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Archiv "Randomisation, Konsens und persönliche Verantwortung" (19.04.1990)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 11,111.1111111111

Randomisation, Konsens

und persönliche Verantwortung

Eine kurze Rekapitulation

Rudolf Gross

Eigenverantwortlichkeit des Arztes

Nach den neueren Urteilen des Bundesge- richtshofs (BGH) ist jeder Arzt gehalten, gemäß dem Willen des Kranken und zu seinem indivi- duellen Besten seine diagnostisch-therapeuti- schen Entscheidungen zu treffen (voluntas aegroti et salus aegroti). Selbstverständlich kann der heute von der Rechtssprechung bevorzugte Wille des Patienten den behandelnden Arzt nicht zwingen, etwas zu tun oder zu unterlassen, was seinem eigenen Gewissen, seiner Überzeu- gung oder seinen Kenntnissen nicht entspricht.

Das gilt zum Beispiel bei unheilbar Leidenden, etwa für deren Wunsch, ihr Leben zu beenden („aktive Euthanasie").

Der Arzt muß sein Handeln (oder Unterlas- sen) aber dokumentieren und gegebenenfalls rechtfertigen: C) Vor dem Kranken und — im Falle dessen Ablebens — vor den Hinterbliebe- nen;

c,

aus seiner so viel besprochenen Berufs- ethik heraus; ® bei etwaigen Haftpflicht- oder Strafprozessen.

Die Grenzfälle — verhandelt meist vor den als Schlichtungsstellen bei den Landesärztekam- mern eingerichteten juristisch-medizinischen Kommissionen — sind, verglichen mit der Zahl diagnostischer oder therapeutischer Maßnah- men, relativ selten. Dabei stehen vier wesentli- che Veränderungen an:

Auf „Arztprozesse" spezialisierte Rechtsanwälte pflegen heute die mangelhafte Aufklärung „vorsichtshalber" oder von vorneher- ein nachzuschieben. Damit wird die für beide Seiten oft schwierige Beweislast umgekehrt: Der

Kranke oder seine Vertreter müssen nicht mehr den Behandlungsfehler nachweisen, vielmehr muß der Arzt eine „ad hoc" erfolgte vorherige Aufklärung des Kranken oder den Hinweis auf etwaige alternative Behandlungsmöglichkeiten — auch auf erfahrene oder besser ausgerüstete In- stitutionen — usw. beweisen. Mehr denn je emp- fiehlt sich daher die sorgfältige Aufklärung des Kranken, am besten im Beisein eines Zeugen (Assistent, Schwester) usw. und ihre Dokumen- tation.

fp

Natürlich kann der Arzt nicht alle über- haupt denkbaren unerwünschten Folgen mittei- len. Das würde — abgesehen vom Zeitaufwand — den Kranken unerträglich belasten und das Ver- trauen (immer noch die Basis der Arzt-Patien- ten-Beziehung) zerstören. So gibt es praktisch kein Medikament, gegen das ein Kranker nicht auf pharmakogenetischer, allergischer oder pseudoallergischer Basis unerwünscht reagieren könnte (siehe auch Deutsches Ärzteblatt 83, Heft 33 vom 13. August 1986). Muß diese grund- sätzliche Möglichkeit für die meist kleine Zahl von Individuen innerhalb der Gesamtpopulation besonders betont oder darf sie als allgemein be- kannt unterstellt werden?

Eine andere — in meiner Sicht negative — Entwicklung ist die folgende: Noch vor zehn Jah- ren sind die Landgerichte und Oberlandesge- richte von einer (unterschiedlichen) Komplikati- onsdichte von etwa zwei bis zehn Prozent ausge- gangen, die dem Kranken vor der ärztlichen Maßnahme eröffnet werden mußte. Neuere Ur- teile des BGH haben diese Zahlen ersetzt durch

„operationstypisch" usw. — eine wenig glückliche Veränderung Lassen wir zum Beispiel in der Hand eines geübten Chirurgen Verletzungen ei-

Dt. Ärztebl. 87, Heft 16, 19. April 1990 (35) A-1253

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nes N. laryngeus oder der Nebenschilddrüsen bei einer Schilddrüsenoperation mit einer Häufigkeit von 1:1000 bis 1:2000 vorkommen, so sind solche Vorkommnisse extrem selten, aber für Eingriffe an der Schilddrüse eben „typisch". Hier sind klare Zahlen durch den vieldeutigen und interpreta- tionsfähigen Ausdruck „typisch" ersetzt worden.

• Da die meisten Ärzte angemessen versi- chert sind, wäre es, etwa in Anlehnung an das Verkehrsrecht, wünschenswert, Haftpflicht von Schuld oder Fehlern zu trennen. Manche Patien- ten könnten so entschädigt werden, ohne daß der betroffene Arzt wegen strafrechtlicher Folgen oder Schädigung seines Rufes sich bis zum Au- ßersten wehren müßte.

Randomisierte Studien

Sie gelten mit Recht als der sicherste Beweis für die Wirksamkeit und Unschädlichkeit eines Medikamentes oder Eingriffs. Ihre Dignität wird aber häufig überschätzt:

• Retrospektive Studien haben meist nur deskriptiven Wert. Nach meinen Erfahrungen an der eigenen Klinik, mehr noch in internationalen Gremien, ist ein Teil der eingebrachten Verläufe (meist 10 bis 30 Prozent) nicht verwertbar, weil entweder die Unterlagen unvollständig oder un- auffindbar sind, oder weil ein wichtiger Parame- ter im entscheidenden Zeitraum nicht bestimmt wurde. Dies trifft auch für die häufig in der Lite- ratur erscheinenden Vergleiche mit früheren Verläufen (ohne die in Frage stehende Behand- lung) zu. Die Nachuntersucher beachten nicht, daß sich zwischenzeitlich auch die Pflegeleistun- gen und andere, von der Prüffrage unabhängige Voraussetzungen verändert haben.

• Randomisierte Studien werden heute ge- wöhnlich prospektiv durchgeführt. Ein unter Laien weit verbreiteter Irrtum meint, daß es sich um die Prüfung der Wirksubstanz gegen ein so- genanntes Placebo (gleiche Form, Geschmack usw., aber ohne Wirksubstanz) handele. Das ist in aller Regel bei meßbaren objektiven Kriterien nicht der Fall, obwohl manche Arzneimittelher- steller wegen der schneller erreichbaren und meist eindrucksvolleren Vorteile immer noch da- zu neigen. Verglichen wird vielmehr die neue Behandlung mit einer anerkannten (und meist benutzten) Standardtherapie. Wenige machen sich klar, daß diese erwiesenermaßen auch schon Gutes bewirkt. Die Überlegenheit etwa eines Medikamentes oder Eingriffes in diesem Rah-

men nachzuweisen ist schwieriger und erfordert meist wesentlich mehr Probanden in den soge- nannten Phase-III-Studien. Vom Kranken muß im einfachen (nur er weiß es nicht) oder doppel- ten (auch der behandelnde Arzt weiß es nicht, was gegeben wird) Blindversuch natürlich vorher die Zustimmung — am besten schriftlich — einge- holt werden, daß er an der Studie teilnehmen will. Er tauscht ein potentiell höheres Risiko ge- gen die Chance ein, wirksamer als mit der aner- kannten Standardtherapie behandelt zu werden.

Solche Studien wurden weltweit besonders bei Kreislaufkrankheiten und in der Onkologie durchgeführt. So erwiesen sich zum Beispiel Thrombolytika und spätere Antikoagulantien oder Aggregationshemmer der Thrombozyten bei koronarer Herzkrankheit als überlegen (sie- he auch Deutsches Ärzteblatt 86, Heft 24 vom 15. Juni 1989), während ein solcher Beweis mei- nes Wissens für zerebro-vaskuläre Erkrankun- gen noch aussteht.

Ein neutraler Prüfer sollte, je nach Frage- stellung, bei einer ausreichenden Zahl von Pro- banden den Code brechen: Die Studie muß aus ethischen Gründen abgebrochen werden, wenn entweder Nebenwirkungen gehäuft aufgetreten sind (Risiko der „Verum-Gruppe") oder wenn die neue Behandlung schon eine derartige Überle- genheit zeigt, daß die Fortführung der bisherigen Verfahren anderen nicht zugemutet werden kann (Risiko der Kontrollgruppe). Bei der offen- bar kooperativeren amerikanischen Bevölkerung ist es beachtlich, daß trotz eindeutiger Überle- genheit einer neuen Behandlung viele Kranke in die Fortsetzung der Untersuchung einwilligten, um zur Klärung von zusätzlichen wichtigen Ein- zelfragen beizutragen.

Unter Phase-IV-Studien versteht man, daß die Neueinführungen auch über die zahlenmäßig begrenzte randomisierte Studie hinaus noch sorgfältig beobachtet werden müssen. Dazu reicht die im Arzneimittelgesetz (AMG) vorge- sehene, dauernde oder zeitweilige Rezeptpflicht allein nicht aus. Unerwünschte Wirkungen kön- nen erst bei 5000 oder 10 000 Anwendungen, al- so dem Mehrfachen der üblichen Phase-III-Stu- dien, manifest werden. Dazu sind Mitteilungen der behandelnden Ärzte an die Arzneimittel- kommission der Deutschen Ärzteschaft oder an den Hersteller (besser: an beide!) sinnvoll, da diese die Akkumulation solcher Nebenwirkun- gen beobachten. Ein Nachteil ist dabei gewöhn- lich, daß die Patienten drei, vier oder mehr Wirkstoffe gleichzeitig erhielten, so daß die Zu- ordnung selbst für geübte Pharmakologen oder Kliniker schwierig wird. Gerade unter diesen Umständen ist die Häufung unerwünschter Wir- A-1254 (36) Dt. Ärztebl. 87, Heft 16, 19. April 1990

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kungen einer Substanz bei der meist bunten Pa- lette anderer Wirkstoffe wesentlich. Das bedeu- tet, daß möglichst viele sich an diesem (freiwilli- gen) Warnsystem beteiligen.

r Consensus-Konferenzen

Diese Art der Zusammenführung und Aus- sprache von meist vier bis acht Experten ist aus den USA zu uns gekommen, wo sie seit einigen Jahren besonders von den National Institutes of Health (NIH) in Bethesda/Md. betrieben oder gefördert werden. Nach Lomas (6) u. a. hatte das NIH bis Mitte 1988 allein 70 Consensus-Konfe- renzen durchgeführt. Heute dürfte die Zahl der auch in Schweden und anderen europäischen Ländern organisierten weltweit 300 überschrit- ten haben. Die Zahl der Übereinstimmungen nach den Konferenzen lag bei 70%, die Unlös- barkeit kontroverser Meinungen bei über 20%

(6). Consensus-Konferenzen kommen vor allem für die zahlreichen Fragen in Betracht, bei de- nen ein Medikament aus epidemiologischen Gründen rasch zugelassen werden muß (zum Beispiel bei AIDS und seinen Komplikationen), oder wo randomisierte Studien nicht möglich oder noch nicht durchgeführt sind, wo Unklar- heiten hinsichtlich der Präferenz oder der Dosie- rung bestehen (siehe zum Beispiel 6). Dabei ist wohl zu unterscheiden zwischen Consensus-Kon- ferenzen, die sich mit neuen oder verschieden diskutierten Technologien beschäftigen, und sol- chen, die die Ärzteschaft zur Annahme oder breiteren Anwendung von Methoden veranlas- sen sollen, über die unter den befragten Exper- ten Einmütigkeit besteht (6). Consensus-Konfe- renzen haben natürlich nicht die Validität einer über Monate oder Jahre hin durchgeführten pro- spektiven randomisierten Studie. Mir ist bisher kein Urteil des BGH bekannt, das sich für oder gegen eine Behandlung aufgrund einer Consen- sus-Konferenz ausgesprochen hätte. Da die Teil- nehmer an solchen Consensus-Konferenzen in aller Regel international anerkannte Experten der jeweiligen Fragestellung sind, wird man sich in Zweifelsfällen und nach Aufklärung der Kran- ken ihrem Urteil anschließen können, wenn sie übereinstimmen.

Persönliche Entscheidungen

Diese ist in die Eigenverantwortung des Arz- tes gelegt. Abgesehen von den rund 10 000 Prä-

paraten der „Roten Liste" wird sie außerhalb na- turwissenschaftlich begründeter Heilverfahren letztlich von der persönlichen Überzeugung und Erfahrung des Behandlers getragen. Unserer pluralistischen Gesellschaft entspricht auch the- rapeutisch ein „chaotischer" Pluralismus (3). Die persönliche Überzeugung beinhaltet für sich al- lein viele Gefahren, zum Beispiel die für eine größere Zahl von Kranken unwesentliche, aber für den Behandler eindrucksvolle „Duplizität der Fälle". Wenn ein Arzt den Boden von natur- wissenschaftlich Erwiesenem oder den durch Consensus-Konferenzen gesicherten Boden ver- läßt (vor allem im kurativen Bereich!), muß er sich seiner ganzen Verantwortung in ethischer und juristischer Hinsicht bewußt sein. Die Ge- fahr liegt weniger im positiv verursachten Scha- den, denn die meisten der sogenannten „Außen- seiter"-Methoden sind als solche unschädlich.

Die Gefahren liegen vielmehr in der Wirkungslo- sigkeit mit ihrem unter Umständen unwieder- bringlichen Zeitverlust und in den Kosten für die Solidargemeinschaft. Umgekehrt muß man sich, vor allem in der Tumortherapie, manchmal fra- gen, ob ein Kranker ohne Aussicht auf Heilung (auch darüber gibt es ja zahlreiche und zum Teil recht kritische Statistiken!) sich bis zu seinem Tod Prozeduren unterziehen soll, die ihn für den Rest seines Lebens, vielleicht um einen kleinen Zugewinn an Lebensquantität, um die verbliebe- ne Lebensqualität bringen. Hier liegen die schwersten Entscheidungen und die größte Ver- antwortung. Videant medici!

Weiterführende Literatur

1. Baltzer, J. (Edit.): Juristisches Wörterbuch für Mediziner.

München, Parke & Davis, 1983

2. Gross, R.: Muß eine bessere Krankenversorgung zu finanziel- len Engpässen führen? Med. Welt 41 (1990) 99

3. Iglehart, J. K: Health Policy report. New Eng. J. Medicine 307, (1982) 1933

4. Sass, H.; Viefhues, M. (Edit.): Ärztliche Entscheidungen unter ethischen Gesichtspunkten. Heidelberg, Springer, 1990 (im Druck)

5. Wannagat, M. (Edit.): Dritte Mergentheimer onkologische Gespräche Stuttgart, Thieme, 1990 (im Druck)

6. Lomas, J.; Anderson, G. et al.: The Role of Evidence in the Consensus Process. Results from a Canadian Consensus Exer- cise. JAMA Vol. 259, No. 20 (1988) 3001-3005

Dazu die Zeitschriften:

J. Medicine and Philosophy, Univ. of Chicago Press (ab 1978) sowie Theoretical Medicine. Dordrecht, Reidel, ab 1983 (früher Meta- med: ab 1977)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5

5000 Köln 41

Dt. Ärztebl. 87, Heft 16, 19. April 1990 (39) A-1255

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