buch zusammenzufügen. Durch die Pandemie konnten einige Kolleg:innen ihre zugesagten Beiträge wegen neuer beruflicher Belastun- gen nicht fertigstellen. Es ist eine Erfahrung der Endlichkeit und der Red- lichkeit, diese Situation wohlwollend und konstruktiv zur Kenntnis zu nehmen und nicht zu dramatisieren. Die hier dokumentierte Arbeit ver- steht sich als ein work in progress, das auf Fortsetzung aus ist und in dem keine schon geplanten aber noch unfertigen Beiträge «verloren» sind. Die

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Vorwort | 9 gewählten Themenschwerpunkte sind als Anregungen für die praktische Arbeit und für die Forschungsdiskussion gedacht und somit ausdrücklich zur Nachahmung und zum weiteren Experimentieren empfohlen.

Die Buchkapitel verteilen sich auf drei große Bereiche, für deren Abgren- zung es nicht immer ganz trennscharfe Kriterien gibt, die aber je nach Inte- ressenschwerpunkt der Leser:innen eine erste Orientierung erlauben. Im ersten Teil sind jene Texte zusammengestellt, die allgemeine und grund- legende Fragen des Themas unter fachlichen Gesichtspunkten darstellen, um damit in ein interdisziplinäres Gespräch einzutreten. Im zweiten Teil geht es um Filmanalysen, die den Mitgliedern der Forschungsgruppe seit jeher ein zentrales Anliegen sind. Damit soll Raum geschaffen werden für ein sorgfältiges Sehen, Hören und Interpretieren im respektvollen Umgang mit Filmen, die zum Nachdenken anregen. Die Beiträge im dritten Teil des Bandes liefern Impulse für eine Neuakzentuierung herkömmlicher Fragen medizinischer Ethik, die sich im Kontext des Post- und Transhumanismus in Fiktion und Wissenschaft mit ungewohnten Perspektiven konfrontiert sieht. Diese Überlegungen standen chronologisch am Anfang der gemein- samen Arbeit im Jahr 2019 und dienen nun in der Publikation als Fenster zum Ausblick in die ungewisse Zukunft des Verständnisses einer humanen Medizin.

Zur ersten Orientierung werden hier Inhalte der einzelnen Beiträge in der gebotenen Kürze vorgestellt. Den Auftakt macht Walter Lesch mit einem Überblick über den ethischen Zugang zu Fragen von Leben und Tod. Unter den Bezeichnungen Bioethik, medizinische Ethik oder biome- dizinische Ethik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der wohl profi- lierteste und methodisch am meisten reflektierte Bereich der praktischen Philosophie herausgebildet, der in Ausbildungsprogrammen, öffentlichen Debatten und Kommissionen sichtbar ist. Die meisten ethischen Fragen liegen dieser Professionalisierung und Institutionalisierung voraus, haben aber durch die fachliche Anerkennung und die außeruniversitäre Resonanz einen neuen Stellenwert bekommen. Dabei waren viele kontrovers disku- tierte Themen, etwa zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs oder der Sterbehilfe, von einem medialen Interesse begleitet, das dazu geführt hat, der medizinischen Ethik einen Platz in verschiedenen Medienformaten zu geben. Diese starke Präsenz von Krankheit, ärztlichem Handeln, Klinikbe- trieb und medizinischer Forschung in Dokumentar- und Spielfilmen erlaubt Rückfragen an den Einfluss dieser Repräsentationen auf den Stil der Ethik.

Der Beitrag skizziert die Affinitäten zwischen fiktional verhandelten Ent- scheidungskonflikten und den Verfahren der ethischen Analysen, benennt aber auch die Grenzen einer Arbeit mit Filmen, sofern dadurch die erforder- liche argumentative Präzision nicht erreicht wird.

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10 | Vorwort

Im Beitrag von Solveig Lena Hansen wird ein Vorschlag zur Methode unterbreitet, Fiktionen aus literarischen Texten und aus Filmen in die ethi- sche Urteilsbildung einzubeziehen. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit Ansätzen narrativer Ethik und analytischer Literaturwissenschaft, die in den Standardmodellen medizinischer Ethik kaum Beachtung finden. Die Autorin kann am Beispiel von Dystopien zeigen, wie sich das Urteilsver- mögen erweitern lässt, indem moralische Überzeugungen neu verhandelt werden und in neuen Konstellationen möglichst kohärenter Überlegun- gen ihren Platz finden. Der Rückgriff auf Dystopien eignet sich dazu in besonderer Weise, da Fiktionen von als problematisch angesehenen Inno- vationen mit dem schon sprichwörtlich gewordenen und oft unreflektiert gebrauchten Hinweis auf Huxleys Schöne neue Welt als normative Heraus- forderungen wahrgenommen werden.

Mit der Bedeutung von Dokumentarfilmen beschäftigen sich Solveig Lena Hansen, Angelika Thielsch und Sabine Wöhlke, die bereits in ihrer gemeinsamen Arbeit in Göttingen wichtige hochschuldidaktische Beiträge konzipiert haben und diese nun auch an den Standorten Bremen und Ham- burg vertiefen. Sie zeigen in grundsätzlichen Überlegungen und am Bei- spiel des Dokumentarfilms Dick und nun?, wie dieses Genre zur Sensi- bilisierung gegen Diskriminierung und Stigmatisierung und zur ethischen Urteilsbildung beitragen kann. Es sind eben nicht immer nur die dramati- schen Entscheidungskonflikte um Leben und Tod, die medizinethische Auf- merksamkeit verdienen. Adipositas ist ein im gesellschaftlichen Diskurs marginalisiertes Thema, obwohl die Zahl der Betroffenen sehr groß und damit die Bedeutung für Medizin und Gesundheitswissenschaften offen- kundig ist. Dokumentarfilme sind realitätsnah und nicht-fiktional, aber oft mit hohem Anspruch an die Ästhetik der Inszenierung und an die ethi- sche Reflexion gestaltet. Der Beitrag zeigt, wie dieses Potenzial didaktisch genutzt werden kann, indem individuelles Erleben und soziale Kontexte, Eigen- und Fremdwahrnehmung des Körpers sowie kognitive und affektive Aspekte in Beziehung gesetzt werden und speziell in Lehrkonzepten wie der «umgekehrten Lehre» (flipped classrooms) mit intensiven Selbstlern- phasen mit Gewinn zu nutzen sind.

Bei der Vorbereitung der Tagungen und des Buchprojekts stand rela- tiv früh fest, dass wir uns nicht allein auf Kinofilme renommierter Regisseur:innen konzentrieren wollten. Die Bilder und Geschichten von medizinischen Entscheidungskonflikten und klinischen Alltagssituationen sind einem größeren Publikum mindestens ebenso intensiv durch Serien im Bewusstsein, die von Fernsehsendern und Streamingdiensten angebo- ten werden. Sabine Gottgetreu rekonstruiert als Filmwissenschaftlerin mit ethischer Sensibilität die sich wandelnden Strukturmuster im Genre

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Vorwort | 11 des medical drama, das über erfolgreiche US-amerikanische Serien und deren internationalen Vertrieb mittlerweile auch in Europa einen hohen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad hat. Die meisten der dort anzutreffen- den Serienheld:innen zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Ambiva- lenz aus und unterscheiden sich dadurch von den idealisierten Figuren des medizinischen Personals in älteren Serienformaten.

Filme und Serien zu klinischen Themen könnten kaum überzeugen, falls sie nur auf den amateurhaften Recherchen von Personen beruhten, die mit den gefilmten Abläufen nicht wirklich vertraut sind. Da die Tagungen der Forschungsgruppe regelmäßig den Kontakt zu Fachleuten aus der Praxis anstreben, konnte in diesem Fall ein Experte gewonnen werden, der als ärztlicher Fachberater an Filmen und Serien mitwirkt. Pablo Hagemeyer gibt in seinem engagierten und unterhaltsamen Beitrag einen Einblick in diese Tätigkeit hinter den Kulissen der Produktion. Auch wenn niemand erwartet, dass im Film medizinische Tätigkeiten einfach nur so realitäts- nah wie möglich abgebildet werden, ist die Frage der Glaubwürdigkeit ein wesentlicher Aspekt der Wirkung eines Genres, das viele Zuschauer:innen in den Bann zieht.

Die Auswahl der Filme, die im zweiten Teil des Buches ausführlicher analysiert werden, hat einen unvermeidlich subjektiven Charakter. Wir wollten weder enzyklopädische Vollständigkeit anstreben noch Wertur- teile aussprechen, mit denen einem kleinen Ausschnitt aus dem Filmschaf- fen eine besondere Dignität verliehen würde. Die Beiträge dokumentieren in erster Linie einen Reflexionsprozess, der schon zu intensiven Filmgesprä- chen und zur Lust am Schreiben angeregt hat.

Reinhold Zwick widmet sich Anna Zohra Berracheds Film 24 Wochen aus dem Jahr 2016. Er war als Eröffnungsfilm für die Tagung in Schwerte 2019 ausgewählt worden, weil er in besonders eindrücklicher Weise vermeintli- che moralische Gewissheiten hinsichtlich des vorgeburtlichen Lebens auf die Probe stellt. Ein Elternpaar, das bereits ein gesundes Kind hat, wird während einer weiteren, schon recht weit fortgeschrittenen Schwanger- schaft durch die Nutzung diagnostischer Verfahren darauf hingewiesen, dass der Fötus die Chromosomenanomalie Trisomie 21 hat. In einer extrem realitätsnah gestalteten Mischung von Fiktion und Dokumentation wird der Entscheidungskonflikt dargestellt, der die Spannung zwischen dem Leben des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren aus- lotet. Die filmische Gestaltung dieses moralischen Dilemmas wird im Ver- gleich zu anderen Filmen analysiert, die sich ebenfalls mit diesem schwie- rigen Thema beschäftigen.

Mit ihrer Besprechung von Blue My Mind, einem Schweizer Film der Regisseurin Lisa Brühlmann von 2017, steuert Daria Pezzoli-Oligiati eine

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12 | Vorwort

originelle Facette zu den üblicherweise in der medizinische Ethik verhan- delten Themen bei. Im Film geht es um das Erwachsenwerden der Teenage- rin Mia, deren Entwicklung in einem Zürcher Umfeld in dokumentarischen und phantastischen Erzählsträngen dargestellt wird. Mia erlebt dramati- sche Veränderungen am eigenen Körper, protestiert gegen die Konventio- nen der Erwachsenenwelt und erprobt Grenzen in risikoreichen und krimi- nellen Verhaltensweisen. Die Transformationen außerhalb aller bekannten Normen konzentrieren sich auf den Körper, der mehr und mehr die Gestalt einer Meerjungfrau annimmt, die mit Hilfe von Mias Freundin Gianna die Freiheit in der Weite des Ozeans findet. Die Ärztin, der sich Mia anvertraut hatte, war durch die in diesem Fall ungewöhnliche Krise der Adoleszenz überfordert. Brühlmanns Film eröffnet Perspektiven für ein erweitertes Verständnis medizinischer Ethik, die über die vertrauten Lehrbuchbeispiele hinausgehen muss, wenn sie Menschen in allen Lebensphasen in ihrer Kör- perlichkeit und ihrer Psyche verstehen will.

Im Beitrag von Walter Lesch geht es um Kindeswohl, einen Film des britischen Regisseurs Richard Eyre von 2017 auf der Grundlage des gleich- namigen Romans von Ian McEwan. Die literarische Vorlage und der Film erzählen aus dem Alltag einer renommierten Londoner Familienrichterin, die gelegentlich bei Streitfragen der medizinischen Verantwortung inter- venieren muss. Konkret geht es um den Fall eines noch nicht volljährigen Jungen, der wie seine Eltern Mitglied der Zeugen Jehovas ist und aus reli- giösen Gründen eine zur Behandlung der Leukämie lebensrettende Blut- transfusion ablehnt. Die Richterin versucht sich über die professionellen Üblichkeiten hinaus ein Bild von der Situation zu machen und die Moti- vation des Patienten zu verstehen. Nach geltendem Recht überwiegt bei der Abwägung der Interessen das «Kindeswohl» der noch nicht mündigen Person, also die Option für eine Transfusion auch gegen den Willen des jungen Menschen. Der Film macht die Komplexität von Entscheidungen sichtbar, die sich nicht einfach aus Rechtsnormen ableiten lassen. Er zeigt eine beruflich erfolgreiche und gesellschaftlich anerkannte Verantwor- tungsträgerin in einer persönlichen Lebenskrise, in der sich die Urteilsfä- higkeit auf verschiedenen Ebenen bewähren muss. Außerdem kommt eine religiöse Dimension ins Spiel, die mit den sich als rational verstehenden Kriterien von Medizinrecht und Medizinethik nicht problemlos zu vermit- teln ist.

Markus Leniger wirft in seinem Text einen Blick auf Halt auf freier Strecke. Der Film von Andreas Dresen aus dem Jahr 2011 erzählt in doku- mentarisch anmutenden Bildern von einer Familie, die sich mit der Diag- nose eines unheilbaren Gehirntumors konfrontiert sieht. Der Film ist im Kontext des Sterbefilm-Genres ein Solitär, da die dort überwiegend ver-

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Vorwort | 13 handelte Frage des assistierten Suizids in ihm keine Rolle spielt. Die Familie begleitet den Sterbeprozess des Vaters, unterstützt u. a. von einer enga- gierten Home Care Ärztin, bis zum Schluss in der häuslichen Umgebung.

Dabei vermeidet die Drastik in der Darstellung der physischen und psychi- schen Belastung der Beteiligten jede billige Romantisierung des Sterbens zu Hause, zeigt aber auch, dass darin eine Chance für die Wahrnehmung des Sterbens als Teil des Lebens liegt. Ausgangspunkt der Filmanalyse ist die Frage, ob der Film als eine Aktualisierung der spätmittelalterlichen ars- moriendi-Literatur gelesen werden kann.

Der Betrag von Franz Günther Weyrich analysiert Die Lebenden repa- rieren, eine französisch-belgische Produktion von 2016 unter der Regie von Katell Quillévéré nach dem gleichnamigen Roman von Maylis de Ker- engal. Hier geht es um den Unfalltod des 17 Jahre alten Simon und die Freigabe gesunder Organe für mögliche Organtransplantationen. Der Film schildert die moralischen Konflikte im Umfeld des künftigen Spenders, die medizinischen, technischen und administrativen Abläufe und das Umfeld von Claire, der künftigen Empfängerin. Indem das Filmpublikum Einbli- cke in beide Welten erhält – in die Welt des Unfallopfers und in die Welt der auf eine Organspende angewiesenen Person –, entsteht ein Gespür für die Komplexität der Erfahrungen mit Trauer, Abschied, Respekt vor dem Toten und mit der Aussicht auf einen Beitrag zu neuen Lebenschancen durch hochentwickelte medizinische Fertigkeiten und eine exakt geplante Logistik. Der Film erzählt diese dramatischen Abläufe ohne Pathos und mit Empathie für die betroffenen Personen in den familiären, freundschaftli- chen und beruflichen Kontexten.

Markus Zimmermann beschäftigt sich als theologischer Ethiker mit Gott, einem 2020 ausgestrahlten Fernsehfilm unter der Regie von Lars Kraume nach dem Theaterstück von Ferdinand von Schirach. Die Insze- nierung präsentiert sich als eine öffentliche Sitzung des Deutschen Ethik- rats, der sich mit dem Wunsch eines 78-jährigen Mannes befassen muss, seinem Leben trotz Gesundheit ein Ende bereiten zu wollen. Seine Haus- ärztin möchte ihm das todbringende Präparat nicht beschaffen, sodass die Berechtigung seines Anliegens einer weiteren Prüfung unterzogen wird. So werden die Expert:innen des interdisziplinär zusammengesetzten Gremi- ums befragt, die ihre medizinischen, psychologischen, ethischen, juristi- schen und theologischen Sichtweisen einbringen, um über die Problematik von Suizid, Beihilfe zum Suizid, ärztliche Tötung auf Verlangen und andere Aspekte des frei gewählten Lebensendes zu urteilen. Die mediale Kon- struktion der Fernsehausstrahlung einer ethischen Beratung unterstreicht in besonderer Weise die Präsenz öffentlicher Interessen in einer letzten Endes höchstpersönlichen Entscheidungslage.

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14 | Vorwort

Walter Lesch interpretiert den belgischen Film The Broken Circle Breakdown, ein Werk des Regisseurs Felix Van Groeningen von 2012.

Hier wird ein Paar mit der schrecklichen Diagnose der lebensgefährlichen Erkrankung eines Kindes konfrontiert. Obwohl alle vorhandenen Therapie- möglichkeiten ausgeschöpft werden, ist der Kampf gegen die Leukämie zum Scheitern verurteilt. Die beiden Protagonisten gehen sehr verschie- den mit dieser Sinnkrise um, obwohl sie mit der Begeisterung für die ame- rikanische Bluegrass-Musik eine Welt teilen, deren Vorstellungen auf der Textebene stark von christlicher Hoffnung durchdrungen sind. Während der Mann mit dem religiösen Fundamentalismus hadert, der sich der For- schung an Embryonen und der Gewinnung von Stammzellen in den Weg stellt, unternimmt die Frau in ihrer Verzweiflung einen Suizidversuch, der irreparable Hirnschäden hinterlässt, angesichts derer die Abschaltung der Geräte empfohlen wird, mit denen sie künstlich am Leben gehalten wurde.

Die im zweiten Teil behandelten Filme beziehen sich weitgehend auf lebensweltlich identifizierbare Situationen des persönlichen Erlebens und des medizinischen Systems in seinen heutigen Strukturen und auf einen Ver- stehenshorizont, der auf humanistischen Grundannahmen beruht. Gerade wenn Medizin wegen ihrer unmenschlichen Seiten kritisiert wird, artiku- liert sich dahinter das starke Verlangen nach einer Praxis des Umgangs mit dem Leben und Sterben, in der die Wahrung eines authentischen Mensch- seins oberste Priorität hat. Genau diese Annahme ist fraglich geworden, wenn humane Zielsetzungen mit der Dialektik des Fortschritts umgehen müssen. Mit diagnostischer Präzision werden therapeutische Versprechen formuliert, die nach dem derzeitigen Stand medizintechnischer Eingriffe nicht einlösbar sind. Somit eröffnet die verbesserte Diagnostik nicht nur berechtigte Aussichten auf Heilung; sie verschärft auch den Kontrast zwi- schen größeren Hoffnungen und der Notwendigkeit, sich dem Schicksal der Endlichkeit und der Ohnmacht zu fügen. Das humanistische Paradigma der Neuzeit ist von Fiktionen einer ganz anderen Zukunft herausgefordert worden, die auf die technische Beherrschbarkeit und Transformierbarkeit der biologischen Fakten setzt. Im Verbund von Gentechnologie, Repro- duktionsmedizin und künstlicher Intelligenz entstehen neue Visionen des Menschen jenseits der herkömmlichen Merkmale dessen, was Menschsein in seiner Endlichkeit und Verletzlichkeit ausmacht.

Zur Einführung in den dritten Teil präsentiert Christof Mandry einen kritischen Überblick über die wissenschaftlichen, philosophischen und kul- turellen Entwicklungen, die als post- oder transhumanistisch bezeichnet werden. Nach einer begrifflichen Differenzierung zwischen unterschiedli- chen Ansprüchen auf eine Überwindung klassischer humanistischer Ideale stehen zentrale Grundsätze zur Diskussion, in denen es um die Optimie-

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Vorwort | 15 rung menschlicher Fähigkeiten durch die Nutzung aller bereits verfügba- ren und noch zu entwickelnden Instrumente geht. Neben der Frage nach der technischen Machbarkeit stellt sich vor allem die ethische und gesell- schaftskritische Frage nach der Wünschbarkeit solcher Szenarien, die nicht für alle Menschen in gleicher Weise verfügsein sein werden. Die Hoffnun- gen des Transhumanismus finden eine Zuspitzung in der Vision eines Siegs über das Alter und Konservierbarkeit «ewiger Jugend».

Karsten Schmid verhandelt neue Definitionen des Menschseins im Sci- ence-Fiction-Genre am Beispiel von Ridley Scotts Kultfilm Blade Runner von 1982, in dem die ferne Zukunft in der Stadt Los Angeles von 2019 ange- siedelt war. In der reichen Wirkungsgeschichte des Films ragt die Fortset- zung Blade Runner 2049 unter der Regie von Denis Villeneuve aus dem Jahr 2017 heraus. Dort wird die düstere Atmosphäre des Vorgängerwerks fort- geschrieben und um neue Erzählungen erweitert. Karsten Schmid macht diese dicht verwobenen Geschichten durch akribische Analysen nachvoll- ziehbar und liefert damit wertvolle Grundlagen für die ethische Diskussion.

Um die Frage des Menschseins kreist auch der den Reigen der Beiträge abschließende Text von Christian Wessely und Alexander Ornella. Er wid- met sich den großen Themen des Verhältnisses von Körper und Geist, von Determination und Freiheit, von Künstlichkeit und Natürlichkeit, von Tod und Unsterblichkeit mit philosophiegeschichtlicher Kompetenz, kulturel- ler Aufmerksamkeit – vor allem am Beispiel der Netflix-Serie Altered Car- bon – und tut dies mit wachem Gespür für die Machtinteressen, die hin- ter bestimmten Diskursstrategien stehen. An der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz führt kein Weg vorbei, zumal gerade auch die Popu- lärkultur über beachtliche Ressourcen verfügt, um die Ideologien hinter transhumanistischen Zukunftsszenarien zu entlarven. Aktuelle bioethi- sche Debatten über die Zuordnung von Geist und Materie werden in Fil- men Anschauungsmaterial finden, das für Lehre und Forschung in diesem Bereich relevant ist. Klassische ideengeschichtliche Konstellationen, die etwa in den Gnostizismus eingeflossen sind, lassen sich damit mit neuen Impulsen und in kritischem Licht diskutieren. Vor allem vermag der Beitrag zu zeigen, dass es sich lohnt, über den Tellerrand der genuin ethischen Pro- bleme hinauszuschauen, da viele der dort besprochenen Normierungsfra- gen auf grundlegendere anthropologische und metaphysische Ungewiss- heiten hinweisen, die bei Antwortversuchen auf Fragen von Leben und Tod zu berücksichtigen sind.

Die in diesem Buch versammelten Texte fügen sich nicht zu einem geschlossenen Weltbild oder zu einem neuen Paradigma medizinischer Ethik zusammen. Es ist vielmehr der Wunsch der Herausgeber, ein Arbeits- buch zur Verfügung zu stellen, mit dem die Kommunikation über Fragen

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16 | Vorwort

von Leben und Tod Anregungen durch ungewohnte Perspektiven erhält.

Wir wenden uns an Leser:innen aus Filmwissenschaft, Philosophie, Theo- logie, Religionswissenschaft, Medizinethik, Medizin und Pflege sowie an andere Interessierte, die sich beruflich oder persönlich von den Themen angesprochen fühlen.

Den Autor:innen danken wir für die Bereitschaft, in einigen Fällen Vor- tragsmanuskripte für die Veröffentlichung zu bearbeiten, in anderen Fäl- len ganz neue Texte zu entwerfen. Die gedankliche Arbeit konnte Gestalt annehmen durch die Akademien in Frankfurt und Schwerte und durch die gute Kooperation mit dem Schüren Verlag in Marburg, bei dem sich die For- schungsgruppe kulturell und intellektuell in sehr guter Gesellschaft weiß.

Louvain-la-Neuve und Schwerte, im Juli 2021 Walter Lesch und Markus Leniger

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Interdisziplinäre Grundlagen

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Biomedizinische Ethik im Film | 19

Walter Lesch

Biomedizinische Ethik im Film

Konturen eines Programm für Praxis und Forschung

Die Ethik in der Medizin gehört zu den am besten etablierten Feldern bereichsspezifischer Ethik und hat einen maßgeblichen Anteil an der wis- senschaftlichen und gesellschaftlichen Sichtbarkeit der Beschäftigung mit schwierigen Fragen von Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Trotz einer hochgradigen Spezialisierung ist diese Thematik nicht den philoso- phisch geschulten Fachleuten vorbehalten, da jeder Mensch sich früher oder später mit entsprechenden Entscheidungen auseinandersetzen muss.

Insofern ist die Ethik in der Medizin Teil einer demokratischen Debattenkul- tur, in der unterschiedliche Auffassungen von Verantwortung angesichts von Krankheit und Tod aufeinandertreffen, die von existenziellem Ernst, professioneller Dringlichkeit und von politischer Relevanz sind. Zu derarti- gen Diskussionen möchten die Beiträge des vorliegenden Buches Impulse liefern, indem sie ausgewählte Schwerpunkte zur Sprache bringen, die im Medium des Films präsent sind.

Keine Filmanalyse kann eine ethische Argumentation ersetzen. Den- noch ist die Beschäftigung mit Filmen mehr als eine unterhaltsame Frei- zeitaktivität, obwohl sie natürlich auch das ist und bleiben soll, wenn sich Angenehmes mit Nützlichem verbinden lässt. Es hat gute Gründe, dass viele in der Medizinethik behandelte Themen sich in Kino- und Fernsehfil- men spiegeln. Dafür gibt es eine entsprechende Nachfrage und eine hohe Motivation seitens derer, die solche Filme produzieren, wobei künstleri- sche Ansprüche und kommerzielle Erwägungen einander nicht prinzipiell ausschließen. Das Spektrum der möglichen Zugänge ist sehr breit, sodass hier bestenfalls eine kleine Auswahl berücksichtigt werden kann. Jeder Anspruch auf Vollständigkeit wäre vermessen und durch eine sich rasant entwickelnde Medienlandschaft auch immer schnell überholt. Es handelt sich daher um eine Momentaufnahme, die mit exemplarischen Studien zum weiteren Arbeiten und Experimentieren anregen möchte.

Der einleitende Text verfolgt das Ziel, das Themenfeld zu strukturieren und Kriterien anzugeben, die bei der Auswahl von Filmen leitend waren.

Dies wird verbunden mit der Einordnung in einen wissenschaftlichen Kon-

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text, in dem Ethik als akademische Disziplin heute betrieben wird und in dem auch bereits intensive Begegnungen mit der Filmkunst1 zu dokumen- tieren sind, nachdem dort schon seit längerer Zeit eine Sensibilität für Lite- ratur2 und bildende Kunst existiert. In gewisser Weise geht es darum, die Beschäftigung mit Filmen als gleichberechtigte Erkenntnisquelle plausibel zu machen. Da dies hier unter dem spezifischen Gesichtspunkt der Ethik geschehen soll – es wäre beispielsweise auch aus medizinhistorischen oder kulturwissenschaftlichen Gründen von Interesse –, ist zunächst zu klären, von welchem Ethikverständnis hier die Rede sein soll.

Von der Medizinethik zur Bioethik:

Alte und neue Fragestellungen

Medizin war als Heilkunst und wissenschaftliche Erforschung des mensch- lichen Körpers immer schon mit hohen berufsethischen Standards ver- knüpft. Wer mit der Absicht der Heilung oder der Lebensverlängerung Eingriffe in menschliches Leben vornimmt – sei es durch Medikamente, chirurgische Interventionen oder Beratung – , tut dies auf der Grundlage einer Kompetenz, die Einsichten und Handlungsmöglichkeiten eröffnet, über die Patient:innen mangels einer entsprechenden Ausbildung nicht ver- fügen. Im ärztlichen Handeln kommt eine fachlich bedingte Überlegenheit zum Ausdruck, die mit Selbstkritik und Verantwortungsbewusstsein ver- bunden sein sollte, um Machtmissbrauch und Arroganz vorzubeugen. Das Klischee einer unantastbaren Aura von Fachleuten, die lebenswichtige Ent- scheidungen zum Wohl der sich ihnen anvertrauenden Menschen treffen, gehört der Vergangenheit an und ist durch zahlreiche Krisen und kritische Anfragen erschüttert worden. Der traditionelle Paternalismus ärztlicher Berufsausübung hat durch die Aufwertung der Patient:innenautonomie ein starkes Gegengewicht erhalten. Allerdings löst die Fokussierung auf die Selbstbestimmung mündiger Kranker die meisten Probleme nicht, sondern verlagert sie vor allem auf eine komplexere Ebene, auf der unterschiedliche Geltungsansprüche aufeinandertreffen.

Das berufsständische Ethos von verantwortungsvoll handelnden Ärz- tinnen und Ärzten ist eine nach wie vor zu kultivierende Dimension medi-

1 Vgl. Schmidt/Maio/Wulf 2008. Dieser Band geht auf die Arbeit der Evangelischen Akademie Arnoldshain zurück und steht für einem interdisziplinären Themen- schwerpunkt, der heute von der Evangelischen Akademie Frankfurt fortgesetzt wird.

2 Vgl. die Textsammlung in Kern-Stähler/Schöne-Seifert/Thiemann 2013.

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Biomedizinische Ethik im Film | 21 zinischer Ethik, die niemals auf das Problembewusstsein der Hauptak- teure verzichten können wird. Dazu gehört aber auch deren Einbettung in einen Kontext, der zahlreiche Ausdifferenzierungen erfahren hat. Ärzt- liches Handeln geschieht unter den systemischen Bedingungen immer anspruchsvollerer Ausbildungsprofile, neuer wissenschaftlicher Erkennt- nisse, begrenzter Ressourcen des Gesundheitswesens, in der Teamarbeit mit Pflege und Verwaltung und vor allem in der Begegnung mit informier- ter und kritischer gewordenen Kranken. All diese Einflussfaktoren ändern nichts an der Tatsache, dass die persönliche Betroffenheit durch Krankheit und Tod seitens der professionell Handelnden ein Taktgefühl erfordert, das weit über die gewissenhafte Anwendung medizinischer Erkenntnisse und verwaltungstechnischer Notwendigkeiten hinausgeht. Letztlich sind neben aller fachlichen Kompetenz charakterliche Qualitäten gefragt, die es allen Betroffenen ermöglichen, das Aufeinanderprallen von persönli- cher Hilfsbedürftigkeit und institutionellem Räderwerk abzufedern und in eine Sphäre der Zuwendung und des Respekts zu verwandeln. So entste- hen mehr oder weniger idealisierte Modelle einer ärztlichen und pflegeri- schen Praxis, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist und eine ethisch reflektierte Grundhaltung gewissermaßen als Bestandteil dieses Berufsfel- des voraussetzt.3

Die ausdrückliche Sensibilisierung für die ethische Dimension des medizinischen Alltags ist immer dann notwendig, wenn Selbstverständ- lichkeiten fraglich werden. Dies hat nicht unbedingt damit zu tun, dass überlieferte Normen erodieren. Es kann sogar im Gegenteil damit zusam- menhängen, dass ein geschärftes Bewusstsein für neue Herausforde- rungen entwickelt wird, denen nicht mit konventionellen Antworten zu begegnen ist. Nicht nur der klinische Betrieb und die Möglichkeiten haus- ärztlicher Praxis haben sich grundlegend geändert. Neu sind vor allem die technischen und diagnostischen Potenziale der Medizin, deren naturwis- senschaftliche Grundlagen durch die Genetik und die Neurowissenschaf- ten revolutioniert wurden. Der Code des Lebens ist «lesbarer» als je zuvor und schafft die Voraussetzungen für genauere Analysen und Eingriffe. Die damit verbundenen Hoffnungen auf die Heilung von Krankheiten und auf die Verbesserung der körperlichen Konstitution stehen aber immer noch im Kontrast zu den Erfahrungen von Verletzlichkeit, Endlichkeit und nur begrenzt durchführbarer Therapierbarkeit. Trotz besserer medizinischer

3 Vgl. dazu stellvertretend das Lehrbuch von Maio 2017. Vgl. auch die Beiträge in Schulz/Steigleder/Fangerau/Paul 2006, die einen Überblick über das Themenfeld geben. Die Lehr- und Prüfungsanforderungen im Querschnittbereich «Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin» (GTE) sind in Deutschland seit der ärztlichen Appro- bationsordnung von 2002 gesetzlich verankert.

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Versorgung und gestiegener Lebenserwartung sind die Einschränkun- gen und Gefährdungen durch unheilbare Krankheiten nicht aus der Welt geschafft.

Obwohl die mit Krankheit und Tod verbundenen existenziellen Kri- sen sich im Erleben der Betroffenen über die Jahrzehnte nicht wesentlich geändert haben, ist der wissenschaftlich, technisch und gesellschaftlich geprägte Kontext der Medizin so vielschichtig geworden, dass die traditio- nelle Vorstellung von moralisch integer handelnden Ärztinnen und Ärzten nur noch einen Teil der zu beantwortenden Fragen abbildet. Das Ethos der Medizin hat sich zu einer Vielfalt von ethischen Perspektiven in der Medizin weiterentwickelt und steht außerdem in dem noch größeren Rahmen der interdisziplinär vernetzten Biowissenschaften, deren normative Aspekte unter dem sehr weiten Begriff der Bioethik zusammengefasst werden.

Bioethische Fragestellungen überschreiten die Grenzen der klassischen Humanmedizin, sind aber für deren Werthaltungen und normative Stan- dards relevant, da sich Wandlungen im wissenschaftlich geprägten Men- schenbild auf die Reichweite medizinischer Interventionen auswirken.4

Um der Komplexität dieser neuen Fragen angemessen und transparent zu begegnen, hat es in den vergangenen Jahrzehnten einen beachtlichen Institutionalisierungsschub für die permanente Auseinandersetzung mit ethischen Fragen gegeben.5 Ethikkomitees, Kommissionen auf lokaler und nationaler Ebene sowie Ethikmodule in den Studiengängen und Fortbil- dungsprogrammen geben darüber Aufschluss. Die in diesen Gremien und Strukturen entwickelte Beratungskompetenz soll einer Verbesserung der Entscheidungsfindung dienen und vor den negativen Folgen unzureichend überlegter Weichenstellungen bewahren. Die Ethik als philosophische Dis- ziplin steht nicht allein mit ihren Beiträgen zur Erweiterung des medizi- nischen Wahrnehmungsspektrums. Interdisziplinäre Gesundheitswissen- schaften mit immer schon starken sozialwissenschaftlichen Ansätzen werden heute auch durch Kultur- und Geisteswissenschaften erweitert, die als Medical Humanities einen kulturell geschulten Blick auf die medizi- nische Praxis ermöglichen.6

4 Eine prägnante Einführung in dieses weite Konzept von Bioethik bietet Dickenson 2012. Im Anhang gibt es unter den 100 anregenden Ideen zur weiteren Beschäfti- gung auch zehn literarische Empfehlungen und zehn Filmempfehlungen.

5 Der «Klassiker» von Beauchamp/Childress 2019 gibt über die Akzentverschiebun- gen eines international rezipierten Systematisierungsversuchs Aufschluss. Die Aktualisierungen von der Erstausgabe von 1979 bis zur achten Auflage decken einen Zeitraum von vier Jahrzehnten ab.

6 Vgl. Evans/Finley 2001; Bates/Bleakley/Goodman 2014; Cole/Carlin/Carson 2015; Bleak - ley 2020.

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Biomedizinische Ethik im Film | 23 Aus der Binnenansicht einer sich ihrer Geschichte und Reputation gewis- sen Medizin muss diese Transformation bisweilen wie ein Angriff auf die fachliche Selbstverantwortung wahrgenommen werden, da immer neue Analysen und Expertisen einfordert werden, die den Eindruck wecken, dass der Autonomie wissenschaftsbasierter und allein dem ärztlichen Ethos ver- pflichteter Medizin zu misstrauen ist. In der Tat haben Verfehlungen und enttäuschte Erwartungen angesichts der möglichen Perversionen medi- zinischer Handlungsmacht im 20. Jahrhundert die Entstehung eines ethi- schen Korrektivs beschleunigt. Zu erinnern ist vor allem an die Indienst- nahme der Medizin durch totalitäre und menschenverachtende Regime, in deren Einflussbereich es zu Menschenversuchen, Tötungen von Menschen mit Behinderung, Missbrauch in psychiatrischen Einrichtungen und vielen anderen Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Derartige Verbre- chen sind auch nach 1945 nicht dauerhaft unterbunden worden. Mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der späten 1950er- und 1960er- Jahre kamen rassistische Diskriminierungen auch im Gesundheitswesen in den Blick. Andere gesellschaftliche Initiativen, nicht zuletzt die feminis- tische Bewegung, verstärkten den Druck auf eine unreflektiert tradierte Moral, die viele blinde Flecken und Gerechtigkeitslücken hatte. In diesem Zusammenhang etablierte sich auch die Bioethik als eine säkulare Disziplin des kritischen Nachdenkens über Natur und Gesellschaft, Forschungsprio- ritäten und Kriterien des Experimentierens, Selbstbestimmung und koope- rative Entscheidungsfindung.7

Der Enthusiasmus im Umgang mit biomedizinischer Ethik hatte seit den 1970er-Jahren einen erheblichen Anteil an einem neuen Interesse an philo- sophischer und theologischer Ethik, die aus dem geschützten Bereich uni- versitärer Lehre und Forschung den Sprung in öffentliche Debatten und in Strukturen medizinischer Forschung und Praxis schafften.8 Ethik in der Medizin wurde somit zum Politikum: zu einer einflussreichen Instanz mit

7 Zum säkularen Charakter der Medizin sei angemerkt, dass das Angebot einer qua- lifizierten Klinikseelsorge Teil der meisten medizinischen Einrichtungen ist. Jün- geren Datums ist die Präsenz von Spiritual Care, besonders in der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden im palliativmedizinischen Bereich. Die Beschäfti- gung mit religiöser und spiritueller Vielfalt hat Auswirkungen auf das Selbstver- ständnis medizinischer Ethik, die ihr Verständnis von weltanschaulicher Neutrali- tät neu reflektieren muss.

8 Was das bisweilen schwierige Verhältnis zwischen philosophischer und theo- logischer Ethik betrifft, sei hier nur daran erinnert, dass innerhalb der Theolo- gie die Beschäftigung mit medizinethischen Fragen eine lange Tradition hat. Dies geschieht in der Regel mit wissenschaftstheoretischen Standards, die mit denen in der Philosophie identisch sind. Dennoch wird manchmal nachgefragt, ob nicht bestimmte inhaltliche und methodische Festlegungen von kirchlichen Positionen

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wissenschaftlichem Ansehen und praktischem Nutzen im Sinn einer Orien- tierung, die den gesellschaftlichen Fortschritt kritisch reflektierend beglei- ten sollte. Der anfänglichen Euphorie folgte freilich auch eine gewisse Ernüchterung durch die Konkurrenz um Zuständigkeiten und die begrenz- ten Zeitfenster in der Lehre.

Ein akademisches Feld mit hoher medialer Präsenz

Während die historisch gewachsenen Strukturen und Lebenswelten der Medizin immer schon Gegenstand der kulturellen Wahrnehmung und der künstlerischen Darstellung waren, rückte mit der Aufmerksamkeit für neue ethische Fragen auch die Bioethik bzw. die Ethik in der Medizin ins Blickfeld der Öffentlichkeit, die zur Kenntnis nehmen konnte, dass sich die ethischen Zugänge nicht als einheitliche Doktrin präsentierten sondern als Ausdruck eines weltanschaulichen Pluralismus, der sich in der Kon- flikthaftigkeit bioethischer Debatten abbildete. Es wäre naiv, die Ethik als Lieferantin von unumstrittenem Orientierungswissen und von eindeutigen Problemlösungen zu betrachten. Auch wenn ethische Reflexion am Ende eines langen Prozesses zu Orientierung und Konfliktlösung beitragen will, stößt sie zunächst einmal Diskussionen an, die sich daraus ergeben, dass vernünftige Menschen in schwierigen Fragen durchaus unterschiedlicher Meinung sein können. Während die einen gentechnische Eingriffe prinzi- piell als problematisch bewerten, sehen die anderen die Notwendigkeit einer differenzierten Bewertung, die von Abwägungen abhängen sollte.

Während Sterbehilfe von den einem im Namen von Selbstbestimmung und Menschenwürde als ernsthafte Option erwogen wird, plädieren die ande- ren ebenfalls unter Berufung auf die nicht zu verletzende Würde für eine Wertschätzung des menschlichen Lebens bis zu seinem Ende und lehnen eine Verkürzung des letzten Abschnitts ab.9 Ein Beispiel für das Aufeinan- derprallen der Positionen ist in Clint Eastwoods Million Dollar Baby ein- drucksvoll zu sehen (Abb. 1). Die Liste der kontrovers diskutierten Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Wer auch immer sich an solchen Debatten beteiligt, wird früher oder später eine persönliche Positionierung zu erken- nen geben und sich damit dem Verdacht aussetzen, einer eigenen ideologi- schen Agenda zu folgen.

abhängen. Wäre die Moraltheologie aber nur ein Sprachrohr lehramtlicher Verkün- digung, hätte sie ihren universitären Auftrag verfehlt.

9 Zur medialen Konstruktion von Bioethik am Beispiel der Sterbehilfe: Maio 2000. Zu den Narrativen der Reproduktionsmedizin im Dokumentarfilm: Eichinger 2015.

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Biomedizinische Ethik im Film | 25 Die Bioethik, die mit dem Anspruch auf Aufklärung und rationale Bera- tung angetreten ist, sieht sich gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert, eine ideologische Legitimationsbeschafferin zu sein: für oder gegen die Anwendungen der modernen Gentechnik, für oder gegen Schwangerschafts- abbruch, für oder gegen Sterbehilfe. Es ist richtig, dass die Ethiker:innen, die in den genannten Themenbereichen argumentieren, nicht völlig neu tral sind. In Ethikkommissionen lässt sich dieses Konfliktpotenzial durch eine möglichst pluralistische Zusammensetzung auffangen, die aber wiederrum zu der Frage Anlass gibt, ob die Mitglieder allein ihrem Gewissen verpflichtet sind (das sollte natürlich idealerweise so sein) oder ob sie jeweils ethische

«Schulen» und Denkströmungen vertreten. Wer utilitaristisch argumen- tiert, wird zu anderen Einschätzungen kommen als ein Kommissionsmit- glied, das von einer absoluten Verpflichtung beispielsweise zugunsten des ungeboren Lebens ausgeht.

Wer in der Bioethik mit provokativen Thesen unterwegs ist, darf einer starken Resonanz in den Medien sicher sein. Das gilt vor allem dann, wenn die Thesen zu skandalträchtigen Kontroversen führen. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall des international viel beachteten Ethikers Peter Singer, der mit sei- ner präferenzutilitaristischen Argumentation in den 1980er-Jahren für Furore sorgte. Demnach ist das Lebensrecht an die Fähigkeit gebunden, Präferenzen zu haben und Lust und Schmerz zu empfinden. Einem Fötus wäre also der moralische Status einer Person abzusprechen – mit weitreichenden Folgen für die Beurteilung von Schwangerschaftsabbrüchen. Bei einer Vortragsreise in Deutschland 1989 und 1990 gab es lautstarke und medienwirksame Pro- teste gegen Singers als menschenfeindlich und behindertenfeindlich einge- stufte Position und gegen die an einigen Universitäten im wissenschaftlichen Rahmen geplanten Vorlesungen und Diskussionen. Daraus wurde im Gegen- angriff der Vorwurf, einen unbequemen Philosophen in Deutschland mundtot machen zu wollen und die akademische Redefreiheit nicht zu respektieren.10

Die «Singer-Affäre» verdiente allein deshalb eine differenziertere Ana- lyse, weil der kritisierte Autor nicht auf die angesprochenen Thesen redu-

10 Singer 1991.

1 Maggie Fitzgerald (Hilary Swank) bittet um die Abschaltung ihrer Lebenserhaltungssysteme (Million Dollar Baby, 01:48:36).

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ziert werden sollte. Als Kämpfer für Tierrechte und gegen den Hunger in der Welt bearbeitet er ein breites Spektrum ethisch relevanter Themen, die um eine Ausweitung moralischer Aufmerksamkeit jenseits eines auf ein bestimmtes Personenverständnis fixierten Speziesismus zielen. Dabei kommen Aspekte zur Geltung, die für eine neue Sicht auf globale Gerech- tigkeit bedenkenswert sind und das Gegenteil von Menschenverachtung darstellen. Singer ist an der Kohärenz ethischer Argumentation interes- siert, nicht an der Verbreitung einer bereits feststehenden Überzeugung.

Eine solche Ethik irritiert und provoziert, weil sie mit Konventionen poli- tischer Korrektheit bricht, und eignet sich für überhitzte Debatten in den Medien sowie für Formate der Dokumentation und der Fiktion.

Mit der Aufwertung ethisch reflektierter Politikberatung und ethischer Expertise in medizinischen Settings wächst der Verantwortungsdruck auf akademische Akteure, die sich bis dahin nur den Diskursregeln universi- tärer Kommunikation verpflichtet wussten. Durch den neuen Öffentlich- keitscharakter von Ethik, gerade im Umgang mit den heißen Eisen der Bioethik, entstehen neue Konstellationen der Verständigung über die Kriterien einer gerechten Gesellschaft, einer guten medizinischen Ver- sorgung und der Respektierung von Freiheitsrechten. Die Präsenz ethi- scher Diskurse hat nicht automatisch eine beschwichtigende und aus- gleichende Wirkung; sie löst auch leidenschaftliche Konfrontationen aus, macht Standpunkte deutlich und ideologische Gräben sichtbar. Je mehr sich bekenntnishafte Aussagen verhärten und Konflikte personalisieren, um so mehr eignet sich der Disput für eine mediale Dramatisierung unver- söhnlicher Gegensätze.

Im ethischen Diskurs wird in Worte gefasst, was auch ohne diese Art der Kommunikation als Spannung im Raum ist: das Ringen um die ange- messene Selbstbehauptung menschlicher Freiheit, um den angemessenen Umgang mit dem Sterben, um die angemessene Mobilisierung diagnosti- scher und therapeutischer Möglichkeiten und um die angemessene Ver- teilung knapper Ressourcen. Das Maß für diese Angemessenheit ist nicht unverrückbar vorgegeben; es ist im Gespräch immer wieder neu auszuhan- deln und plausibel zu machen.

Der Stoff der Ethik eignet sich für großes Kino. Genauso ist aber auch das Kino ein Ort ethischer Reflexion über medizinische Fragen, die in per- sönliche Geschichten und institutionelle Strukturen eingebettet sind. Kon- troverse Themen der Ethik in der Medizin geben Auskunft über gesell- schaftliche Umstände, politische Rahmenordnungen und historische Konstellationen. Beispielsweise ist der Gebrauchs des Worts Euthanasie in Deutschland kaum möglich ohne die Erinnerung an die nationalsozialisti- sche Bezeichnung für die Ermordung von kranken und behinderten Men-

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Biomedizinische Ethik im Film | 27 schen. In anderen Ländern kann in einer unbefangeneren Weise Euthanasie als Synonym für Sterbehilfe verwendet werden. Diese Sensibilität für unter- schiedliche Kontexte macht die Beschäftigung mit Bioethik zu einer Sonde, mit deren Hilfe sich Diskursstrategien und Muster ethischer Aufmerksam- keit und Analyse rekonstruieren lassen. Das universale Ethos einer men- schenfreundlichen und allein dem Heilungsauftrag verpflichteten Medizin begegnet uns in den widersprüchlichen Ausprägungen von Idealen, Inter- essen, Zwängen und Perversionen. Eine Fernsehserie wie Charité hat dies in verschiedenen politischen Kontexten deutscher Geschichte dargestellt, in der dritten Staffel in der Zeit des Mauerbaus 1961, von dem das wich- tigste Klinikum der DDR wegen seiner Grenzlage unmittelbar betroffen war (Abb. 2).

Kliniken sind bei allem Respekt vor der Person des kranken Menschen Orte des Kontrollverlusts und der Unterordnung unter die Regeln eines Betriebs, der nur begrenzt auf Sonderwünsche eingehen kann. Vor der Krankheit und dem Tod sind alle gleich. Es sei denn, sie können sich eine bessere Versorgung und ein angenehmeres Ambiente leisten. In der Aus- nahmesituation des Klinikalltags prallen Kulturen und Weltanschauun- gen aufeinander, Lebensstile und persönliche Präferenzen, die sich mit der Systemlogik streng organisierter Abläufe arrangieren müssen. Medizin und Pflege haben gelernt, mit diesen Differenzen so taktvoll wie möglich umzugehen. Aber bei aller Sensibilität bleibt es dabei, dass die Einzelschick- sale sich in einer Zwangsgemeinschaft mit anderen Individuen wiederfin- den, die ebenso geduldig auf Diagnosen und Therapien warten müssen.

Für die «hoffnungslosen» Fälle ist in einer solchen auf Effizienz angelegten Institution längst kein Platz mehr. Sie werden an Pflegeheime und Hospize weiterverwiesen, sofern es dort Kapazitäten gibt. Somit präsentiert sich das Gesundheitswesen permanent mit der Spannung zwischen den Licht- und Schattenseiten und fordert den Mut heraus, unkonventionelle Wege zu beschreiten.

2 Die Kinderärztin Inge - borg Rapoport (Nina Kunzendorf) stellt bei einem Westberliner Jun- gen in der (Ost-)Berliner Charité Symptome der Kinderlähmung (Polio) fest (aus der Episode «Eiserne Lunge» von Charité, S03/E01, 00:05:58).

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Stoffe für Filme verschiedener Genres

Die Präsenz medizinethisch relevanter Themen im Film spiegelt sich in unterschiedlichen Genres, deren formale Gestaltungsmittel nur begrenzt miteinander vergleichbar sind. Es macht daher auch wenig Sinn, eine Gat- tung künstlerisch höherwertig einzustufen und die anderen Möglichkeiten zu verachten. Die umstrittene Unterscheidung zwischen ernsten und unter- haltenden Formaten wird ohnehin unterlaufen, da auch für ein Massenpub- likum produzierte Filme interessante Aspekte der moralischen Konflikte im Gesundheitswesen ansprechen können. Aus diesem Grund sollte das interna- tional populäre Genre der Klinik- und Arztserien ausdrücklich Berücksichti- gung finden.11 Denn die große Nachfrage nach dieser Art der Dramatisierung in Geschichten in den Zuschauer:innen immer vertrauter werdenden Set- tings von Krankenhäusern und Arztpraxen trifft offensichtlich einen Nerv in der fiktiven Begegnung mit einer Lebenswelt, die einerseits von der Alltags- wirklichkeit sehr deutlich unterschieden ist, andererseits aber durch Unfall oder Krankheit in jedem Moment in die vertraute Routine einbrechen kann.

Wenn wir nicht in einer Computerfirma oder in einer Backstube arbeiten, ist es höchst unwahrscheinlich, durch einen Schicksalsschlag von einem Tag auf den anderen in diese ungewohnten Umgebungen der jeweiligen Berufe katapultiert zu werden. Es ist hingegen naheliegender, früher oder später als persönlich Betroffene oder Angehörige dem Personal und den Apparaten der Medizin «ausgeliefert» zu sein. Das Eintauchen in die fiktiven Welten ist wie eine Ersatzhandlung, die aus der sicheren Distanz des Zuschauens einen Blick auf ebenso faszinierende wie unheimliche Abläufe gestattet.

Der größte Teil der in diesem Buch besprochenen Filme gehört zu den Werken unabhängiger Filmemacher:innen, deren Arbeit kommerzielle Erfolge nicht ausschließt. Es ist auffällig, dass manche dieser Filme auf literarischen Vorlagen basieren, was die alte Debatte über die Schwächen und Stärken von Literaturverfilmungen auf den Plan ruft, wie etwa anlässlich des Films Still Alice (Abb. 3), der auf dem Roman von Lisa Genova basiert. Auf jeden Fall ist der Schritt von einem zum Lesen bestimmten literarischen Text zum Filmskript und zum Werk auf der Kinoleinwand mit handwerklicher Kompe- tenz zu gewährleisten. Wenn dies gelingt, ist es eine kulturelle Bereicherung, vergleichbare Stoffe in unterschiedlichen Medien zu bearbeiten und unter- schiedliche Zielgruppen zu erreichen. Die Erfahrung in der Lehre zeigt, dass es aus didaktischen Gründen wahrscheinlicher ist, die vergleichsweise kurze Spieldauer eines Films zu nutzen, um einen gemeinsamen Bezugspunkt für intensive Gespräche zu nutzen und außerdem auf ausgewählte Sequenzen

11 Zum größeren Zusammenhang von Ethik und Serienanalyse: Brand/Meisch 2018.

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Biomedizinische Ethik im Film | 29 für eine vertiefte Analyse zurückgreifen zu können. Dieser pragmatische Vorteil soll aber die Arbeit mit Literatur keineswegs entwerten.

Eine weitere Besonderheit im Themenspektrum ist die Möglichkeit, spekulative Entwicklungsszenarien medizinischer Forschung und Praxis im Science-Fiction-Genre mit seinen utopischen und dystopischen Tendenzen zu erproben. Wegen der Bedeutung dieser Fiktionen für den bioethischen Diskurs wurden Fragestellungen aus dem Bereich des Post- und Transhu- manismus bewusst in die Reihe der beachtenswerten Filme aufgenommen, auch wenn die dort behandelten Phantasien im medizinischen Alltag vor- erst wenig relevant sind. Sie gehören jedoch zu den Imaginationsräumen, in denen über die wünschbaren und abschreckenden Perspektiven künf- tiger Wege des Heilens und Experimentierens wie in einem Gedankenex- periment nachgedacht wird – mit Konsequenzen für unsere heutigen Auf- fassungen von Leben und Tod, von Körperlichkeit und Verletzbarkeit, von Verfügbarem und Unverfügbarem.

Narrative Ethik als Referenz

Die Etablierung von Filmgesprächen im Rahmen der Medizin kann sich auf vergleichbare Erfahrungen mit anderen Kunstformen stützen, insbeson- dere mit der Literatur, die schon zum selbstverständlichen Repertoire der Medical Humanities gehört. Dabei wurde vor allem mit einer theoretischen

3 Die Linguistikprofessorin Alice Howland (Julianne Moore) hat beim Joggen auf dem Campus der ihr eigentlich so vertrauten Columbia University Orientierungs schwierigkeiten, die als Anzeichen einer früh einsetzenden Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert wurden (Still Alice, 00:09:17).

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