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Archiv "Kassenärztliche Arzneiverordnung – Ist sie rational?" (07.07.1988)

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DAS EDITORIAL

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Hans Friebel

Kassenärztliche

Arzneiverordnung Ist sie rational?

E

ine Stellungnahme zu dieser Frage ist durch die Auswertung einer breit und langfristig ausgelegten Arzneiverord- nungs-Studie möglich geworden. In Dortmund ist 1984 bis 1986 in einem auf zwei Jahre ausgelegten Modellversuch unter- sucht worden, ob und wie die Bevölkerung von et- wa 600 000 Einwohnern von ihren 485 niedergelas- senen Kassenärzten qualitativ besser und zugleich kostengünstiger als bisher mit Arzneimitteln ver- sorgt werden kann.

Im Arbeitsplan war vorgesehen, eine erhöhte Transparenz des Verschreibungsverhaltens nieder- gelassener Arzte durch statistische Aufbereitung ihrer Verordnungen zu schaffen und die Kenntnis des arztindividuellen Verschreibungsverhaltens zur Grundlage arzneitherapeutischer Beratung zu ma- chen. Das vom Bundesminister für Arbeit und So- ziales geförderte Projekt wurde von der zuständi- gen KV durchgeführt. Die Arzneimittelkommissio- nen der deutschen Arzte und Apotheker, die ge- setzlichen Krankenkassen im Bereich Dortmund, der Apothekerverein Westfalen-Lippe und die Dornier-System GmbH, Friedrichshafen, waren partnerschaftlich bzw. unterstützend beteiligt.

Anlage der Studie

Jeder in Dortmund niedergelassene Kassenarzt wurde in vierteljährlichen Abständen achtmal auf fünf bis sechs DIN-A4-Seiten über seine statistisch aufgearbeiteten Quartalsverordnungen informiert.

Er konnte seine Verordnungen mit denen des durchschnittlichen Arztes seiner Gebietsarztgrup- pe vergleichen und gegebenenfalls anpassen. Im ersten Quartal 1985 gingen in diese Mitteilungen insgesamt die Daten von rund 630 000 Rezepten mit ca. 1,14 Millionen Verordnungen ein, deren Gesamtkosten sich auf über 26 Millionen DM be- liefen. Die arztindividuellen Informationen wur- den ohne Kommentierung versandt.

Parallel zur schriftlichen Information wurde monatlich ein sorgfältig vorbereitetes Beratungsge- spräch von etwa zwei bis drei Stunden Dauer durchgeführt, zu dem je vier bis acht Allgemein- ärzte oder Internisten — einmal auch Nervenärzte — eingeladen wurden. Etwa 100 Ärzte folgten der Einladung. Vom Gewinn dieser Gespräche, der Vertiefung der aus den Daten gewonnenen Er- kenntnisse und den arzneitherapeutischen Vor- A-1990 (34) Dt. Ärztebl. 85, Heft 27, 7. Juli 1988

schlägen profitierten die Berater und ihre Kolle- gen. Dennoch waren dem Bestreben, zuverlässigen Einblick in die Determinanten des Verordnungs- verhaltens zu gewinnen, recht enge Grenzen ge- setzt. Eine ausreichende Kenntnis des wichtigsten Anlasses, Arzneimittel zu verordnen, die Morbidi- tät des Patienten, konnten weder die Dortmunder Daten noch die Beratungsgespräche vermitteln.

Ergebnisse der Studie

Eindrucksvoll war die Vielfalt ärztlicher Ver- ordnungsprofile, die sich bis zu den Verordnungs- kosten hin auswirkte, ohne — von wenigen Ausnah- men abgesehen — den Rahmen des derzeit bestehen- den finanziellen Spielraums zu sprengen. Für diese Vielfalt dürften neben anderem zwei Freiheiten des niedergelassenen Arztes verantwortlich sein, die Therapiefreiheit im Rahmen der Arzneimittel- Richtlinien und seine Freiheit, sich im Rahmen sei- ner gebietsärztlichen Tätigkeit persönliche Arbeits- schwerpunkte zu schaffen. Beide Freiheiten sind un- erläßliche Voraussetzungen für eine vielgestaltige patientengerechte Krankenversorgung.

Um so überraschender war der Befund von mathematisch gesicherten Beziehungen zwischen der Anzahl der im Quartal von einem Arzt in sei- ner Praxis mit Arzneimitteln versorgten Patienten und der Anzahl der von ihm im Quartalszeitraum verschriebenen verschiedenartigen Fertigarznei- mittel. Der durchschnittliche Allgemeinarzt ver- sorgte im ersten Quartal 1985 612 Patienten mit 579 verschiedenen Fertigarzneimitteln, der durch- schnittliche Internist 767 Patienten mit 585 ver- schiedenartigen Fertigarzneimitteln. Ein Internist, der in diesem Zeitraum die etwa dreifache Patien- tenzahl versorgte, verschrieb im Quartal über 1000 verschiedenartige Fertigarzneimittel. Die enge Koppelung der Fertigarzneimittelzahl an die Pa- tientenzahl wurde bei horizontaler Darstellung der Arzneimittel- und Patientenzahl-Entwicklung wäh- rend des überprüften Zweijahres-Zeitraumes be- sonders deutlich.

Ein derartiger Zusammenhang ist keinesfalls selbstverständlich, denn eine Zunahme der Patien- tenzahl erweitert das Spektrum der Indikationen nicht in demselben Ausmaß. Vermutlich wird ein

Als Allgemeinarzt werden Angehörige der Gruppe „Praktische Ärz- te" und „Ärzte für Allgemeinmedizin" bezeichnet.

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wesentlicher Teil der Arzneimittelvielfalt via Pa- tient in das arztindividuelle Arzneimittelsortiment eingeschleust. Die resultierende Aufblähung des Sortiments wird für die arzneitherapeutische Ra- tionalität bedrohlich, wenn mit wachsender Fertig- arzneimittelzahl das Informiertsein des Verordnen- den über die therapeutisch erwünschten und uner- wünschten Wirkungen seiner Arzneimittel ab- nimmt und auf diese Weise sein Vermögen, den Arzneiverordnungen fundierte Nutzen/Risiko-Ab- wägungen zu Grunde zu legen, leidet.

Verordnungsverhalten

in den Indikationsbereichen

Weitere Einsichten in das durchschnittliche und arztindividuelle Verordnungsverhalten ermög- lichten die Ergebnisse einfacher numerischer Überprüfungen von Gesamtverordnungen in eini- gen Indikationsbereichen. Die Verschreibung von Analgetika/Antirheumatika, Psychopharmaka, Hypnotika/Sedativa, Kardiaka, Koronarmitteln, Antihypertensiva und Betarezeptorenblockern/

Calciumantagonisten durch je 25 zufällig ausge- wählte Allgemeinärzte und Internisten zeigte, daß die Anzahl der vom durchschnittlichen Arzt jeder Gruppe verschriebenen Fertigarzneimittel in je- dem Indikationsbereich auffallend hoch ist. Der Allgemeinarzt verschrieb im Durchschnitt im er- sten Quartal 1985 59, der Internist 63 Analgetika/

Antirheumatika. Es wurden 25 beziehungsweise 30 verschiedene Psychopharmaka, 19 beziehungswei- se 27 Koronarmittel, 19 beziehungsweise 23 Kar- diaka, 18 beziehungsweise 20 Hypnotika/Sedativa usw. verschrieben. Beim einzelnen Arzt wurden erhebliche Abweichungen von den Mittelwerten gefunden. Einige Ärzte verschrieben mehr als 100 verschiedene Analgetika/Antirheumatika im Quar- tal. Von dieser Vielzahl wurde jeweils etwa ein Drit- tel nur einmal im Quartal verschrieben. Nur wenige Mittel wurden so häufig rezeptiert, daß auf sie ein größerer als zehnprozentiger Anteil indikations- gruppengleicher Fertigarzneimittel entfiel.

Das Verschreiben von überflüssig zahlreichen verschiedenen Fertigarzneimitteln charakterisiert das Verordnungsverhalten. Das Sammeln von the- rapeutischer Erfahrung an den eigenen Patienten wird von diesem Verhalten nicht begünstigt.

Arzneimittelsortimente

Schließlich wurde die Beständigkeit der arzt- individuellen Arzneimittelsortimente während des Zweijahres-Zeitraumes untersucht. Sie war über- raschend gering. Aus den Quartalsberichten für die etwa 100 beratenen Allgemeinärzte und Interni- sten geht hervor, daß vom ersten bis zum vierten Quartal 1985 rund 20 Prozent bis 40 Prozent der 40 von ihnen am häufigsten verschriebenen Fertigarz- neimittel ausgewechselt wurden. Als Grund für die Unbeständigkeit arztindividueller Arzneimittelsor-

timente wurde mehrmals der empfohlene Aus- tausch von kostspieligen Fertigarzneimitteln gegen preisgünstigere wirkstoffgleiche Alternativpräpa- rate genannt Eine Nachprüfung ergab, daß nur ca.

drei Prozent der jährlichen Austauschquote dieser Ursache zugeschrieben werden können. Auch eventuelle Versuche, das arztindividuelle Sorti- ment schrittweise qualitativ zu verbessern, können, wie das Ergebnis einer bewertenden Untersuchung zeigte, die hohen Fluktuationsquoten nicht erklä- ren. Wahrscheinlich werden ältere Präparate beim Vermarkten von neu zugelassenen Fertigarzneimit- teln verdrängt, wobei die mit den älteren Mitteln gewonnene therapeutische Erfahrung verloren geht (1).

Diese Einsichten in das ärztliche Verordnungs- verhalten machen wahrscheinlich, daß arzt- individuelle Arzneimittelsortimente eher zufällig als geplant zustande kommen. Arzneiverordnung kann aber nur rational sein, wenn die Arzneimittel den praxisspezifischen Bedürfnissen entsprechend vom niedergelassenen Arzt selbst ausgewählt wer- den, wenn ihre Anzahl so gut übersehbar ist, daß sein Informiertsein über jedes verschriebene Mittel eine fundierte Nutzen/Risiko-Abwägung zuläßt und wenn die Sortimentzusammensetzung so kon- stant gehalten wird, daß ein Sammeln von thera- peutischer Erfahrung möglich ist.

Resümee

Die in Dortmund angetroffene Situation kann im großen und ganzen seit Jahren bestehen. In Berlin hat ein niedergelassener Kollege bereits 1976 recht ähnliche Daten erhoben (2). Sie dürfte auch kein auf ein engeres geographisches Areal be- grenzter Sonderfall sein, wie jüngere im südwest- deutschen Raum gesammelte Erfahrungen lehren.

Für die Dortmunder Ärzte war sie eine Überra- schung, denn Erstaunen war die häufigste Reak- tion, wenn ihnen die von den Beratern evaluierten persönlichen Verordnungsdaten vorgelegt wurden.

Für die Berater resultierte aus den Ergebnissen der Datenanalyse und Beratungsgespräche die Aufgabe zu untersuchen, ob die beschriebenen Unvollkommenheiten der Arzneiverordnung den therapeutischen Nutzen der Arzneibehandlung schmälern und — wenn ja — wie die Arzneiverord- nung verbessert werden kann Hierüber wird in nachfolgenden Beiträgen berichtet werden.

Literatur

1. Friebel, H. , et al.: Arzneimitteltransparenz und -beratung in Dort- mund; 1. und 2. Mitteilung; Pharmazeutische Zeitung 132, 14-23 und 1981-1989 (1987)

2. Göpel, H.: Wirtschaftliche Arzneitherapie in der ärztlichen Praxis;

in: Grundlagen der Arzneitherapie (Hrsg.) Dölle, W., et al.: Wis- senschaftsverlag, Mannheim, 1986

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med Hans Friebel Uferstraße 42 6900 Heidelberg Dt. Ärztebl. 85, Heft 27, 7. Juli 1988 (37) A-1991

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