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Archiv "Arzneiverordnung - Auswege aus der Misere" (04.04.1991)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

AKTUELLE POLITIK

Der Wachstumstrend im Ge- sundheitswesen ist ungebrochen. Mit der Entwicklung immer besserer Heilmethoden, neuer technischer Möglichkeiten und Arzneimittel so- wie der zunehmenden Zahl der Heil- berufe steigen auch die Kosten. Da- mit entstehen naturgemäß Konflikte in der Vertragspartnerschaft zwi- schen Krankenkassen und Kassen- ärzten. Denn die Kassenärzte sind es, die durch ihre Unterschrift den Patienten die Maßnahmen der Ge- sundheitspflege auch dann zur Ver- fügung stellen, wenn sie sie nicht selbst erbringen.

Bei all ihrer zunehmenden Kri- tik am Gesundheitswesen und insbe- sondere am Kostenbewußtsein der Kassenärzte scheitern die Ökono- men noch weitgehend in ihrem Be- mühen, zur Effizienzverbesserung im Gesundheitswesen beizutragen.

Geldverbrauch kann man exakt mes- sen; dagegen ist der Nutzen der hier- für geleisteten Gesundheitspflege nicht in Mark und Pfennig zu bestim- men und oft erst nach Jahrzehnten durch eine höhere Lebenserwartung und eventuell gestiegene Qualität der gewonnenen Lebensjahre nach- weisbar. An die Stelle rationaler ökonomischer Analyse des Gesund- heitswesens treten mangels rasch verwertbarer Erkenntnisse allzu leicht Vorurteile. Dies gilt besonders für die Diskussion über die Arznei- mittelversorgung und ihre Kosten.

Anfang März gaben die Be- triebskrankenkassen ein krasses Bei- spiel von Voreingenommenheit und medizinischer Unkenntnis, als sie der Presse ihr Richtgrößenmodell vor- stellten. Es beruht auf der Fiktion ökonometrischer Faßbarkeit der ärztlichen Tätigkeit — als ob für alle Patientenprobleme vom Symptom über die Diagnose bis zur Therapie mit Arzneimitteln eine geradlinige Kausalität gegeben wäre. Allzu ein- fach unterstellen die Betriebskran- kenkassen, der Arzt müsse für jede

ris Weniger gesetzliche Reglementierung Mehr Klarheit für den Arzt

Freie Wahl des Arzneimittels nach therapeutischem Nutzen

,411111111111111111111

Indikation jeweils das billigste am Markt verfügbare Arzneimittel ver- ordnen; er dürfe Präparate mit „um- strittenem therapeutischen Nutzen"

gar nicht verordnen. Auf diese Weise sei eine „Einsparreserve" von 5,5 Milliarden DM vorhanden. Die Be- triebskrankenkassen folgern daraus, es müsse Richtgrößen deutlich unter den Verordnungsvolumina der Vor- jahresquartale geben. Um der Versi- chertengemeinschaft die Rationali- sierungsreserven der Arzneimittel- verordnung zur Verfügung zu stel- len, müsse der Kassenarzt bei Über- schreitung dieser Richtzahlen zu- nächst beraten werden und bei aus- bleibendem Erfolg der Beratung un- ter Regreß genommen werden.

Die Betriebskrankenkassen und alle, die mit ihnen teils ohne die nöti- ge Sachkunde die Probleme der Arz- neimittelversorgung in der Kassen- praxis diskutieren, sollten ihre Posi- tion grundsätzlich überdenken und neben dem Sozialgesetzbuch V

(SGB V) auch die Bedürfnisse der Pa- tienten und die Handlungsnotwendig- keiten in der ärztlichen Praxis zur Kenntnis nehmen.

Die Forderungen der Betriebs- krankenkassen beruhen auf der Fehlinterpretation von Paragraphen des SGB V, erwecken aber zugleich den Eindruck, als bestünden eindeu- tige gesetzliche Vorgaben. Selbst wenn die Argumentation der Be- triebskrankenkassen nachvollziehbar wäre, so stünde ihre Legitimität nicht nur aus rechtlicher, sondern insbesondere aus ärztlicher Sicht in Frage.

Die Kassenärzte und ihre Pa- tienten sind bei der Arzneimittelver- sorgung von einer kaum überschau- baren Zahl von Rechtsnormen um- geben (siehe Darstellung auf der nachfolgenden Seite). Bei der heute verfügbaren Menge und Qualität der Arzneimittel ist es bei rein medizini- scher Betrachtung für den Kassen- arzt einfacher als zu jeder anderen Zeit, das Gesundheitsproblem seines Patienten durch eine zweckmäßige Arzneimittelverordnung zu lösen.

Dies verdanken wir den enormen Fortschritten der letzten Jahrzehnte in der biochemischen Grundlagen- forschung und dem weltweiten Qua- litätswettbewerb der pharmazeuti- schen Industrie, welcher zu immer neuen Produkten und damit Lö- sungsmöglichkeiten bei der Krank- heitsbehandlung geführt hat. Nie war es aber so schwierig wie heute, bei der Arzneimittelversorgung rechtliche Probleme zu vermeiden.

Am unübersichtlichsten ist dabei die Arzneimittelverordnungsrege- lung des SGB V. Nicht weniger als 12 Paragraphen und eine noch we- sentlich größere Zahl von Richtlini- en, Artikeln und Landes- sowie Bundessozialgerichtsurteilen müssen hierbei beachtet werden.

Bei dieser Sachlage müssen die Anstrengungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung darauf gerichtet sein, die Arzneimittelrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen so zu gestalten, daß der Kassenarzt weiß,

> welche Präparate überhaupt nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wer- den dürfen;

Klaus-Dieter Kossow

Arzneiverordnung

Auswege aus der Misere

I Im Wirrwarr

der „Rechtsnormen"

A-1152 (24) Dt. Ärztebl. 88, Heft 14, 4. April 1991

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§ 28 SGB V 34SGB V § 35 SGB V Darstellung: - "Regeln der Kunst" Negativliste Festbeträge Die Kassenärzte und

ihre Patienten in der § 70SGB V - Erkältungs-Krankheiten - Derselbe Wirkstoff

Bundesrepublik sind - Rachen-Krankheiten - Pharmakol.-therapeutisch

bei der Arzneimittelver- - "Stand der medizini- -Abführmittel vergleichbare Wirkstoffe

sorgung von einer sehen Kenntnisse" - Reise-Krankheiten - Pharmakol.-therapeutisch

kaum überschaubaren

Ziffer21 vergleichbare Wirkung

Zahl von Rechtsnor- ..,.. Ausreichend Arzneimittel-Richtlinien § 73,5 SGB V men umgeben .

..,.. Zweckmäßig Verordnungsbeschränkungen Mitteilungspflicht

bei Mehrkosten

.... Wirtschaftlich § 93 SGB V

Übersicht

§ 73,5 SGB V Aufhebung des Aut -Simile-Verbots

Preisvergleichsliste § 84 SGB V Richtgrößen

§ 92,2 SGB V soll nach

- Arztgruppen- spezifisch

§ 73,5 SGB V - Nach Zahl und

Altersstruktur - Preiswürdigkeit beachtet werden

(Ziffer 24 AMR) Bestandteil der

Arzneimittel-Richtlinien

Darstellung: K.-D. K.

[> welche Arzneimittel heute

dem "anerkannten Stand der medi- zinischen Erkenntnisse" nach § 70 SGB V entsprechen,

[> wie er zuverlässig Regreßfor-

derungen der Krankenkassen aus dem Wege gehen kann, ohne hierbei die berechtigten Versorgungsan- sprüche des Patienten zu vernachläs- sigen.

Besonders letzteres ist wegen der verworrenen Rechtslage schwie- rig geworden. Die Unübersichtlich- keit der erzwungenen Arzneimittel- verordnungs-Bürokratie mit ihrer Vielzahl von unbestimmten Rechts- begriffen verunsichert den Arzt und kann in Einzelfällen durchaus dazu führen, die Patientenversorgung me- dizinisch qualitativ zu gefährden.

Vielleicht deshalb erkennen zumin- dest e1mge Gesundheitspolitiker, daß der Ansatz des Gesundheits-Re- formgesetzes im arznei~ittelpoliti­

schen Bereich wegen des Ubermaßes an Kontrolle verfehlt war. Man hat Kostendämpfungsgesichtspunkte einseitig in den Vordergrund gestellt

und medizinische Aspekte vernach- lässigt.

Dies kommt besonders in den Vorschriften zu den Richtgrößen zum Ausdruck. Die Wirtschaftlich- keits-Kontrollvorschriften des § 106 SGB V sind voll ausreichend, wenn sie auf Kontrollen nach Durch- schnittswerten und Einzelfallprü- fung beschränkt bleiben. Von den Richtgrößen kann eine grundsätzli- che Ersparnis ohne Gefährdung der Patientenversorgung nicht erwartet werden. Deswegen waren diese im Anhörungsverfahren zum Gesetz- entwurf von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auch abgelehnt worden.

I Wenn "Richtgrößen" - ohne Regreßdrohung!

Nachdem Richtgrößen nun Ge- setzeskraft erlangt haben, besteht die Kassenärztliche Bundesvereini- gung darauf, daß ihre Einführung

Selbstbeteiligung

§ 31 SGB V 3 DM bis

15 Prozent (15 DM)

§ 106,2 SGB V Wirtschaftlichkeits- prüfung nach

.... Durchschnittswerten .... Richtgrößen .... Stichproben

nicht mit Regreßfolge verbunden wird. Sollte es überhaupt möglich sein, medizinisch sinnvolle Richtzah- len gesetzeskonform mit den Kran- kenkassenverhänden zu vereinbaren, so kann eine Überschreitung im Ein- zelfall allenfalls Anlaß zur Beratung des Kassenarztes sein.

Diese Grundaussage ist nicht als bloße Interessenposition der Kassen- ärzte mißzuverstehen. Der Patient ist durch die Richtgrößen bedroht:

Welcher Schaden würde für die Si- cherstellung der ambulanten Versor- gung entstehen, wenn Kassenärzte unter der Regreßdrohung notwendi- ge Arzneimittelverordnungen ins nächste Quartal verlegten oder da- nach trachteten, sie durch Überwei- sung an andere Kollegen zu delegie- ren. Konsequent zu Ende gedacht:

Sie hätten - durch ihren Praxiscom- puter gewarnt -Veranlassung, nach Verbrauch des "Quartalsetats" die Praxistätigkeit bis zum Beginn des nächsten Quartals einzustellen.

Man wende hier nicht ein, daß das Sozialrecht solche Verhaltens- Dt. Ärztebl. 88, Heft 14, 4. April 1991 (25) A-1153

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weisen von Kassenärzten verbiete.

Reine Legalitätsprinzipien mögen bei Institutionen wirksam sein, Kassenärzte aber sind Menschen.

Viele sehen sich bereits durch ein Übermaß an Bürokratie um einen Teil der Freude am Beruf gebracht, und manche von ihnen lehnen das System der kassenärztlichen Versor- gung bereits völlig ab, obwohl sie bei rationaler und materieller Betrach- tung noch immer recht gut damit le- ben können. Ursache von Arger und Ablehnung ist das Fehlen oder die nicht erkennbare Zweckmäßigkeit vieler Richtlinien. Diese tragen we- der zu einer qualitativen Verbesse- rung der Patientenversorgung noch zum sparsamen Umgang mit den Mitteln der Krankenkassen bei.

Folglich werden sie von kritisch prü- fenden Fachleuten, zu denen die meisten Kassenärzte zu zählen sind, zutreffend als unsinnig eingestuft.

Die Umsetzung der Richtgrößen nach den Vorschlägen der Betriebs- krankenkassen ist für die Unsinnig- keit von Bestimmungen zur Arznei- mittelverordnung zwar nur ein Bei- spiel, allerdings ein besonders tref- fendes, denn sie wäre:

• für die Erschließung von Ra- tionalisierungsreserven überflüssig;

• bürokratisch aufwendig — so- wohl für Krankenkassen als auch für die Kassenärztlichen Vereinigungen;

• eine Bedrohung der Thera- piefreiheit der Kassenärzte;

• mit einer Verschlechterung der sachgerechten Patientenversor- gung verbunden.

Die Betriebskrankenkassen wol- len durch Richtgrößen erreichen, daß die Kassenärzte billige Präpara- te unterhalb des Festbetrages ver- ordnen. Wenn aber — wie die Be- triebskrankenkassen behaupten — bei der Verordnung von Festbetragsprä- paraten tatsächlich Wirtschaftlich- keitsreserven vorhanden wären, dann wäre es zunächst die Aufgabe der Krankenkassen, nach § 35 (5) die Festbeträge so festzusetzen, daß ein eventuell vorhandener Rationalisie-

rungsspielraum bei den Arzneimit- telpreisen auch tatsächlich ausge- schöpft wird.

Nach Auffassung des Vorstan- des der Kassenärztlichen Bundesver- einigung sind Verordnungen zum Festbetrag in bezug auf den Arznei- mittelpreis wirtschaftlich, weil bei der Festsetzung der Festbeträge die Krankenkassen den Rationalisie- rungsspielraum in Beachtung des

§ 35 (5) ausgeschöpft haben. Warum schließlich sollte der Vorstand der KBV davon ausgehen, daß die Kran- kenkassen bei der Festsetzung der Festbeträge ihre Pflicht nicht tun?

Im übrigen hat das jetzt zustän- dige Bundesgesundheitsministerium die Aufgabe, nach § 34 (3) SGB V ei- ne Liste unwirtschaftlicher Arznei- mittel durch Rechtsverordnung zu erlassen. Diese Liste soll zum 1. Juli dieses Jahres veröffentlicht werden.

Allerdings: Der KBV-Vorstand ver- tritt entschieden die Auffassung, daß eine solche Liste unbedingt alle, da- von betroffenen Präparate nament- lich aufführen muß. Andernfalls dür- fe sie nicht in Kraft treten. Auch die meisten Spitzenverbände der Kran- kenkassen stimmen in dieser Frage mit der Kassenärztlichen Bundesver- einigung überein.

Die Kassenärzte gehen zu Recht davon aus, daß alle Arzneimittel, die nicht Bestandteil einer solchen Ne- gativliste sind, zunächst einmal als wirtschaftlich gelten und unter die Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fallen, sofern sie nach Indikation und Menge kor- rekt verordnet worden sind. Der Kassenarzt ist unter dem Gesichts- punkt der Wirtschaftlichkeit, insbe- sondere bei der Verordnung von Festbetrags-Präparaten, nur für de- ren indikationsgerecht en Einsatz und allenfalls für die verordnete Menge verantwortlich. Bei allen an- deren Präparaten erstreckt sich die- se Wirtschaftlichkeitsverantwortung, sofern sie nicht nach § 34 überhaupt von der Erstattungspflicht der ge- setzlichen Krankenversicherung aus- geschlossen sind, auch auf die Preis- gerechtigkeit der Verordnung. Im- mer aber gilt der Grundsatz, daß vor dem Preis der therapeutische Nutzen des Präparates zu beachten ist.

Wenn also ein patentgeschütztes

teures Präparat einen höheren the- rapeutischen Nutzen hat als ein älte- res Festbetrags-Präparat mit niedri- gerem Preis, dann darf der Kassen- arzt dennoch das teurere Präparat verordnen.

Die freie Wahl des Arznei- mittels nach medizinischer Indika- tion wird dem Kassenarzt durch das SGB V ab 1. Januar 1992 jedoch zu- sätzlich erschwert, wenn von diesem Datum ab eine 15prozentige Selbst- beteiligung für alle Nichtfestbetrags- Präparate in Kraft tritt. Das wird zu einer Belastung des Patienten füh- ren, falls beispielsweise bei der Be- handlung einer Hypertonie statt ei- nes festbetragsfähigen Betarezepto- renblockers (der keine Zuzahlung des Patienten erforderlich macht), ein nichtfestbetragsfähiger ACE- Hemmer mit Zuzahlungspflicht des Patienten verordnet werden muß.

Es liegt auf der Hand, daß hier als Folge von Gesetzesvorschriften der Therapieerfolg durch Complian- ce-Risiken gefährdet wird. Solange es zuzahlungsfreie Präparate gibt, wird der Patient dazu tendieren, Prä- parateverordnungen, für die er zu- zahlen muß, zurückzuweisen. Dies wird — da der Patient nun einmal me- dizinischer Laie ist — auch dann der Fall sein, wenn der Arzt für zuzah- lungspflichtige Präparate eine ein- deutige Indikation sieht.

Der KBV-Vorstand appelliert daher an den Gesetzgeber, eine Selbstbeteiligung in gleicher Hö- he unter Berücksichtigung der im SGB V vorgesehenen Sozialstaffeln für alle Arzneimittel (Festbetrags- plus Nichtfestbetrags-Präparate) ein- zuführen. Unterschiedliche Selbstbe- teiligungen für verschiedene Arznei- mittelgruppen, die für eine gleiche Indikation verordnet werden, müs- sen abgelehnt werden. Das deutsche Rechtssystem (Arzneimittelrecht, Wirtschaftsrecht, Sozialrecht) er- schwert die konfliktfreie Abgren- zung von Arzneimittelgruppen.

Derzeit wird im Bundesaus- schuß zwischen den Vertretern der

I Treffendes Beispiel für Unsinnigkeiten

I Selbstbeteiligung für alle Arzneimittel!

A-1154 (26) Dt. Ärztebl. 88, Heft 14, 4. April 1991

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Krankenkassen und der Kassenärzte über eine Neufassung der Arzneimit- telrichtlinien verhandelt. Hierbei ge- hen die Vertreter der Kassenärzte davon aus, daß die Arzneimittel- richtlinien nicht nur dem SGB V ent- sprechen müssen, sondern vor allem auch eine für den Kassenarzt ver- ständliche Erklärung der unbe- stimmten Rechtsbegriffe des Geset- zes geben sollen.

Vor allem kommt es darauf an, die Kassenärzte rechtsverbindlich darüber zu informieren, welche Arz- neimittelverordnung „dem allgemein anerkannten Stand der medizini- schen Erkenntnisse" entspricht. Be- sonders wichtig ist dies geworden, weil für den juristischen Laien (und Kassenärzte zählen dazu!) der Ge- setzestext höchst widersprüchlich ist.

Der § 2 SGB V formuliert: „Behand- lungsmethoden, Arznei- und Heil- mittel der besonderen Therapierich- tungen (Homöopathie, Anthroposo- phie, Phytotherapie etc., der Verfas- ser) sind nicht ausgeschlossen. Qua- lität und Wirksamkeit der Leistun- gen haben dem allgemein anerkann- ten Stand der medizinischen Er- kenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berück- sichtigen!" Das Problem bei der In- terpretation dieser Rechtsnorm be- steht darin, daß ein Großteil der Hochschullehrer, die den „allgemein anerkannten Stand der medizini- schen Erkenntnisse" zu formulieren haben, sich gerade darin einig ist, daß die „besonderen Therapierich- tungen" dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis- se nicht entsprechen. Die Abgren- zungsprobleme liegen auf der Hand.

Gefragt: Substanzen- und Therapienkatalog

Bei der Neufassung der Arznei- mittelrichtlinien kommt es daher darauf an, klar herauszuarbeiten, daß „besondere Therapierichtun- gen" und „Außenseitermethoden"

nicht identisch sind. Es kommt zu- dem darauf an, die Therapiefreiheit des Arztes nicht einzuschränken.

Andererseits muß Sorge dafür getra- gen werden, daß bei der Einzelfall-

prüfung nach § 106 SGB V und einer Flut von Regreßanträgen nicht die gesamte einschlägige Arzneimittel- verordnung eines Kassenarztes durchdiskutiert werden muß, auch wenn sie dem „allgemeinen aner- kannten Stand der medizinischen Erkenntnisse" entspricht.

• Gefragt ist daher ein nach In- dikationen gegliederter Katalog von Substanzen, bei deren Verordnung der Kassenarzt Regreßanträge nicht mehr befürchten muß. In einen sol- chen Katalog wären alle Therapie- maßnahmen aufzunehmen, die dem

„allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse" ent- sprechen. Bei Anwendung dieser Therapiemaßnahmen hätte der Kas- senarzt sich in der Wirtschaftlich- keitskontrolle allenfalls noch für kor- rekte Indikationsstellung und ver- ordnete Menge zu verantworten.

Nur bei der Verordnung von nicht

„dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse" zu- zurechnenden Verfahren wären folg- lich noch Diskussionen in der Wirt- schaftlichkeitskontrolle möglich.

Aber auch diese Maßnahmen dürf- ten nicht von der Erstattungsfähig- keit der gesetzlichen Krankenversi- cherung ausgeschlossen werden, wenn der Arzt die Indikation im Ein- zelfall für erforderlich hält, obwohl sie nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis- se entspricht.

Eine Positivliste zur Arzneimit- telverordnung wird vom Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung nach wie vor abgelehnt. Der ge- forderte Katalog darf daher nicht mit einer solchen Positivliste verwechselt werden.

Zum Unterschied: Es ist zu be- fürworten, daß man dem Kassenarzt mitteilt, welche Stoffgruppen bei der Behandlung der Hypertonie nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ver- ordnet werden können. Nicht zu be- fürworten ist hingegen, wenn man ihn auf die ausschließliche Verord- nung bestimmter Präparate festlegt.

Gegen eine Positivliste sprechen ins- besondere folgende Aspekte:

0 Eine Positivliste würde das Arzneimittelspektrum einschränken.

Für den Patienten wäre nicht mehr

jedes — in seinem individuellen Fall zweckmäßige — Präparat verfügbar.

C) Eine Arzneimitteltherapie mit stark wirksamen Präparaten wür- de gefördert, weil diese den Wirk- samkeitsnachweis eher erbringen können als mild wirksame. Dies wür- de das Risiko unerwünschter Wir- kungen steigern und gegebenenfalls den therapeutischen Nutzen min- dern.

® Mild wirksame Präparate träfe der Bannstrahl auch dann, wenn ihre Wirksamkeit für ein be- stimmtes Krankheitsbild ausreichte.

Beispielsweise wäre Kamillenextrakt auf Kassenrezept schwerer zu ver- ordnen als Nebennierenrindenhor- mone, wenn für erstere kein, für letztere aber ein Festbetrag festge- setzt ist.

Argumente gegen eine „Positivliste"

® Wenn der Arzt in der Aus- wahl der Präparate nicht frei ist, kann er persönliche Eigenheiten der Patienten nicht ausreichend berück- sichtigen. Dies gefährdet die Com- pliance.

C) Gelangt ein „problemati- sches" Präparat durch einen Ent- scheidungsfehler der Positivlisten- Kommission in die Liste, kommt es unausweichlich zu einer Schadens- multiplikation. Man stelle sich vor, wieviel mehr mißgebildete Kinder geboren worden wären, wenn Con- tergan als Positivlistenpräparat ver- ordnungsfähig gewesen wäre (dies ist übrigens gar nicht so unwahrschein- lich, weil Contergan Ende der 50er Jahre als schulmedizinisch bestens ausgewiesenes Präparat der ersten Wahl bei Schlafstörungen galt). Man hielt es damals für weniger giftig als die Barbiturate.

0 Eine Positivliste würde es dem Arzt unmöglich machen, seine Therapiemethoden weiterzuentwik- keln. Die Medizin war niemals eine rein deduktive Wissenschaft, in der ausschließlich aus naturwissen- schaftlichen Gesetzen Handlungs- prinzipien abgeleitet worden wären.

Immer hat die Medizin ihre Wir- kungsmöglichkeiten auch durch un- Dt. Ärztebl. 88, Heft 14, 4. April 1991 (29) A-1157

(5)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

Piti :11 fel 'I Ur

voreingenommene empirische Beob- achtung gewonnen. Dies gilt nicht zuletzt für die Arzneimitteltherapie.

® Außenseitermethoden, die noch nicht wissenschaftlich abgesi- chert sind, würden durch Positivli- sten aus der ärztlichen Versorgung herausgedrängt und in Laienhände (zum Beispiel in die der Heilprakti- ker) verlagert. Dies hat selbst dann Nachteile für den Patienten zur Fol- ge, wenn man von der Unwirksam- keit der Therapie ausgeht. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein sich ver- schlechternder Krankheitsverlauf nicht erkannt wird, ist größer, wenn der Patient nicht einem ausgebilde- ten Arzt, sondern einem Heilprakti- ker oder anderen Laien anvertraut ist.

® Positivlisten verleiten dazu, bei der Auswahl von Arzneimitteln zunächst die anfallenden Kosten und erst danach die Wirksamkeit und den therapeutischen Nutzen im eventuell sehr speziellen Einzelfall zu sehen. Hierunter leidet die Ver- sorgungsqualität.

® Positivlisten zwingen den Arzt unter Umständen, Medikamen- te einzusetzen, mit denen er keine praktischen Erfahrungen sammeln konnte. Hierunter leidet die Arznei- mittelsicherheit. Andererseits hin- dern Positivlisten den Arzt daran, Arzneimittel anzuwenden, mit de- nen er praktische Erfahrung hat.

Hierunter leidet die Wirksamkeit der Therapie.

• Aus all diesen Gründen blei- ben Krankenkassen und Gesetzge- ber aufgerufen, die Vorschriften für die Arzneimittelverordnung in der Kassenpraxis zunächst auf medizini- sche und dann erst auf ökonomische Kriterien zu gründen.

Dr. med.

Klaus-Dieter Kossow Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Herbert-Lewin-Straße 3 W-5000 Köln 41

Eine gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs sollte von folgenden Grundsätzen ausgehen: 1.

Entkriminalisierung des Schwanger- schaftsabbruchs, 2. Schärfung der Aufmerksamkeit für die seelische Not und Belastung ungewollt schwangerer Frauen und Paare, 3.

Vertiefung der „Bewußtheit für vor- geburtliches Menschenleben" von der Empfängnis an, 4. Hilfe statt Strafe. Das fordert eine Kommissi- ons-Empfehlung der Deutschen Ge- sellschaft für Psychosomatische Ge- burtshilfe und Gynäkologie (Deutschland-West) und der Gesell- schaft für Psychosomatische Gynä- kologie und Geburtshilfe (Deutsch- land-Ost).

In den beiden Teilen Deutsch- lands gelten noch getrennte Rege- lungen beim Schwangerschaftsab- bruch: Indikationslösung in den al- ten, Fristenlösung in den neuen Bun- desländern. Bis Ende 1992 muß laut Einigungsvertrag eine gesamtdeut- sche Regelung gefunden werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Psy- chosomatische Geburtshilfe und Gy- näkologie (DGPGG) hat auf einer Tagung im September vergangenen Jahres in Hamburg eine Ost-West- Kommission berufen, welche die Empfehlung erarbeitete. Die „Emp- fehlungen zur Neugestaltung gesetz- licher Regelungen für Schwanger- schaftskonfliktberatung/Lebens- schutz/Schwangerschaftsabbruch"

wurden von den Mitgliedern der DGPGG im Februar in Heidelberg einstimmig verabschiedet.

Die Achtung vor dem „vorge- burtlichen Menschenleben" gehöre, so die Kommissions-Empfehlungen, ebenso in den Grundrechtskatalog wie das Recht auf Selbstbestimmung der Frau. In einem speziellen Le- bensschutzgesetz könnten Schwan- gerschaftskonflikt und Schwanger- schaftsabbruch geregelt werden — deshalb seien die Paragraphen 218 und 219 StGB zu streichen. Bei allen präventiven Bemühungen müsse weiterhin davon ausgegangen wer-

den, daß der Schwangerschaftsab- bruch als gesellschaftliches Phäno- men und als individuelles Schicksal nicht vollkommen zu beseitigen sei.

Durch den Staat seien vor allem pädagogische und gesetzgeberische Initiativen zu ergreifen: Das soziale Klima müsse im Sinne einer emotio- nalen Erziehung zur partnerschaftli- chen Verantwortung für sich selbst, für geborene und ungeborene Kin- der beeinflußt werden. Emotionale Erziehung bedeute also die Vermitt- lung von toleranten und sensiblen Haltungen, die eine gegenseitige Achtung und ein einfühlsames Ver- stehen in der Partnerschaft ermögli- chen. Die Ost-West-Kommission fordert außerdem auch gesellschafts- politische Verbesserungen, wie zum

Beispiel durchgehende Kinderbe- treuung, Halbtagsarbeit für Mann und Frau, familiengerechte Arbeits- zeiten, Mieterschutz und Mietnach- laß. Solche Forderungen wurden auch von Politikern aller Parteien er- hoben. In den Koalitionsvereinba- rungen hatten CDU, FDP und CSU bereits „sozial flankierende Maßnah- men" beschlossen. So wird ab 1993 die Zahlung des Erziehungsgeldes auf 24 Monate verlängert. Durch die Einrichtung zusätzlicher Kindergar- tenplätze will der Bund einen An- spruch auf Kindergartenerziehung ermöglichen.

Die Kommission hält außerdem eine umfassende klientenzentrierte Pflichtberatung für erforderlich. Die- se Beratung solle nicht in erster Li- nie Informationsvermittlung und schon gar nicht manipulative Beein- flussung in eine bestimmte Richtung sein, sondern die Frau soll in der Be- ratung „ihre eigene Befindlichkeit erleben". Ziel der Beratung solle es sein, der Frau beziehungsweise dem Paar zur eigenen Entscheidung zu verhelfen. Diese Pflichtberatung sei zugleich auch die Chance zu einer vertieften Lebensberatung. Berater könnten Frauenärzte, Allgemeinärz- te, Psychologen und Sozialarbeiter sein, sofern sie eine mehrjährige

Ost-West-Konunission fordert Streichung des § 218

... und empfiehlt eine Pflichtberatung der Schwangeren

I Medizinische

Kriterien vorrangig!

A-1158 (30) Dt. Ärztebl. 88, Heft 14, 4. April 1991

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