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Archiv "Geschichte der Medizin: Beginn landesherrlicher Fürsorge" (08.04.2005)

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A960 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 148. April 2005

Geschichte der Medizin

Beginn landesherrlicher Fürsorge

Mit dem Übertritt des hessischen Landgrafen zur Reformation wurden die Klöster zu Stätten landesherrlicher Fürsorge. Vom Selbstverständnis des Landgrafen als Hospitalgründer kündet der „Philippstein“ in Haina.

Irmtraut Sahmland

L

andgraf Philipp der Groß- mütige von Hessen (1504–

1567) war einer der ersten Landesherren, die sich der Re- formation anschlossen und die damit verbundenen Reformen durchführten. Die Geschichte der auf seine Initiative hin gegründeten „Hohen Hospitäler“

im Zeichen von Kontinuität und Wandel ist bemerkenswert:

Einstmals wichtige Elemente im Rahmen einer territorialen Sozi- alfürsorge, sind sie heute Zentren für soziale Psychiatrie in der Trä- gerschaft des Landeswohlfahrts- verbandes Hessen.

Der auf der Homberger Syn- ode 1526 offiziell formulierte Übertritt des Landgrafen zum Protestantismus be- deutete auch eine grundlegende innen- politische Neuorganisation. Der dadurch erzeugte Druck bot zugleich eine Chance landespolitischer Gestaltungsmöglich- keiten. Der Kasseler Landtagsabschied von 1527 enthielt den Aufhebungsbe- schluss der Klosterkonvente und zu- gleich die Bestimmungen über den künf- tigen Verwendungszweck der dadurch frei gewordenen Klostergüter und -ver- mögen. Diese Mittel sollten dienen:

>zur Abfindung der ausscheidenden Mönche und Nonnen,

>zur Erziehung der Kinder des Adels,

>zur Dotierung der Marburger Uni- versität, schließlich

>zum gemeinen Nutzen, um Armut und übermäßige Besteuerung zu vermeiden.

Tatsächlich wurde ein Unterstüt- zungs- oder Hilfsfonds zur Versorgung von Armen eingerichtet (7). Generalvi- sitationen der bestehenden städtischen Hospitäler führten zu reformierten Hospitalordnungen (8). Die Reorgani-

sation des Fürsorgewesens dürfte das Versorgungsgefälle zwischen Stadt und Land deutlich gemacht haben: Waren die Einrichtungen der Kommunen tatsächlich darauf ausgerichtet, mit ihren Mitteln den aus ihrer Bürger- schaft erwachsenden Bedarf zu decken, so waren gleichzeitig die traditionell eher auf das Land hin orientierten Klö- ster mit deren Aufhebung als Elemente in dem Versorgungssystem ausgefallen.

Um diese Versorgungslücke zu schließen, wurden in den Folgejahren die vier so genannten Hohen Hos- pitäler gestiftet. 1533 wurde das bei Marburg gelegene Zisterzienserkloster Haina sowie das ehemals als Augusti- ner-Chorherrenstift geweihte Kloster Merxhausen in der Nähe von Kassel seiner neuen Bestimmung zugeführt, 1535 die Pfarrei Hofheim bei Darm- stadt als Standort für ein Hospital be- stimmt. 1542 wurde das Benediktiner- kloster Gronau bei St. Goar zum Hospi- tal umgewidmet, das jedoch nur bis zum Dreißigjährigen Krieg bestand.

Damit war eine für alle Landesteile flächendeckende Infrastruktur sozial-

fürsorgerischer Einrichtungen auf territorialer Ebene geschaf- fen – ein für diese Zeit einzigarti- ges Konzept. Es findet seinen Ausdruck in der Bezeichnung

„Hohe Hospitäler“, die auf den landesherrlichen Ursprung hin- weist. Philipp nutzte frei verfüg- bare Liegenschaften, die, ihrer bisherigen Nutzung beraubt, ei- nem neuen Verwendungszweck zugeführt werden konnten und aus diversen Einkünften die not- wendigen Finanzmittel für den laufenden Betrieb abwarfen.

Zugleich wurde das Reform- werk durch eine entsprechende testamentarische Verfügung ab- gesichert, sodass es die nachfolgende territoriale Aufteilung unbeschadet als Ganzes überstand, was wiederum in der Bezeichnung „Samt-Hospitäler“ seinen sprachlichen Ausdruck findet.

Der „Philippstein“ – Dokument des Reformprogramms

Eine Darstellung vom Selbstverständ- nis Philipps als Hospitalgründer zeigt der „Philippstein“. Dieser farbig sehr ansprechend gestaltete Reliefstein, von dem Frankenberger Künstler Philipp Soldan geschaffen und auf das Jahr 1542 datiert, befindet sich heute in der Klo- sterkirche in Haina.

In der linken Bildhälfte steht Philipp in Herrscherpose, in einer Bekleidung, die eine Rüstung suggeriert, aber keine ist, bezeichnenderweise auch ohne Schwert und mit einer modisch drapier- ten Kopfbedeckung. Das Gegenüber bildet seine Vorfahrin, die Heilige Elisa- beth. Dem armen Lazarus, dem Reprä- sentanten des Armen, Bedürftigen und Kranken schlechthin, Speise und Trank

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reichend, verrichtet sie einen Liebes- dienst. Die Heilige Elisabeth übt an ihm Nächstenliebe im Sinn der mittelalterli- chen Karitas, und sie hatte in Marburg mit der Errichtung eines franziskani- schen Hospitals diesem Werk ja auch ei- nen Ort (9) geschaffen. Der Text der ihr zugeordneten Spruchtafel lautet:

„Wer Hoffnung hat zu Gottes Reich Der tut nicht dem Exempel gleich Wie ohn Gnad tet der reiche man, der unbarmherziglich ließ stahn Lazarum vor der Tür voller Schwern, Darum musst er, wiewohl ungern, Ewiglich leiden große Qual

In Höllenglut, das nehmt alle wahr.“

Damit wird ausdrücklich die mittelal- terliche Idee gottgefälliger und dem ei- genen Seelenheil dienlicher Barmher- zigkeit zitiert. An diese Tradition knüpft

Philipp an, aber nicht ungebrochen.

Hatte Elisabeth ganz entschieden allen weltlichen Werten und Machtan- sprüchen entsagt, so wird sie hier als Landesherrin mit goldener Krone gese- hen. Dies ist ein mindestens ebenso wichtiger Anknüpfungspunkt Philipps zur Legitimation seines eigenen Werks.

Und schließlich: Elisabeth starb bereits im Alter von 24 Jahren (vermutlich an Tuberkulose). Hier wird sie jedoch als ältere Frau dargestellt; sie ist sehr in die Bildecke gerückt – die Falten ihres Überwurfs liegen auf dem Rahmen, der das Bild begrenzt. Indem sie hinter einer Texttafel agiert, erscheint sie außerdem seltsam in den Hintergrund gedrängt, was im Vergleich zur Positionierung Phi- lipps besonders auffallend erscheint.

Die Harpye (10), ein etwas gezwun- genes Bild mit griechisch-mythologi-

schen und christlichen Elementen, stellt den Eigennutz dar, wie er, so der Vor- wurf, in den Klöstern Einzug gehalten hatte. Mit goldener Haube auf dem Kopf – was auf die Mönche hinweisen mag – sind die großen Fänge Instru- mente unstillbarer Habgier. Philipp hat das Nest der Harpyen – das Kloster – wie ein neuer Hercules ausgeräumt und den Eigennutz mit einer Kette an die Schatztruhe angelegt:

„Bin alhie zum spott gebunden ahn, das mich speyhet jederman.“

Mit anderen Worten: Der Eigennutz wird hier ganz ausdrücklich an den Pranger gestellt, ebenso wie es damals mit Missetätern geschah.

Im Medium der Ikonographie des

„Philippsteins“ wird eine Reformatio proklamiert. Die Heilige Elisabeth er- fährt eine Überformung, die Repräsen- tantin der mittelalterlichen Karitas wird zur Landesmutter mit sozialem Verant- wortungsbewusstsein umgedeutet (11).

Durch diese spezifische Geschichts- schreibung kann die Tradition fortge- schrieben, sie kann für die Legitimation eines neuen Konzeptes funktionalisiert werden.

Wie dieses aussieht, auch darüber gibt der „Philippstein“ Auskunft – auf der Spruchtafel, hinter der Elisabeth nun zurücktreten muss:

„Nun bin ich [das Hospital]

aber so gestift,

dass ich niemandt uffnehm umb gift.

Der arm hat hie aus milter gunst Sein kost, behausung,

kleidt umbsunst.

Gibt anderst jemandts sonst ein gab,

Dem besser Gott sein seel undt haab.“

Jenseits auch weiterhin willkomme- ner karitativer Zuwendungen an die Armen ist die Hospitalstiftung durch die milde Gunst des Landesherrn gesi- chert. Das neue und tragende Element ist damit die soziale Verantwortung der politischen Macht zu gemeinnützi- ger Fürsorge, die auch nicht mehr reli- giös begründet wird. In der Wahrneh- mung dieser Aufgabe ist Philipp großzügig, denn die Bedürftigen wer- den ohne Eigenanteil mit allem Not- wendigen, Unterkunft, Verpflegung

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Hospitäler als Orte sozialer Fürsorge im Mittelalter

Hospitäler sind nur sehr bedingt als Vor- oder Frühformen dessen zu verstehen, was wir heu- te als Krankenhäuser kennen. Das Hospital ist eigentlich ein „Gasthaus“ (lat. hospes: Gast).

Demnach hatte es im Sinn eines Sozialasyls (1) multifunktionale Aufgaben. Die Anfänge liegen in den Klöstern, die seit dem frühen Mittelalter in einer Landschaft ohne Stadtkul- tur Zentren der Konservierung und der Ver- mittlung des antiken Wissens darstellten. Sie brachten ein neues Element ein, das für die abendländischen Hospitäler zentral und prä- gend wurde: das Gebot der Nächstenliebe, aus dem sich der dezidiert christlich geprägte Gedanke der Karitas entwickelte (Matth. 25, 34–45). Das Manifest dieser christlichen Für- sorge beinhaltet die Regula Benedicti, das Re- gelwerk des Benedikt von Nursia (480–542), das der Gründer des Benediktinerordens für sein Kloster auf dem Montecassino erstellt hatte (2). Die architektonischen Erfordernisse, die sich idealerweise daraus ergaben, zeigt der berühmte Klosterplan von St. Gallen, der vermutlich um 820 auf der Insel Reichenau entstand, aber in dieser Form nie realisiert wurde. Das 795 datierte Lorscher Arzneibuch dokumentiert die vielseitigen Kenntnisse der Mönche in der Kräuterheilkunde (3).

Unter deutlichen Anleihen an diese monasti- sche Tradition entstanden Hospitäler auch in den Städten des hohen Mittelalters. Auffallend häufig heißen sie Heilig-Geist-Spital (4), und oftmals konnten sie, ausgerichtet an der Zahl der Apostel, nur zwölf Hospitaliten aufnehmen;

eine Kapazität von 200 Plätzen, über die das Nürnberger Heilig-Geist-Spital von 1339 ver- fügte, war die Ausnahme. Diese oftmals auf pri- vate Fundationen zurückgehenden Einrichtun- gen leisteten einen unverzichtbaren Beitrag kommunaler Sozialfürsorge. In dem Maße, wie der Bedarf in den Städten sich erweiterte und auch veränderte, mussten gleichwohl neue Strukturen geschaffen werden.Viele Hospitäler wurden in die Trägerschaft der kommunalpoli- tischen Vertretung überführt. Im Laufe des 14.

Jahrhunderts erfolgte vielfach eine Erweite- rung der Bürgerhospitäler zu Pfründneranstal- ten, in die sich Bürger prospektiv im Sinn einer Altersversorgung einkaufen konnten (5). Im Zu- ge einer Spezialisierung (6) durch die Einrich- tung gesonderter Pilgerherbergen, Waisen- und Findelhäuser, Pesthäuser, vor allem aber Leprastationen (auch Sondersiechen- oder Gutleuthäuser genannt), reduzierte sich das Bürgerhospital tendenziell auf die Funktion ei- nes Siechenhauses, zuständig für alle diejeni- gen, die vorzugsweise körperlich gehandicapt waren und die durch Altersschwäche, chroni- sche Erkrankungen, körperliche oder geistige Behinderungen, aber auch akute Krankheiten Hilfe und Unterstützung benötigten.

Damit waren die Hospitäler an der Schwel- le der frühen Neuzeit als Sozialasyle wichtige Versorgungsinstanzen mit einem breit ge- fächerten Aufgabenspektrum, wobei sich der ursprüngliche Impetus der christlichen Karitas in den Städten mit einer sozialpolitischen Ver- antwortung der Kommunen verbunden hatte.

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und Kleidung, versorgt. Die Ka- pazität der einzelnen Klöster war unterschiedlich (Haina als die größte Einrichtung hatte zunächst 100 Plätze) und sollte nach Maßgabe der verfügbaren Mittel erweitert werden.

Aufnahmeberechtigt waren ältere Personen (12) aus den Dörfern der Landgrafschaft, nicht aber aus den Städten, zu deren Versorgungseinrichtun- gen die Hohen Hospitäler in Komplementärfunktion stan- den. Sie sollten einen ehrbaren und christlichen Lebenswandel führen. Dennoch wurden hier keine Altenheime für die Land- bevölkerung konzipiert. 1548 befanden sich in Haina 30 geborene Narren und Blinde, etwa zehn Personen waren wahnsinnig; die anderen sind

„alt, krank, lahm und mit plagen und ge- brechen beladen“. Daneben wird eine Zahl von etwa 50 Armen und Gebrech- lichen genannt, zudem gibt es Aussätzi- ge. Die Hospitaliten stellen das breite Spektrum dessen dar, was mit dem Be- griff „siech“ gefasst wurde, und die Be- legungszahl hatte die Marke von 100 bereits weit überschritten.

Regelmäßige Visitationen

Die Aufnahme setzte ein schriftliches Bittgesuch voraus, das im Einzelfall ge- prüft wurde. Ein Bewilligungsbescheid erging in Form eines vom Landgrafen ausgestellten Reskriptes. Es bestimmte auch die Priorität der Aufnahme: ent- weder entsprechend der Reihenfolge (sub ordine) oder bei besonderer Dringlichkeit unter Umgehung der Warteliste (extra ordinem). Das Bewil- ligungsverfahren war Teil einer umfas- senden, modernen Verwaltungsstruk- tur, in die die Samt-Hospitäler einge- bunden waren. Es gab regelmäßige Vi- sitationen und eine jährliche Rech- nungslegung, zu der man in der Zen- tralverwaltung in Haina zusammen-

kam (13). Diese durchstrukturierte Verwaltung war Ausdruck frühmoder- ner Staatlichkeit, sie war nötig, um ein Projekt dieses Ausmaßes zu kontrollie- ren und die eingesetzten Mittel einer gezielten und optimalen Verwendung zuzuführen.

Das Leben in den Hospitälern re- gelte die Hospitalordnung. Die Hospi- taliten waren in den vorhandenen Ge- bäuden untergebracht, erst in späterer Zeit wurden Erweiterungen vorge- nommen. Abgesehen von der Separie- rung der potenziell infektiösen Perso- nen und den ebenfalls gesondert un- tergebrachten Wahnsinnigen, wurden die Insassen nach Art ihrer Gebrechen in Gruppen zusammengefasst. So teil- ten sich die Epileptiker den Raum mit den Blinden, denn diesen konnten sie durch ihren Anblick keinen Schaden zufügen (14).

Strenger Tagesablauf

Der Tagesablauf war streng geregelt und bestand in einem Wechsel aus reli- giösen Andachten (gemeinsamem Ge- bet, katechetischer Unterweisung, Gottesdienst) und Arbeit. Unverkenn- bar stand der benediktinische Grund- satz des „ora et labora“ im Hinter-

grund. Selbst bei Einnahme der Mahlzeiten brachte ein Vorle- ser Bibeltexte zu Gehör, das heißt, es war immer zugleich ei- ne körperliche und geistige Speisung. Diejenigen, die dazu körperlich in der Lage waren, sollten arbeiten, „das man dem teufel durch den müßiggangk nicht raum beweise“ (15). Die Hospitaliten wurden nicht ge- winnbringend auf den klöster- lichen Ländereien eingesetzt, es ging auch nicht um Arbeitsthe- rapie, sondern Arbeit diente der seelischen Unversehrtheit.

Ungehorsam in jeder Form wurde streng geahndet, begin- nend mit Essensentzug konnte je nach Schwere des Vergehens auch Gefängnis und im Wieder- holungsfall die Ausweisung aus dem Hospital ausgesprochen werden. Es ist deutlich, dass das Leben im Hospital von mönchi- schen Elementen bestimmt war, die monastische Tradition lebte in den al- ten Klostermauern fort.

Setzt man die Präsenz ärztlicher Kompetenz als Maßstab an, so scheint der medizinisch-therapeutische Be- reich lange Zeit von untergeordneter Bedeutung gewesen zu sein. Ungeach- tet des Siechtums der Insassen – von Al- tersschwäche über chronische Krank- heiten, körperliche und geistige Behin- derungen bis zu Infektionen – gab es erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts den fest angestellten Hospitalarzt. Aller- dings wurden bis dahin durch einen Barbier oder Bader regelmäßig Schröpfköpfe gesetzt oder zur Ader ge- lassen – Maßnahmen, die damals medi- zinische Grundbestandteile in der Pro- phylaxe wie auch in der Therapie dar- stellten. Darüber hinaus galten chroni- sche Leiden als unheilbar. In akuten Fällen wurde ein Chirurg oder Arzt aus dem Umfeld gerufen; in Haina konnte seit 1577 ein Mediziner der Universität Marburg bemüht werden (16), und es lassen sich Ausgaben für besondere Me- dikationen nachweisen. Vorzugsweise bestand medizinische Versorgung in ei- ner angemessenen Krankenpflege und in der Krankenverpflegung, die im Rah- men der Diätetik einen zentralen Stel- lenwert hatte. Mit der Verköstigung der

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Philipp der Großmütige von Hessen (1504–1567), Brustbild des Landgrafen in Hofkleidung, Öl auf Eiche, Hans Krell bzw. Hans Brosamer, 1539

Foto:Wartburg – Stiftung Eisenach,Kunstsammlung

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Hospitaliten war es sehr gut bestellt, insbesondere im Vergleich mit den ma- teriellen Bedingungen, unter denen sie vor ihrer Aufnahme lebten. Nicht um- sonst war die härteste Strafe der Ver- weis aus dem Hospital.

Das Konzept der Hospitalgründun- gen Philipps lässt sich folgendermaßen charakterisieren: In den Klosteranlagen wurden deutliche Elemente benedikti- nischer Mönchskultur fortgeführt. Die Hospitaliten, die übrigens als Brüder und Schwestern bezeichnet wurden, waren einer strengen und disziplinier- ten Ordnung unterworfen, die wesent- lich vom religiösen Leben bestimmt war, das nun allerdings der protestanti- schen Lehre folgte. Auf der Ebene des Hospitalalltags fand also kein Säkulari- sierungsprozess statt, sondern eine weitgehende Fortschreibung der Tradi- tion. In diesem Sinn blieben die Hos- pitäler christlich-religiöse Einrichtun- gen (17). Der Impetus zu dem Reform- werk erwuchs allerdings aus einem neuartigen, politisch-staatlich begrün- deten Verständnis sozialer Fürsorge, die nicht mehr auf das Fundament christli- cher Karitas verwies, das vielmehr in bezeichnender Weise überformt wurde.

Landgraf Philipp übernahm damit Ent- wicklungen, wie sie auch im Bereich der städtischen Hospitäler skizziert wur- den, und übertrug sie erstmals und in ganz neuer Dimension auf einen terri-

torialen Flächenstaat. Dieser Prozess vollzog sich zunächst langsam, aber ste- tig. Sehr bald wurden die anfänglich festgelegten Aufnahmekriterien ausge- weitet. Ein wichtiger Grund für die all- mähliche Zunahme des Anteils Geistes- kranker lag darin, dass es sich bei diesen Personen häufig um akute Fälle handel- te. Geisteskranke, die rasend waren oder an periodischem Schwachsinn lit- ten, waren oftmals suizidgefährdet und stellten eine Bedrohung für ihre Umge- bung dar. In solchen Fällen bestand un- mittelbarer Handlungsbedarf. Diese Menschen wurden extra ordinem aufge- nommen, und es konnte ein über viele Jahre oder Jahrzehnte sich erstrecken- der Aufenthalt im Hospital folgen.

Einrichtungen der Irrenpflege

Ein weiterer Grund für diese latente Entwicklung bestand darin, dass sich bei vorliegender Geisteskrankheit die Zuständigkeit der Hohen Hospitäler auch auf die Stadtbürger ausdehnte.

Die städtischen Hospitäler waren nicht dafür ausgelegt, tobsüchtige Personen aufzunehmen, und so war die struktu- relle Aufteilung zwischen Stadt und Land hier aufgehoben.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die bis dahin eher schleichende Schwerpunktverlagerung auf eine Bele-

gung mit geisteskranken Menschen for- ciert. In diese Zeit fallen die Anfänge der Psychiatrie, die Geisteskrankheiten als eine medizinische Kategorie zu fas- sen versuchte mit der Perspektive, sie behandeln und doch zumindest teilwei- se heilen zu können. Angesichts dieses neuartigen Bedarfs zur Unterbringung Geisteskranker wurden die Hohen Hospitäler nun zu Einrichtungen der Ir- renpflege umgewidmet und im Regula- tiv für das Hospital Hofheim von 1828 festgeschrieben (18).

Die Hohen Hospitäler hatten sich zu diesem Zeitpunkt längst von ihrem ur- sprünglichen Zweck entfernt. Die zwei- te Phase ihrer Geschichte hatte begon- nen: Als Irrenverwahr- und Heilanstal- ten waren sie eingebunden in die Aus- einandersetzungen um die Versorgung und Behandlung der Geisteskranken.

Die in diesem medizinischen Diskurs entwickelten Therapiekonzepte ver- langten nach einer entsprechenden baulichen Ausstattung. Es ging um die Frage eines Neubaus auch an anderer Stelle, mindestens aber um Erweite- rungsbauten, um die nötigen Standards für einen Heilerfolg der Patienten bie- ten zu können und um die Kapazitäten zu erweitern, die permanent hinter der eklatant steigenden Nachfrage zurück- blieben. 1826 waren in Hofheim 257 Hospitaliten, 1864 bereits 425. Schließ- lich wurde mit Heppenheim an der Bergstraße 1866 eine weitere Irrenheil- anstalt eröffnet. Im Hospital Hofheim ebenso wie in den anderen Hohen Hos- pitälern blieb die Erinnerung an deren Gründer stets wach. So wie Philipps Hospitalgründungen im 16. Jahrhun- dert war auch die Entwicklung zu Spezialkrankenhäusern für psychisch Kranke im 19. Jahrhundert eine Reakti- on auf eine unmittelbare Bedarfslage.

Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 148. April 2005 AA965

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2005; 102: A 960–965 [Heft 14]

Anschrift der Verfasserin:

Priv.-Doz. Dr. phil. Irmtraut Sahmland Institut für Geschichte der Medizin Justus-Liebig-Universität Gießen Iheringstraße 6

35392 Gießen

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit1405 abrufbar ist.

Hospital Haina, Kupferstich von Matthäus Merian 1646 aus „Topographia Hassiae“, nach der Vorlage aus Wilhelm Dillichs „Hessische Chronika“, Kassel 1605

Foto:LWV-Hessen,Archiv Kassel

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Literatur

1. Knefelkamp U: Über den Funktionswandel von Spitälern vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, aufgezeigt an Beispielen aus Deutschland, England und Italien. Historia Hospitalium 2001/01; 22: 9–34.

2. Steidle B (Hrsg.): Die Benediktus-Regel, lat.-dt., 3.

Aufl. Beuron 1978.

3. Keil G (Hrgs.): Das Lorscher Arzneibuch, 2 Bände.

Stuttgart 1989.

4. Der Name verweist eher selten auf die Fundation durch den Heilig-Geist-Orden. Vielmehr ist er der zeitgenössischen Vorstellung verpflichtet, die den Heilig Geist als „pater pauperum“, als Vater der Ar- men, verehrte.

5. Windemuth ML: Das Hospital als Träger der Armen- fürsorge im Mittelalter. Stuttgart: Sudhoffs Archiv, Beihefte, 1995; 36: 104.

6. Diese wird auf das 15. Jahrhundert datiert. Knefel- kamp U: Über den Funktionswandel von Spitälern vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, aufgezeigt an Beispielen aus Deutschland, England und Italien.

Historia Hospitalium 2001/01; 22: 9.

7. Demandt KE: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen. In: Hessisches Jahr- buch für Landesgeschichte, Bd. 30, 1980; 176–235, 183. Grundlegend auch: Heinemeyer W, Pünder T (Hrsg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen. Marburg:

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 1983; 47.

8. Vgl. ebd., S. 185.

9. Pikanterweise waren die Franziskaner in Marburg ein Hort der Antireformation, sie bildeten ein „Wider- standsnest“, sodass hier neben dem geistesge- schichtlichen Bezug auf Elisabeth womöglich ein un- mittelbar aktuell politischer mitzudenken ist.

10. Nach der griechischen Mythologie ein mit Federn be- setzter Frauenkörper, der habgierig Schätze sammelt.

11. Wenige Jahre zuvor hatte Philipp mit der Umbettung ihrer Gebeine aus dem Schrein in der Marburger Kir- che auf den Pilgerfriedhof ebenfalls eine Revision des Bildes der katholischen Heiligen beabsichtigt.

12. Anfangs wurde bestimmt, sie sollten mindestens 60 Jahre alt sein, „es were dan, dass es ein solch ge- brechlich mensch were, der sonst zu nichts dienlich“

Demandt KE: Die Anfänge der staatlichen Armen-

und Elendenfürsorge in Hessen. In: Hessisches Jahr- buch für Landesgeschichte, Bd. 30, 1980; 199.

13. Friedrich A: Die Visitation und Abhörung der Jahres- rechnungen der Hohen Hospitäler in Hessen und das Hospital Hofheim. In: Sahmland I, Trosse S, Vanja Chr et al. (Hrsg.): „Haltestation Philippshospital“. Ein Psychiatrisches Zentrum – Kontinuität und Wandel 1535–1904–2004. Marburg: Historische Schriften- reihe des LWV Hessen. Quellen und Studien 2004, Bd. 10; 65–78.

14. Vanja Chr: Das Hospital Haina von 1533 bis zum Be- ginn des 18. Jahrhunderts. In: Psychiatrie-Museum Haina. Ausstellung, Bibliothek und Archiv zur Hospi- tal- und Krankenhausgeschichte. Kassel: Historische Schriftenreihe des LWV Hessen, 1992, Kurzführer 1;

13.

15. Demandt KE: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen. In: Hessisches Jahr- buch für Landesgeschichte, Bd. 30, 1980; 200.

16. Aumüller G: Ärztliche Versorgung und Leitung der hessischen Hohen Hospitäler im 16. und 17. Jahrhun- dert. In: Friedrich A, Heinrich F, Vanja Chr (Hrsg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte.

Zum 500. Geburtstag Philipps des Großmütigen.

Petersberg: Historische Schriftenreihe des LWV Hes- sen. Quellen und Studien 2004, Bd. 11; 79–92.

Demandt KE: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen. In: Hessisches Jahr- buch für Landesgeschichte, Bd. 30, 1980; 220.

17. Dass diese Tradition auch im Bewusstsein fortbe- stand, zeigt sich darin, dass die Bezeichnung Kloster Haina wie selbstverständlich bis heute erhalten blieb.

18. Großherzoglich hessisches Regierungsblatt auf das Jahr 1828, Nr. 38, 8. Sept. 1828: 397 ff.

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 14⏐⏐8. April 2005 AA1

Literaturverzeichnis Heft 14/2005:

Geschichte der Medizin

Beginn landesherrlicher Fürsorge

Mit dem Übertritt des hessischen Landgrafen zur Reformation wurden die Klöster zu Stätten landesherrlicher Fürsorge. Vom Selbstverständnis des Landgrafen als Hospitalgründer kündet der „Philippstein“ in Haina.

Irmtraut Sahmland

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