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Archiv "Schmerztherapie: Zahlreiche Dogmen fallen" (23.02.2001)

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C

hronischer Schmerz ist oftmals ein eigenständiges Krankheitsbild, das die Lebensqualität des Patienten nicht zuletzt auch durch Verlust seiner sozialen Bindungen nachhaltig beein- trächtigt. Anlässlich des 3. Europäi- schen Schmerzkongresses in Nizza wur- de die Initiative „Europe against Pain“

ins Leben gerufen, die sich zum Ziel setzt, Schmerzforschung und -therapie europaweit zu einem gesundheitspoliti- schen Anliegen zu machen sowie Präventions- und Therapiekonzepte grenzüberschreitend zu harmonisieren.

Ist die Fibromyalgie kein eigenes Krankheitsbild?

Die derzeit geläufigen Diagnosekriterien der Fibromyalgie sind laut dem Ameri- can College of Rheumatology (ACR) über mehrere Körperregionen sich aus- breitender Schmerz und Schmerz- auslösung bei Palpation von mindestens elf von insgesamt 18 definierten so ge- nannten tender points. Muskelschmer- zen gehen mit Muskelschwäche einher, beide Symptome nehmen an Intensität nach körperlicher Aktivität zu.

Allerdings hätten viele Studien ge- zeigt, dass die gesteigerte Druckschmerz- empfindlichkeit sich bei Fibromyalgie- patienten weder auf tender points noch auf Muskelgewebe beschränke, beton- te Prof. Eva Kosek, (Stockholm).

Übersensibilisierung des Zentralner- vensystems und/oder eine Störung der körpereigenen Schmerzhemmung seien an der Pathogenese des Krankheitsbil- des maßgeblich beteiligt. Gestützt wird ihre These durch Liquoruntersuchun- gen, bei denen sich sowohl erhöhte Spiegel von Substanz P fanden, als auch erniedrigte Konzentrationen von Metaboliten des Schmerzinhibitors Se- rotonin.

Diese Phänomene treten nicht nur bei Fibromyalgie, sondern auch im Rah- men zahlreicher anderer chronifizierter Schmerzsyndrome auf (zum Beispiel bei Rückenschmerzen, Neuropathie, tem- poromandibulärer Dysfunktion). Daher folgerte Kosek, dass die Diagnose Fi- bromyalgie nach heutigem Kenntnis- stand nicht ein eigenständiges Krank- heitsbild definiere, sondern den kumu- lativen Endpunkt kontinuierlicher, in der Akutphase insuffizient behandelter Schmerzen unterschiedlichster Genese.

Neben Schmerzen ist das Fibromyal- giesyndrom durch eine Vielzahl weite- rer Symptome gekennzeichnet wie bei- spielsweise depressive Grundstimmung, chronische Müdigkeit bei gleichzeitig gestörtem Nachtschlaf oder auch Colo- pathie. Beziehungsprobleme im fami- liären und beruflichen Umfeld sind häufig. Die Effizienz rein pharmakolo- gischer Therapiekonzepte sei gering, machte Dr. Serge Perrot (Paris) deut- lich. Vielmehr müssten die Patienten mithilfe einer von Beginn an interdiszi- plinär angelegten Behandlung, die Psy- chotherapie, das Erlernen von Entspan- nungstechniken und individuell dosierte sportliche Betätigung einschließen, ler- nen, mit ihrer Erkrankung umzugehen.

Eine Langzeitbehandlung mit klassi- schen nichtsteroidalen Analgetika soll- te unterbleiben, allenfalls könnten sie als Bedarfsmedikation vor schmerzver- stärkender körperlicher Aktivität ein- gesetzt werden. Opioide hätten sich als nahezu wirkungslos erwiesen. Antide- pressiva und nicht sedierende Muskel- relaxanzien wie zum Beispiel Tolperi- son würden in der Dauertherapie am häufigsten eingesetzt. Erstere besserten Nachtschlaf und depressive Verstim- mung, führten aber nicht zu einer signi- fikanten Senkung des Schmerzniveaus.

Letztere linderten Muskelverspan- nungen und myalgieforme Schmerzen

und erleichterten die wichtige kran- kengymnastische Übungsbehandlung.

Eine neue, aber teure medikamentöse Therapieoption könnte die Gabe von Wachstumshormon sein, das sich in er- sten Studien als wirksam erwiesen ha- be, schloss Perrot.

Neuropathische Schmerzen können brennend-dauerhaft (Beispiel „bur- ning-feet-syndrom“ bei der diabeti- schen Polyneuropathie) und/oder ein- schießend-attackenweise (Beispiel Zo- sterneuralgie) auftreten. Sie entstehen nach mechanischen, metabolischen, to- xischen und entzündlichen Verletzun- gen peripherer Neurone oder nach Lä- sionen zentralnervöser Strukturen. Prof.

Ralf Baron (Kiel) stellte einen The- rapiealgorithmus für diese Schmerz- syndrome vor, an dessen Beginn tri- zyklische Antidepressiva vom Typ des Amitryptilins stehen. Sie entfalten ihre Wirkung durch Hemmung der Rück- resorption körpereigener Schmerzin- hibitoren wie Serotonin oder Nor- adrenalin.

Epileptiforme Entladungsmuster

Begonnen wird mit einer abendlichen Gabe eines solchen Antidepressivums in einer niedrigen Dosierung von zehn bis 25 mg. Überwiegen unerwünschte Wirkungen wie beispielsweise Schwin- del, Orthostase und Mundtrockenheit im Vergleich zur erzielten Schmerzlin- derung, kommen Antikonvulsiva zum Einsatz. Diese hemmen die im Rahmen neuropathischer Schmerzen häufig auf- tretenden epileptiformen Entladungs- muster von Nervenmembranen.

Substanz der Wahl ist hier heute Ga- bapentin, das sich gegenüber Carbama- zepinderivaten durch ein erheblich gün- stigeres Nebenwirkungsprofil auszeich- P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 8½½½½23. Februar 2001 AA443

Schmerztherapie

Zahlreiche Dogmen fallen

Ein differenzierteres pathophysiologisches Verständnis führt in vielen Bereichen der Analgesie zum Umdenken.

Medizinreport

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net, weder hepatisch metabolisiert wird, noch zu Enzyminduktion führt.

Selbst nach einschleichender Steige- rung erreichte Tagesdosen von 2 400 mg würden auch von alten Patienten gut vertragen, betonte Baron. Bei Patien- ten mit AV-Blockierungen in der Vor- geschichte solle auf die Gabe von Anti- depressiva verzichtet werden, da diese selbst Überleitungsstörungen auslösen könnten.

Verlust von Opiadrezeptoren

Der Kieler Neurologe wies nach- drücklich darauf hin, dass die früher vielfach geäußerte These, neuropathi- sche Schmerzen seien opioidrefraktär, heute nicht mehr haltbar sei. Vielmehr stellten Opioide heute einen festen Be- standteil der medikamentösen Thera- pie dar und würden in Kombination mit Antidepressiva oder Antikonvul- siva eingesetzt, wenn diese allein nicht zur gewünschten Schmerzreduktion führten. Allerdings sind nicht alle Pati- enten opioidsensibel, die unter Neuro- pathien leiden.

Pathophysiologisch lässt sich diese in- terindividuell ganz unterschiedliche Re- aktion auf Opiate durch zwei Mechanis- men erklären: Erstens kann es bei Pa- tienten mit peripheren Nervenläsionen im Hinterhorn des Rückenmarks zu einem Verlust von bis zu 70 Prozent der Opiatrezeptoren kommen, zweitens könnte die gesteigerte Ausschüttung des Antiopioids Cholecystokinin Mor- phinrezeptoren desensibilisieren.

Bei 60 bis 80 Prozent der Patienten lasse sich durch zusätzliche Gabe eines Opioids eine verbesserte Schmerzlinde- rung erzielen, erläuterte Baron. Auf- grund der bisherigen Datenlage bevor- zuge er aus der Gruppe der starken Opioide Oxycodon, wenn schwache wie zum Beispiel Tramadol nicht ausreich- ten. In jedem Fall sollten retardierte Substanzen verwendet werden, da die- se im Sinne einer Schmerzprophylaxe gleichmäßige Plasmaspiegel ohne die Gefahr einer Überdosierung mit uner- wünschten Begleiteffekten beziehungs- weise einer Unterdosierung mit Schmerzdurchbrüchen gewährleisten.

Mittels dieser abgestuften, individu- ell zu titrierenden medikamentösen Be-

handlung sei bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit neuropa- thischen Schmerzen eine zufriedenstel- lende Schmerzlinderung zu erzielen.

Nur selten müsse auf invasive Verfah- ren wie intrathekale Opioidapplikation oder spinal cord stimulation zurückge- griffen werden. Allerdings seien in Er- gänzung zu den genannten medika- mentösen Ansätzen Nervenblockaden als invasive Techniken bereits in der Frühphase einiger neuropathischer Syndrome wichtig, um Schmerzchroni- fizierung zu verhindern, schloss Baron.

Als Beispiele nannte Baron die akute Zosterneuralgie und das komplexe re- gionale Schmerzsyndrom (früher Mor- bus Sudeck).

Propacetamol ist ein klassisches

„Prodrug“, das im Blut zum pharmako- logisch wirksamen Paracetamol hydro- lysiert wird. Nach den vorliegenden Stu- dien stellt die Substanz in der Behand- lung akuter postoperativer Schmerzen eine wesentliche Bereicherung dar, ihre Zulassung in Deutschland steht noch aus. Die Arbeitsgruppe um Dr. Al- brecht Wiebalck (Bochum) untersuchte

Wirksamkeit und Nebenwirkungen bei moderaten und starken Schmerzen nach mammachirurgischen Eingriffen und konnte sowohl rasch einsetzende als auch ausreichende Analgesie nach intravenöser Injektion von 2 g Propace- tamol nachweisen.

Hinsichtlich Wirkungseintritt und analgetischem Effekt fanden sich keine relevanten Unterschiede zwischen in- travenöser Bolusinjektion über 30 Se- kunden und Infusion über 15 Minuten.

Allerdings erwies sich die langsame Infusion als besser verträglich: Uner- wünschte Wirkungen wie Übelkeit, Er- brechen, Hitzewallungen, Blutdruckab- fall und Tachykardien waren seltener und lagen im Bereich der Placebokon- tollgruppe. Lediglich leichte Schmer- zen an der Injektionsstelle wurden häu- figer angegeben.

Dr. Isabelle Murat (Paris) berichtete über ihre Erfahrungen mit Propaceta- mol in der postoperativen Analgesie bei Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 14 Jahren. Sie erhielten nach Appendektomien, Tonsillektomi- en oder orthopädischen Eingriffen 30 mg Propacetamol pro kg Körpergewicht, dabei wurde die gesamte Dosis entwe- der als einmalige Infusion über 15 Mi- nuten oder auf vier Infusionen verteilt appliziert. Murats Ergebnisse deckten sich mit denen der deutschen Untersu- cher bei erwachsenen Probanden: ef- fektive Analgesie und außer Injektions- schmerzen keine klinisch relevanten Ne- benwirkungen. Veränderungen von La- borparametern, insbesondere der Trans- aminasen, seien nicht aufgetreten, be- tonte Murat.

Da Paracetamol hauptsächlich renal in Form seiner beiden Konjugationsme- tabolite eliminiert wird, überpüfte Dr.

Albert Gendron (Paris) die Verträg- lichkeit von Propacetamol bei älteren Patienten mit vorbestehender Nieren- funktionsstörung. Er kam zu dem Er- gebnis, dass weder Alter, noch eine ein- geschränkte Nierenfunktion die Phar- makokinetik der Substanz wesentlich beeinflussten. Erst beim Abfall der Kreatininclearance unter 10 ml pro Mi- nute träten signifikant höhere Parace- tamolspiegel auf, die eine Dosisreduk- tion erforderlich machten.

Dr. med. Uwe Junker cand. med. Stephanie Eckey P O L I T I K

A

A444 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 8½½½½23. Februar 2001

Nervenzellen, deren Ausläufer sogar einen Me- ter lang werden können, sind Schnittstellen der

Schmerzleitung. Foto: Archiv

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