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Archiv "Mehr Kindesmißhandlungen — auch ein ärztliches Problem" (02.03.1978)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Es gibt nur wenig empirische Unter- suchungen, die Aufschluß über die Häufigkeit von Züchtigungen in der familiären Erziehung geben. Einige wenige beziehen sich zudem auf sehr heterogene Populationen. Un- tersuchungen, die die Anwendung körperlicher Züchtigungen außer- halb der Familie (Schule, Heime etc.) zahlenmäßig erfassen, existieren aus vielfachen und verständlichen Gründen nicht. Die Tatsache aller- dings, daß in einigen Bundesländern das Züchtigungsrecht des Lehrers noch nicht grundsätzlich abge- schafft wurde, weist darauf hin, daß auch außerhalb der Familie das Ge- wohnheitsrecht zur Züchtigung von Kindern noch praktiziert wird.

Die verfügbaren Auswertungen über innerfamiliäre Auffassungen zur körperlichen Züchtigung bezie- hungsweise ihre tatsächliche An- wendung lassen sich in repräsen- tative Stichprobenuntersuchungen und nichtrepräsentative Untersu- chungen einteilen (Tabelle 1).

Repräsentative Untersuchungen Vom ersten Untersuchungstyp lie- gen zwei Bevölkerungsbefragungen

vom Institut für Demoskopie Allens- bach aus den Jahren 1965 und 1971 vor. Für beide Befragungen wurden drei Alternativen formuliert:

„a) Es ist grundsätzlich verkehrt, daß man ein Kind schlägt; man kann jedes Kind auch ohne Schlagen erziehen.

b) Schläge kommen höchstens als letztes Mittel in Frage, wenn wirklich nichts anderes mehr hilft.

c) Schläge gehören auch zur Erzie- hung, das hat noch keinem Kind geschadet."

Die im folgenden angegebenen Zah- len in Klammern beziehen sich auf die Untersuchung von 1965. Nach der Untersuchung von 1971 spre- chen sich 26 Prozent (16 Prozent) grundsätzlich gegen Schläge aus;

42 Prozent (46 Prozent) akzeptieren sie als letztes Mittel und 28 Prozent (36 Prozent) halten sie für einen not- wendigen Bestandteil der Erzie- hung. Dieses Ergebnis scheint im Vergleich eine Verschiebung zugun- sten der Gegner der Prügelstrafe von 1965 bis 1971 anzuzeigen. Den gleichen Trend findet man auch im Früherkennung

halten Ursache ihrer hohen Beteili- gungsrate ist als vielmehr ihre hohe Inanspruchnahme von Arztgruppen, die aufgrund ihrer spezifischen Fachrichtung diese Untersuchun- gen routinemäßig anbieten.

Dieser Fragestellung könnte mit Hil- fe patientenbezogener Daten nach- gegangen werden. Eine Einstellung, die Versicherten, die das Angebot auf Krankheitsfrüherkennung nicht wahrnehmen, hätten selbst Schuld, wenn sie ihrer Gesundheit damit schaden, kann jedenfalls weder vom ärztlichen noch vom ökonomischen Standpunkt aus verantwortet wer- den. Solange die niedergelassenen Ärzte und ihre Verbände nicht alles ihrerseits Mögliche getan haben, ihr Angebot wirksam auf die speziellen Bedürfnisse der von ihnen betreuten Patienten auszurichten, solange sollte sich niemand auf die „Selbst- verantwortung" des Versicherten zurückziehen.

Literatur

Bericht der Bundesregierung über die Erfah- rung mit der Einführung von Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten als.Pflichtlei- stungen der Krankenkasse sowie den zusätz- lich von den Krankenkassen gewährten Maß- nahmen der Vorsorgehilfe, Dt. Bundestag, Drucksache 7/454, Sachgebiet 82, (5. 4. 1973)

— Fargel, M., Küchler, M., Schiebet, R.: Krebs- früherkennung — sozialwissenschaftliche Ana- lyse über das Versichertenverhalten, in Dt. Ärz- teblatt, 74.Jg. (1977), H. 14, 951-957 — Knob- lich, I.: Krankheitsfrüherkennung in der ambu- lanten Versorgung. Ein Vergleich der Lei- stungsstruktur von Ärzten in städtischen und ländlichen Gebieten. Schrftr. Strukturfor- schung im Gesundheitswesen, Bd. 3, Techni- sche Universität Berlin; in Vorbereitung — Lie- bold, R.: Verbesserte kassenärztliche Versor- gung in Baden-Württemberg, Dt. Ärzteblatt, 74.

Jg. (1977), H. 11, 749-754 — Neumann, G.:

Krebsvorsorgeuntersuchungen, Wunsch und Wirklichkeit, in: Med. Welt, 22. Jg. (1971) H. 25, 1033-1036.

Anschrift der Verfasserin:

Ines Knoblich, Ärztin Kantstraße 120/121 1000 Berlin 12

THEMEN DER ZEIT

Mehr Kindesmißhandlungen — auch ein ärztliches Problem

Horst Petri

Die Züchtigung von Kindern als Bestandteil des elterlichen Erzie- hungsrechtes ist bisher kaum wissenschaftlich analysiert worden.

Dagegen gibt es auch aus dem ärztlichen Bereich Untersuchungen über die wachsende Zahl der Mißhandlungen von Kindern. Nach neueren Erkenntnissen scheint ein enger Zusammenhang zwischen beiden Formen des Schlagens von Kindern zu bestehen. Der Autor, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Institut für Psychothe- rapie e. V., Berlin, propagiert als Präventivmaßnahme gegen Kindes- mißhandlungen eine Erziehung, die grundsätzlich die körperliche Bestrafung von Kindern aus dem Repertoire verbannt.

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Tabelle 1: Untersuchungen über die Häufigkeit von Prügelstrafe in der Bundesrepublik Deutschland

Autor N Population %-Anteil der Befürwor- tung bzw. tatsächlich erlebter Strafe

1883 Bevölkerungs- querschnitt ab 16 J.

Befragung

42 Schläge als letztes Mittel 28 Schläge gehören

zur Erziehung 70

Allensbach 1971

Allensbach Bevölkerungs- 46 Schläge als

1965 querschnitt letztes Mittel

36 Schläge gehören zur Erziehung

Befragung 82

Kemmler 1960 180 Mütter 14jähriger 74 Schüler

Befragung

Hävernick 668 Unterschiedliche 85

1964 Populationen

Befragung Beck 1973 171 Mütter 6jähriger

Vorschulkinder

Befragung

44,7 bedingungslose Zustimmung 33,0 bedingte

Zustimmung 77,7

Silbereisen 119 Schulkinder, 50 Schläge als Strafe

1974 3. Klasse

Befragung Harbauer, 200 Psychisch Kenter 1960 gestörte Kinder

Aktenauswertung

68 bei Verhaltens- störungen 50 bei Einnässen 42 bei Schul-

schwierigkeiten 18 bei organischen

Störungen Sengling 1967 150 Psychisch 65,0 durch Vater

gestörte Kinder 51,2 durch Mutter Aktenauswertung

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Kindesmißhandlungen

Untergruppenvergleich (Geschlecht, Alter, Schulbildung, Beruf), wobei auch 1965 die Ablehnung bezie- hungsweise Befürwortung der Prü- gelstrafe die gleiche Abhängigkeit

von Alter, Schulbildung und Beruf zeigten wie 1971. Da es sich bei bei- den Untersuchungen jedoch um Meinungsfragen handelt, läßt sich aus dem günstigeren Ergebnis von

1971 keine Aussage darüber ablei- ten, ob dieses nur für einen inzwi- schen höheren Grad an Informiert- heit oder tatsächlich für reale Verän- derungen in der Erziehungspraxis steht.

Nichtrepräsentative Untersuchungen

Der zweite Untersuchungstyp um- faßt Befragungen von Müttern oder Kindern oder Aktenauswertungen unterschiedlicher und zahlenmäßig meist kleiner Populationen. In einer Befragung von 160 Müttern von Schulanfängern 1969 in Gießen zu Erziehungszielen und -praktiken wurde von Beck (1973) u. a. folgen- de Frage gestellt: „Welche Formen von Strafen halten Sie für Ihr Kind z.

Z. für besonders wirkungsvoll? Wel- che halten Sie für nicht vertretbar und lehnen sie folglich ab?" Die Fra- gen waren aufgeschlüsselt in die Ka- tegorien „Ohrfeige, Einsperren, Schläge auf die Hände, Schläge mit der Hand, Schläge mit einem Hilfs- mittel und Ins-Bett-Stecken". Von den Ergebnissen ist hervorzuheben, daß 78 Prozent aller Mütter „Schlä- ge mit der Hand" bei einem sechs- jährigen Kind für ein wirksames und legitimes Erziehungsmittel halten.

Mehr als ein Drittel der Mütter befür- worten Ohrfeigen und Schläge auf die Hände und ein Sechstel von ih- nen Schläge mit einem Hilfsmittel (z.

B. Hausschuhe, Kochlöffel usw.).

Zu einem ähnlichen Ergebnis war zu einem früheren Zeitpunkt Kemmler (1960) bei einer Befragung von 180 Müttern vierzehnjähriger Schüler gekommen. Auf die Frage „Halten Sie es für notwendig, einen Jungen körperlich zu strafen, wenn er sich hat etwas zuschulden kommen las- sen?", hatte die Autorin 26 Prozent Nein-Antworten bekommen.

In einer Befragung zur Rollenüber- nahme durch Silbereisen (1974) von 119 Kindern aus vier Grundschul- klassen des dritten Schuljahres in Westberlin waren einige spezifische Roms zur Prügelstrafe enthalten.

Von den Ergebnissen scheinen eini- ge besonders relevant: Etwa 38 Pro-

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Tabelle 2: Kindesmißhandlung und -tötung 1975 in der Bundesrepu- blik

Art des Deliktes N Alter

Kindesmißhandlung (§ 223b StGB) Kindesmißhandlung (§ 223b StGB) Mord

(§ 211 StGB) Totschlag

(§§ 212, 213, 216 StGB) Körperverletzung mit tödlichem Ausgang (§§ 226, 227, 229 (2) StGB) Kindestötung

(§ 217 StGB)

1706 0-14 Jahre 55 14-18 Jahre 77 0-14 Jahre 26 0-14 Jahre 10 0-14 Jahre

46 ante partum

Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Kindesmißhandlungen

zent der Mütter und Väter schlagen ihre Kinder auf den Mund, wenn sie etwas Vorlautes sagen. Etwas mehr als 40 Prozent der Kinder bekom- men von Vätern und Müttern Ohrfei- gen; in 30 Prozent „selten". Generell bekommen etwas mehr als 50 Pro- zent der Kinder Schläge als Straf- maßnahme; in etwa 33 Prozent

„selten".

Eine der methodisch fragwürdigsten Untersuchungen des Volkskundlers Hävernick (1964) soll kurz erwähnt werden, da sie in der Literatur über die Häufigkeit von Prügelstrafe in der Bundesrepublik Deutschland viel zitiert wird. An sehr unterschied- lichen Populationen der Hamburger Bevölkerung mit insgesamt 677 Be- fragungen untersuchte Hävernick die Häufigkeit von Prügelstrafe und kommt zu dem Ergebnis: „In der Ge- genwart sehen bis zu 98 Prozent der Eltern in der körperlichen Züchti- gung ein von der Sitte gebilligtes Zuchtmittel, dessen Anwendung im äußersten Falle ratsam und richtig ist. Da es nicht immer zu solchen Schwierigkeiten kommt, machen nur rund 85 Prozent der Familien davon praktisch Gebrauch."

Klinische Populationen

Neben diesen nichtrepräsentativen Befragungen an gesunden Popula- tionen sind nur zwei deutschspra- chige Untersuchungen (Aktenaus- wertungen) an klinischen Populatio- nen bekanntgeworden. Harbauer und Kenter (1960) untersuchten in einer Retrospektivstudie an 200 psy- chisch gestörten Kindern und Ju- gendlichen der Universitäts-Kinder- klinik Köln nach den Elternangaben die Häufigkeit von Prügelstrafen ver- teilt auf vier verschiedene Diagno- sengruppen (siehe Tabelle 1). Die Häufigkeitsverteilung schwankt zwi- schen 18 Prozent und 68 Prozent.

Sengling (1967) wertete die Akten von 150 Kindern der Erziehungsbe- ratungsstelle Marburg mit der spezi- fischen Diagnose eines Überforde- rungssyndroms aus. In dieser Popu- lation wurden die Kinder von 65 Pro- zent der Väter und von 51,2 Prozent

der Mütter geschlagen — von 24,8 Prozent der Väter und 11,4 Prozent der Mütter beinahe täglich.

Züchtigung — ein Gewohnheitsrecht Eine inhaltliche und methodenkriti- sche Analyse der zitierten Untersu- chungen kann in diesem Übersichts- aufsatz nicht geleistet werden. Alle referierten Ergebnisse geben nur Meinungen und verhüllte Tatbestän- de wieder, die nur indirekte Aussa- gen über die wahre Häufigkeit, über Intensität und Frequenz eines prak- tizierten Züchtigungsrechtes in deutschen Familien zulassen. Auch wenn diese Befunde auf methodisch uneinheitlichen und unzureichend abgesicherten Untersuchungen ba- sieren und die Zahlenwerte variie- ren, so läßt sich hinter ihrem ab- strakten Informationscharakter eine Erziehungsrealität annehmen, die gemessen am Stand unserer kultu- rell-wissenschaftlichen, industriellen und demokratischen Gesellschafts- struktur als Relikt voraufklärerischer Kindererziehung erscheint. Diesem Eindruck entspricht eine nicht weni- ger bedrückende Tatsache, nämlich die Offenheit, mit der eine große Zahl der Befragten körperliche Züchtigung als Erziehungsmittel an- geben. Diese Offenheit enthüllt ein

Selbstverständnis von Gewaltan- wendung gegen Kinder, das nur auf dem Hintergrund der moralischen und gesetzlichen Legalisierung des Züchtigungsrechtes verständlich wird. Die Tatsache, daß sich viele Eltern, die wegen Kindesmißhand- lung angeklagt sind, auf ihr Ge- wohnheitsrecht zur Züchtigung be- rufen und die breiten klinischen Er- fahrungen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der Erzie- hungsberatung und in der Psycho- therapie von Kindern und Erwachse- nen, nach denen die Grenzen zwi- schen Züchtigung und Mißhandlun- gen häufig nicht mehr auszumachen sind, verdeutlichen, daß die Gewalt gegen Kinder — in welcher Form auch immer — eine breite Basis und Rechtfertigung in dem angestamm- ten Züchtigungsrecht der Eltern hat.

Die zitierten Ergebnisse widerlegen auch die häufig vertretene Meinung, daß das Schlagen von Kindern im öffentlichen Bewußtsein bereits all- gemein stark tabuisiert sei. Wenn nach den Befragungen noch etwa ein Drittel der Bevölkerung das Schlagen der Kinder für ein notwen- diges und legitimes Erziehungsmit- tel halten, so macht ein solch hoher Anteil eine erschreckende Aussage über den Stand dieses Bewußtseins.

Daß jenseits dieses Bewußtseins der Anteil praktizierter Züchtigungen

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen' Kindesmißhandlungen

gegen Kinder nach den vorliegen- den Ergebnissen etwa doppelt so hoch liegen dürfte, weist insbeson- dere unter Berücksichtigung der ge- nannten klinischen Erfahrungen auf einen möglichen Zusammenhang von Kindeszüchtigung und -miß- handlung hin.

Häufigkeit

von Kindesmißhandlungen

Die bekanntgewordenen Fälle von Kindesmißhandlungen werden als gesonderter Straftatbestand erst seit 1971 für die Täter und seit 1973 für die Opfer bundeseinheitlich in den Kriminalstatistiken geführt. Nach den vorliegenden Zahlen wurden im Jahr 1975 insgesamt 1662 Fälle (Tä- ter) erfaßt und 1644 aufgeklärt. Da- bei wurden 1706 Kinder unter 14 Jahren und 55 Jugendliche zwi- schen 14 und 18 Jahren nach § 223 b StGB mißhandelt (Tabelle 2). 1976 kam es zu einem Anstieg von 1662 auf 1756 Fälle (plus 5,7 Prozent).

Tötungsdelikte und Aufklärungsrate

Im Jahr 1975 kamen 113 Kinder bis zu 14 Jahren durch Gewalteinwir- kung ums Leben, und zwar 77 Kin- der durch Mord (§ 211 StGB), 26 durch Totschlag (§§ 212, 213, 216 StGB) und 10 Kinder durch Körper- verletzung mit tödlichem Ausgang (§§ 226, 227, 229 (2) StGB). Zählt man 46 Fälle von Kindestötung hin- zu (§ 217 StGB) so erhöht sich die Gesamtzahl auf 159 getötete Kinder (Tabelle 2). Einer Sonderstatistik des Bundeskriminalamtes über Tö- tungsdelikte an Kindern von 1968 bis 1974 ist zu entnehmen, daß in diesem Zeitraum 796 Fälle mit 899 Opfern (durchschnittlich 128,4 Op- fer/Jahr) erfaßt wurden. In 66,6 Pro- zent der Fälle wurden die Kinder von der Mutter (47,0 Prozent) bzw. vom Vater (19,6 Prozent) getötet. Rech- net man weitere Angehörige (3,7 Prozent) und Bekannte (9,4 Prozent) mit 13,1 Prozent dazu, so ergibt sich bei 79,7 Prozent eine enge Täter- Opfer-Beziehung. Bezogen auf die obengenannten 113 getöteten Kin-

der im Jahre 1975 (ohne die Fälle nach § 217) wird man davon ausge- hen können, daß 90 dieser Kinder die Opfer familiärer Gewalteinwir- kung wurden. Diese Zahl entspricht in etwa der in der Literatur und in der Presse häufig genannten Zahl von 100 durch Mißhandlung getöte- ter Kinder.

Bei der Bewertung der Bundesstati- stik muß berücksichtigt werden, daß die Aufklärungsrate für Kindesmiß- handlung in den einzelnen Bundes- ländern unterschiedlich hoch ist.

Nach einer Untersuchung des Se- nats von Berlin über die Situation mißhandelter Kinder (Drucksache 7/

514, 1976) wurden 1975 in Berlin 178 mißhandelte Kinder im Alter bis 14 Jahren (§ 223b StGB) durch das kri- minalpolizeiliche Fachkommissariat erfaßt. Da Berlin bekanntermaßen über eine im Vergleich zu anderen Bundesländern hohe Aufklärungsra- te verfügt und in der Literatur davon ausgegangen wird, daß in Berlin nicht mit einer höheren absoluten Anzahl von Mißhandlungen als im Bundesgebiet zu rechnen ist, müßte man — die gleiche Aufklärungsrate für alle Bundesländer vorausgesetzt

— von etwa 5300, also dem Dreifa- chen der in der Bundesstatistik kri- minalpolizeilich erfaßten Fälle aus- gehen. (Bei dieser Berechnung wur- den Berlin mit 2 Millionen und das Bundesgebiet mit 60 Millionen Ein- wohnern gerechnet.)

Unabhängig von der Kriminalstati- stik gaben in der Untersuchung des Berliner Senats die städtischen Er- ziehungsberatungsstellen aus allen 12 Berliner Bezirken für den glei- chen Zeitraum 293, die Säuglings- und Kleinkinderfürsorgestellen 65 und die Schulgesundheitsfürsorge 58 mißhandelte Kinder an. Rechnet man bei diesen Zahlen mögliche Doppelnennungen ab, wird man von etwa 400 mißhandelten Kindern aus- gehen können, die in den genannten Institutionen bekannt wurden. Über- trägt man diese Zahl auf das Bun- desgebiet, so hätte man mit 12 000 Mißhandlungsfällen zu rechnen, die in einer repräsentativen Anzahl von Einrichtungen der öffentlichen Ju- gendhilfe bekannt würden.

Zuverlässigkeit von Schätzungen

Im Schrifttum besteht Einigkeit dar- über, daß die kriminalpolizeilich er- faßten Fälle von Kindesmißhandlun- gen und Kindestötungen nur die Spitze eines Eisberges darstellen.

Die in der Literatur immer wieder zitierte, durch keine Dunkelfeldfor- schung annähernd zu verifizierende Schätzzahl von 5 Prozent (Dunkel- ziffer 95 Prozent!) läßt sich als ein indirektes Eingeständnis interpre- tieren, daß das wahre Ausmaß und die Grenzen der Kindesmißhandlun- gen nicht abschätzbar sind. Ausge- hend von den kriminalpolizeilich er- mittelten Fällen wird immer wieder der Versuch gemacht, Schätzzahlen über das wahre Ausmaß zu berech- nen. Beispielsweise hätte man bei den etwa 1700 bundeseinheitlich er- mittelten Fällen pro Jahr und der angenommenen Aufklärungsrate von 5 Prozent mit einer Mißhand- lungsrate von 34 000 Kindern zu rechnen. Solche Schätzungen ent- behren jedoch jeder wissenschaftli- chen Zuverlässigkeit, da die ange- nommene Aufklärungsrate von 5 Prozent methodisch eher irrefüh- rend ist. So erklären sich auch die Diskrepanzen der in der Literatur und besonders in der öffentlichen Presse angegebenen Schätzzahlen, die zwischen 6000 und 400 000 Kindesmißhandlungen pro Jahr schwanken. Zu welchen Dimensio- nen die Ausweitung der Definitions- kriterien bei Kindesmißhandlung führt, zeigt der Versuch der Arbeits- gruppe Kinderschutz, die durch wis- senschaftliche Untersuchung ge- wonnenen amerikanischen Schätz- zahlen (National Opinion Research Center, Chicago) auf die Bundesre- publik Deutschland zu übertragen;

danach hätte man mit körperlichen Mißhandlungsfällen zwischen 1,0 und 1,6 Millionen zu rechnen.

Die Beliebigkeit aller Schätzungen auf diesem Gebiet betrifft ebenso die Angaben über tödlich verlaufene Kindesmißhandlungen. In der wis- senschaftlichen Literatur geht man vielfach von der Annahme aus, daß 10 Prozent aller Kindesmißhandlun- gen tödlich verlaufen. Auch dieser

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Zahl kommt keine wissenschaftliche Aussagekraft zu, da sie sich auf ein methodisch nicht erfaßbares Dun- kelfeld bezieht. Bei Annahme der vorliegenden Schätzungen über Kindesmißhandlungen würde die Zahl der getöteten Kinder unreali- stisch ansteigen. Andererseits wäre es wissenschaftlich ebenso unhalt- bar, von den für 1975 ermittelten 113 letalen Ausgängen auf nur 1130 Kin- desmißhandlungen zu schließen, da diese Zahl bereits durch die krimi- nalpolizeilich erfaßten Fälle über- schritten wird.

Dunkelfeld und Vorfeld bei Mißhandlungen

Die Dunkelfeldforschung bei Kin- desmißhandlung scheint nicht nur vor schwierigen methodischen Auf- gaben zu stehen, sondern weit mehr behindert zu werden durch Defi- nitionsprobleme des Gegenstandes selbst. Die vorgelegten statistischen Materialien über die Häufigkeit von Kindeszüchtigungen und -mißhand- lungen und breite klinische und so- zialpsychologische Erfahrungen sprechen für die Annahme, daß das Dunkelfeld bei Kindesmißhandlun- gen sich stark überschneidet und teilweise identisch ist mit dem Vor- feld der Mißhandlung.

Dieses Vorfeld ist gekennzeichnet durch eine Erziehung der Kinder mit den verschiedenen Formen von Ge- walt und durch fließende Übergänge von Züchtigungen zu Mißhand- lungen.

Die erfaßten Fälle von Kindesmiß- handlung stellen nach dieser An- nahme nur Extremvarianten der Ge- walt gegen Kinder dar. Da der Zu- sammenhang von Kindeszüchtigung und -mißhandlung bisher kaum sy- stematisch untersucht wurde, er- scheinen weitere klinische und epi- demiologische Forschungen not- wendig, um die hier vertretene An- nahme präziser formulieren und möglicherweise bestätigen zu kön- nen. Der präventive Charakter dieser Forschungen beträfe nicht nur das klinische Phänomen der Kindesmiß- handlung, sondern in sozialpsycho-

Kindesmißhandlungen

logischer Dimension jede Form der Gewalt gegen Kinder.

Aus diesem Grund hat die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Ju- gendpsychiatrie 1976 in dieser Zeit- schrift (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 47, Seite 3029) eine Stellung- nahme zum Thema „Prügelstrafe und Kindesmißhandlung" vorgelegt.

Darin wird in unmißverständlicher Weise auf den Zusammenhang bei- der Phänomene und auf die körper- lichen und besonders die seelischen Auswirkungen jeder Form von Ge- waltanwendung gegen Kinder hin- gewiesen. Die Stellungnahme mün- det in dem Aufruf zu einem gesetzli- chen Verbot der körperlichen Züch- tigung für alle Erzieherberufe und zu einem dringenden Verzicht auf diese Strafform für alle Eltern — „als ein Erfordernis unserer Gesellschaft".

Literatur

(1) Arbeitsgruppe Kinderschutz: Gewalt gegen Kinder, Rowohlt Taschenbuch, Hamburg, 1975

— (2) Beck, G.: Autorität im Vorschulalter, Beltz, Weinheim 1973 — (3) Dörmann, U.: Polizeiliche Kriminalstatistik, Kriminalistik 28, 433, 1974 — (4) Ders.: Sonderstatistik: Vollendete Tötungs- delikte an Kindern 1968-1974, Kriminalistik, 29, 465, 1975 — (5) Hävernick, W.: Schläge als Strafe, Hamburg 1964 — (6) Harbauer, H., Ken- ter, M.: Zur Problematik der Prügelstrafe, Pra- xis Kinderpsychol. 9, 1960 — (7) Kemmler, L.:

Erziehungshaltungen von Müttern 14jähriger Jungen, Psychol. Rundschau 11, 1960 — (8) Köttgen, U.: Kinderärztliche Beobachtungen bei Mißhandlungen, in: Aufklärung und Verhü- tung von Kindesmißhandlung, Beiträge z. Ge- sellschaftspolitik, Rheinland-Pfalz, 8, 3, 1974 — (9) Petri, H.: Abschaffung des elterlichen Züch- tigungsrechtes, Ztsch. f. Rechtspolitik, 9, 64, 1976 — (10) ders., Lauterbach, M.: Gewalt in der Erziehung, Fischer Athenäum, Frankfurt/M.

1975 — (11) Polizeiliche Kriminalstatistik 1975, BRD, Wiesbaden 1976 — (12) Senat von Berlin:

Bericht über die Situation mißhandelter und vernachlässigter Kinder in Berlin, Drucksache Nr. 7/514, 1976 — (13) Sengling, D.: Das Pro- blem der Überforderung im Kindes- und Ju- gendalter, Beltz, Weinheim 1967 — (14) Silber- eisen, R. K.: Psychologische Dissertation an der TU Berlin, 1974

Dr. med. Horst Petri Arzt für

Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychotherapeut

Kunzendorfstraße 27 1000 Berlin 37

FORUM

Auf das Sterben nicht vorbereitet

Zu den Richtlinien

„Ärztliche Hilfe für den Sterbenden"

der Schweizerischen Akademie der medizinischen

Wissenschaften, mitgeteilt in Heft 31/1977, Seite 1933 ff

Ein interdisziplinärer studenti- scher Arbeitskreis in Münster hat aus juristischer, theologi- scher und medizinischer Sicht das Problem der Sterbehilfe behandelt. Hier der Bericht ei- nes Medizinstudenten aus diesem Arbeitskreis. Der Autor hat vor dem Medizinstudium das erste juristische Staats- examen abgelegt — eine selte- ne, aber wichtige Fachkombi- nation.

Angeregt durch den Fall der Ameri- kanerin Karen Quinlan, die nach Einnahme von Alkohol und Beruhi- gungsmitteln im Frühjahr 1976 in tiefe Bewußtlosigkeit verfiel, haben wir uns interdisziplinär im Rahmen der Stipendiatengruppe der Konrad- Adenauer-Stiftung in Münster mit dem Problemkreis der Sterbehilfe beschäftigt. Da die Patientin nur durch künstliche Beatmung am Le- ben gehalten werden konnte, wünschten die Adoptiveltern, das Beatmungsgerät abschalten zu dür- fen. Inzwischen atmet die Patientin wieder spontan.

Die juristische Seite des angespro- chenen Problemkreises scheint hin- reichend oft diskutiert worden zu sein, wie z. B. die Abgrenzung zwi- schen aktivem Tun und Unterlassen, die Tötung auf Verlangen, das Ab- setzen einmal begonnener medizini- scher Behandlung oder die Recht- fertigungs- und Schuldausschlie- ßungsgründe der §§ 34, 35 StGB. Es

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