Reform der Krankenhausversorgung und -finanzierung
unter besonderer Berücksichtigung der Hochschulmedizin
Reinhard Busse, Prof. Dr. med. MPH
FG Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin (WHO Collaborating Centre for Health Systems Research and Management)
&
European Observatory on Health Systems and Policies
Ein kleines Quiz vorab …
• Wie viele Patienten mit Herzinfarkt gibt es pro Tag in Berlin?
Ca. 20, 40 oder 80?
• Und in wie vielen Krankenhäusern werden sie versorgt?
Ca. 20, 40 oder 80?
• Und wie viele neue Fälle gibt es mit Darmkrebs pro Woche?
50, 100 oder 500?
• Und jetzt übertragen auf die Uckermark (120.000 Einwohner auf 3000 qkm mit Krankenhäusern in Angermünde, Prenzlau, Schwedt und Templin):
0,75 Herzinfarkte/ Tag = 5/ Woche und
1,6 neue Darmkrebsfälle/ Woche = 80/ Jahr
wie viele Krankenhäuser brauchen wir?
4.000.000 Arzt-Patienten-Kontakte in der ambulanten Versorgung
2.300.000 gekaufte Packungen von frei verkäuflichen (OTC) Arzneimitteln 2.000.000 abgegebene Packungen von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln
Fast 400.000
stationäre Patienten im Krankenhaus, dav. 37.000 in Uni-Kh.
56.000 Notaufnahme-Besuche (davon 43% stationär aufgenommen) 53.000 Stationäre Krankenhausaufnahmen
16.000 CT-Scans in der ambulanten Versorgung 700 stationär aufgenommene Schlaganfallpatienten
15.000 CT-Scans in der stationären Versorgung
500 stationär aufgenommene Herzinfarkt-Patienten
56.000 53.000
16.000 15.000
An einem
durchschnittlichen Tag
in Deutschland
Damit liegen wir bei ambulanter und stationären
Nutzungszahlen weit über EU-Schnitt …
… genau wie bei den Ausgaben pro Kopf
+41% +37%
+59% +67%
6,2
2,5
7,6 -20%
6,3
2,8
-55%
5,3
3,8
-30%
-45%
4,3
2,4
-45%
+ 45%
+ 65%
und i.V. steigende Bettendichte …
Deutschland: Die im internationalen Vergleich hohe
2,2
-50%
+ 180%
+ 50%
4,6
23,6 17,8
+33%
17,0 15,5
10,8
-30%
13,1
-23%
15,3 15,6
13,9
-17%
16,8 15% +
+ 50%
… führt zu hohen und steigenden
Fallzahlen …
Eigene Darstellung nach OECD Health Statistics
250
150
0 50 200
100 300
235
103 134
156 Stationäre Krankenhausfälle (Krankenhausentlassungen) je 1.000 Einwohner
2005 2017
103 261
125 161 158
200
142 153
124
231
164
96
126 150
Österreich Belgien
Frankreich
Deutschland Niederlande
Italien Schweden
Schweiz
Großbritannien
In vielen Ländern sinken (bei gleicher Demographie
etc.) die Fallzahlen – bei uns steigen sie … warum?
Damit hat der stationäre Sektor
drei, miteinander verzahnte Probleme:
(1) unangemessen vielen Patienten, die oft gar keine stationäre Behandlung brauchen &
(2) zu einer niedrigen Personalzahl pro Patient führen;
(3) notwendige stationäre Fälle verteilen sich über zu viele personell und technisch nicht adäquat
ausgestattete Krankenhäuser suboptimale Qualität
Und was für Diagnosen haben die stationären Patienten?
… bestimmte Diagnosen deutlich mehr als im EU12-Schnitt (hier ausgewählte Krankheitsgruppen nach ISHMT, 2016)
Eigene Darstellung nach IGES 2019, basierend auf OECD Health Statistics
Und was für Diagnosen haben die stationären Patienten?
… bestimmte Diagnosen deutlich mehr als im EU12-Schnitt (hier ausgewählte Krankheitsgruppen nach ISHMT, 2016)
Eigene Darstellung nach IGES 2019, basierend auf OECD Health Statistics
Bei <600 Neuerkrankungen heißt das: in DE jeder Pat.
4x stationär, in EU12 2x
Und was für Diagnosen haben die stationären Patienten?
… insbesondere ambulant behandelbare Diagnosen …
und deutlich mehr als in Dänemark oder dem EU12-Schnitt
Angina Pectroris
Bronchitis &
COPD Diabetes Gonarthrose Herzinsuffi-
zienz Hypertonie Katarakt Rückenschmer- zen
DK -68 -26 -58 -39 -74 -85 -97 -78
EU 12 -61 -37 -56 -23 -55 -78 -61 -73
-100 -80 -60 -40 -20 0
Reduktion in %
Mögliche Fallzahlreduktion in Deutschland bei Angleich an die Fallzahlen in Dänemark oder den EU 12-Mittelwert (2016)
Eigene Darstellung nach IGES 2019, basierend auf OECD Health Statistics; Gonarthrose EU 12: Basierend auf 11 Ländern
Stationäre Fälle: 220
2Eingewiesene Patienten insgesamt:
121 (55%)
2„Notfälle“:
84 (38% der Fälle)
2NOT- AUFNAHME
202
1,240%
KV-
NOTDIENST
Notfälle insgesamt: 335
1,260% 40%
133
16 0 %
Nach Hause: 250 (75%)
In anderen Ländern 22-33%
3Datenquellen: 1 SVR (2018; S. 568) auf Basis Zi2017; 2 Statistisches Bundesamt 2016; 3 Geissler A, Quentin W, Busse R (2017): Umgestaltung der Notfallversorgung: Internationale Erfahrungen und Potenziale für Deutschland. In: Klauber J, GeraedtsM, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.) Krankenhausreport 2017: Schwerpunkt Zukunft gestalten. Stuttgart: Schattauer, S. 41-59
(1) Woher kommen die vielen Patienten?
Immer häufiger über die Notaufnahmen (2010)
Stationäre Fälle: 236
2Eingewiesene Patienten insgesamt:
111 (47%)
2„Notfälle“:
106 (45% der Fälle)
2NOT- AUFNAHME
249
1,2KV-
NOTDIENST
Notfälle insgesamt: 375
1,22 / 3
1 / 3
127
157%
Nach Hause: 270 (72%)
43%
In anderen Ländern 22-33%
3Datenquellen: 1 SVR (2018; S. 568) auf Basis Zi2017; 2 Statistisches Bundesamt 2016; 3 Geissler A, Quentin W, Busse R (2017): Umgestaltung der Notfallversorgung: Internationale Erfahrungen und Potenziale für Deutschland. In: Klauber J, GeraedtsM, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.) Krankenhausreport 2017: Schwerpunkt Zukunft gestalten. Stuttgart: Schattauer, S. 41-59
(1) Woher kommen die vielen Patienten?
Immer häufiger über die Notaufnahmen (2015)
(2) Trotz überdurchschnittlicher Personalzahlen pro 1.000 Einwohner: viele Fälle = zu wenig Personal am Krankenbett (2006)
AU BE
CZ
DK
EST FR
DE
HU
IRL NL
SVK
CH
AU BE*
CZ
DK
EST FR
DE
HU
IRL
NL
SVK
CH
0 10 20 30 40 50
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
P fleg ef ach kr äft e in kl . Hebam men p ro 1 0 0 0 F äl le
Ärzte pro 1000 Fälle
2006 2015
x 2,0
x 2, 2
Eigene Auswertung mit OECD Health statisticsx 1, 7
x 1,4
(2) Trotz überdurchschnittlicher Personalzahlen pro 1.000 Einwohner: viele Fälle = zu wenig Personal am Krankenbett (2015)
AU BE
CZ
DK
EST FR
DE
HU
IRL NL
SVK
CH
AU BE*
CZ
DK
EST FR
DE
HU
IRL
NL
SVK
CH
0 10 20 30 40 50
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
P fleg ef ach kr äft e in kl . Hebam men p ro 1 0 0 0 F äl le
Ärzte pro 1000 Fälle
2006 2015
x 2, 7
x 2,4
Eigene Auswertung mit OECD Health statistics
x 1, 8
x 1,7
(2) … obwohl wir überdurchschnittlich viel Personal pro 1.000 Einwohner haben –
Grund sind die hohen und steigenden Fallzahlen
OECD/European Observatory on Health Systems andPolicies(2017), Deutschland: Länderprofil Gesundheit 2017, State of Health in the EU. OECD Publishing, Paris/ European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels
Die
Fallzahlsteigerung
konterkariert alle
Effizienzgewinne
durch DRGs
„Primäre“ Krebsfälle bundesweit in % (2015)
Busse R, Berger E (2018): Weniger (Standorte, Betten und Fälle) ist mehr (Zugang, Qualität und Ergebnisse) –Standpunkte der Gesundheitsökonomie. In: JANSSEND, AUGURSKYB(Hrsg.): Krankenhauslandschaft in Deutsch-land: Zukunftsperspektive – Entwicklungstendenzen –Handlungsstrategien. Stuttgart: Kohlhammer, S. 99-114
(3) Trotz Zentren & Stroke Units: Viele „echte“ Patienten werden
in X-beliebigen Krankenhäusern behandelt (und oft auch nicht verlegt)
In NRW insgesamt 335 Kh mit Schlaganfall-Behandlung, davon nur (bis zu) 92 mit Stroke Unit;
diese behandelten nur 81% der Patienten
19% (12.000/ Jahr) im falschen Kh.
… obwohl das für die Erreichbar- keit fast
überall
unnötig ist
25% der 325 NRW-Kh. behandeln
< 28 Herzinfarkt-Pat./ Jahr, 50% < 61;
notwendig für die Erreichbarkeit eines Kh. mit Linksherzkatheter sind diese nicht
Noch ein Beispiel …
Auch bei sehr
komplexen Eingriffen
sieht es nicht gravierend
anders aus …
150 Jahr = 3 / Woche
… d.h. die allermeisten Kh. haben extrem wenig Fälle und befinden
sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Häusern mit deutlich mehr Fällen
Einzugsgebiet laut DGU = 0,65 Mio. Einw. (wären in NRW 28), in USA = 1,4 Mio. (NRW 13), in England = 2,5 Mio. (NRW 7)
n = 7
n = 13
n = 28
Rheumatologie …
25 Krankenhäuser in NRW
Trotz nur 8 Krankenhäusern mit größeren Fallzahlen in der Nähe,
wäre eine Konzentration, auch zur Sicherstellung der Weiterbildung, sinnvoll!
Woran liegt das?
• Mangelnde Steuerung, welche Leistungen von Krankenhäusern angeboten werden dürfen (Planung legt nur Fachgebiete fest)
• Abrechenbarkeit von Leistungen ist nur in wenigen Bereichen (etwa durch Mindestmengen) – und mit vielen Ausnahmen – eingeschränkt
• Neben der zunehmenden „Attraktivität“ von Notfallaufnahmen
bieten immer mehr Krankenhäuser auch spezialisierte Leistungen an, ohne dass dafür Bedarf besteht
notwendig wäre eine Planung, wie viele und welche Krankenhäuser
welche Leistungen erbringen und abrechnen dürfen ( Kh.-Plan NRW)
Nimptsch U, Mansky T (2017): Hospital volume and mortality for 25 types of inpatient treatment in German hospitals: observational study using complete national data from 2009 to 2014 BMJ Open 2017;7:e016184. doi: 10.1136/bmjopen-2017-016184
-27% -31%
763 KHs. mit durchschnittlich
<50 Pat./ Jahr
54 KHs. mit durchschnittlich
~ 600 Pat./ Jahr
492 KHs. mit durchschnittlich
~ 20Pat./ Jahr
71 KHs. mit durchschnittlich
~ 140Pat./ Jahr -20% -26%
RESULTAT: Auch bei unumstrittenen Fällen gibt es große Qualitätsunterschiede im Abhängigkeit von den Fallzahlen
Sterblichkeit
Bundesweit 500 Patienten/
Tag (1 / 160.000 Einwohner)
Bundesweit 55.000 Patienten/
Jahr (1 / 1.500 Einwohner) oder
1.000 Pat./ Woche
Das dürfte auch unsere schlechte Position im internationalen Vergleich
erklären!
Platz
24 /34
-50%
Ggü. etwa Dänemark hängen wir 10 Jahre hinterher
(und beim STEMI mit 4%
vs. 11,7% noch mehr)
DK 2006
Platz
9/32 Dänemark hat
uns seit 2010/11 deutlich
überholt!
Platz 4/32
-25%
0 2 4 6 8 10
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2013 2015
30- Tage Sterblichkeit nach Aufnahme bei ischämischem Schlaganfall (je 100 Patienten, verfügbare Datenjahre)
Dänemark Deutschland
Quelle: eigene Darstellung, basierend auf OECD Health Statistics 2018, Dataset: Health Care Quality Indicators; Anmerkungen: alters- und geschlechtsstandardisierte Rate, ab 45 Jahre
Sterblichkeit an ischämischem Schlaganfall im Krankenhaus
DK 2006
Platz 9/22
Dänemark war vor 10 Jahren schon besser als
wir heute!
Platz 2/22
Initiierung der Op nach Oberschenkelhalsfraktur
DK 2006
Wir haben die Wahl
(hier am Beispiel der Herzinfarktversorgung):
Kleine, schlechte Krankenhäuser „um die Ecke“ oder größere mit höherer Qualität ein paar Minuten weiter weg!
Grundlage: ca. 500 Patienten mit Herzinfarkt in Deutschland
(davon 100 Verlegungen 600 Fälle) = 1 Patient/ 160.000 Einwohner Wir haben fast 1200 Krankenhäuser, in denen Patienten mit Herzinfarkt
behandelt werden, d.h. im Schnitt 0,4/ Tag (= 3/ Woche = 150/ Jahr)
dafür lohnt sich keine Kardiologie oder keine Koronarangiographie Grundüberlegung: je mehr Patienten in technisch und personell gut
ausgestatteten Krankenhäuser, desto besser!
Das Erreichbarkeits„argument“ ist in vielen Gebieten Unsinn …
… wie ein Blick auf andere Regionen zeigt (gleicher Maßstab!)
Ca. 2/3 der Kh.
>20% der Patienten Keine geeignete
technische und personelle Ausstattung
Fast immer < 15min. Typischerweise < 20 min. Ggf. länger (bis 45 min.)
Ca. 30% der Kh.
Ca. 60% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, aber
Fachärzte nur in Bereitschaft
<5% der Kh. in DE/ 100% in DK
<20%/ 100% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, Fachärzte 24/7
<10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Entscheidung zur Verlegung
Ca. 30 min. Verlegung (aber ggf. zu spät für adäquate Therapie) Qualitativ
schlechte Therapie
<10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Adäquate Therapie
<10 min.
Facharzt Adäquate
Therapie
Eigene Darstellung
Sterblichkeit nachts/ am
Wochenende + 60% + 40% + 90%
Warum ist – neben adäquater Ausstattung –
die 24/7-Anwesenheit von Personal so wichtig?
(hier Daten des Berliner Herzinfarkt-Registers 2004-2007)
Maier B, Behrens S, Graf-Bothe C et al. (2010) Time of admission, quality of PCI care, and outcome of patients with ST-elevation myocardial infarction. Clin Res Cardiol 99: 565–72
<5% der Kh.
<20% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, Fachärzte 24/7
<10 min.
Facharzt Adäquate
Therapie
Ca. 2/3 der Kh.
>20% der Patienten Keine geeignete
technische und personelle Ausstattung
Ca. 30% der Kh.
Ca. 60% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, aber
Fachärzte nur in Bereitschaft
<5% der Kh.
<20% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, Fachärzte 24/7
<10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Entscheidung zur Verlegung
Ca. 30 min. Verlegung (aber ggf. zu spät für adäquate Therapie) Qualitativ
schlechte Therapie
10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Adäquate Therapie
<10 min.
Facharzt Adäquate
Therapie
Eigene Darstellung
Fast immer < 15min. Typischerweise < 20 min. Ggf. länger (bis 45 min.)
Bertelsmann-Stiftung (2019): Neuordnung der Krankenhauslandschaft. Daten, Analysen, Perspektiven Nr. 2, S. 2
Davon 118.000 in Kh. > 800 Betten Davon 45.000 in Uni-Kh. (9,1%)
Davon 1,9 Mio. in Uni-Kh. (9,7%)
(Uni-Kh. 9,6%) (Uni-Kh. 7,2)
Davon 45.000 in Uni-Kh. (15,8%)
Davon 2,2 Mio. in Uni-Kh. (15,8%)
(mit Daten für Universitäts-Krankenhäuser)
Bertelsmann-Stiftung (2019): Neuordnung der Krankenhauslandschaft. Daten, Analysen, Perspektiven Nr. 2, S. 2
Bertelsmann-Stiftung (2019): Neuordnung der Krankenhauslandschaft. Daten, Analysen, Perspektiven Nr. 2, S. 4