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ange Zeit wurde hierzulande der Mythos gepflegt, nur zu einem ver- schwindend geringen Anteil seien die deutschen Mediziner in der Zeit des Nationalsozialismus an Menschenver- suchen in den Konzentrations- oder Kriegsgefangenenlagern beteiligt ge- wesen. Dass es sich nicht allein um die Untaten einzelner Ärzte handelte, son- dern dass das deutsche Wissenschafts- system mit seinen tragenden Institutio- nen im Rahmen der medizinischen For- schung insgesamt sehr viel stärker mit dem NS-Unrechtssystem verstrickt war, wird erst seit wenigen Jahren mehr und mehr zur Kenntnis genommen. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat mittlerweile die Zeichen der Zeit erkannt und ein Forschungsprojekt gestartet, das sich mit der eigenen Ver- gangenheit beschäftigt und insbesonde- re darauf abzielt, institutionelle, perso- nelle und forschungsstrategische Brü- che und Kontinuitäten vor und nach 1933 sowie vor und nach 1945 zu unter- suchen.Inwieweit der Staat mit seiner For- schungsförderung durch die DFG, durch den Reichsforschungsrat oder durch seine militärischen Institutionen zwi- schen 1933 und 1945 ein medizinisches Forschungshandeln ermöglichte, das Menschen im Dienste eines höher er- achteten allgemeines Zieles instrumen- talisierte, misshandelte und tötete, war Schwerpunkt einer vom Institut für Geschichte der Medizin der Univer- sität Heidelberg veranstalteten Tagung.
Diese befasste sich unter dem Titel
„Man, Medicine and the State: The Human Body as an Object of Govern- ment Sponsored Research, 1920–1970“
aber nicht ausschließlich mit den (pseu- do)medizinischen Forschungen an Menschen in der NS-Zeit. Auch im internationalen Kontext suchte man die Bedingungen auszumachen, unter
denen es der Staat und seine Institu- tionen für nötig erachten, unter Miss- achtung der individuellen Rechte be- stimmte Bevölkerungsgruppen medizi- nisch auszubeuten.
Die Syphilis-Experimente des Bres- lauer Dermatologen Albert Neisser führten bereits ausgangs des 19. Jahr- hunderts in Deutschland zu einer brei- ten öffentlichen Debatte um die Zu- lässigkeit von Versuchen an Menschen.
In einer Anweisung des preußischen Kultusministeriums an die Kranken- anstalten wurde 1900 vorgeschrieben, dass solche medizinischen Eingriffe nur nach Belehrung und Einwilligung der Patienten zulässig seien. Die vom Reichsministerium des Innern 1931 er- lassenen „Richtlinien für die neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche an Men- schen“ setzten bereits Standards, die hinter denen der (erst nach dem Zwei- ten Weltkrieg formulierten) Deklara- tionen von Helsinki und Tokio nicht zurückstehen. Die Richtlinien von 1931 waren allerdings zwei Jahre später mit der Machtübernahme der National- sozialisten und dann insbesondere mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nur noch Makulatur.
Unter den Bedingungen des andau- ernden Krieges gab es kaum mehr ethi- sche Bedenken bei der experimentellen Nutzung des menschlichen Körpers, der in den Konzentrations- und Kriegsge- fangenenlagern in ausreichender Zahl zur Verfügung stand. Malaria- und Fleckfieberexperimente, Unterdruck- und Kälteversuche, kriegschirurgische Experimente, Ernährungs(entzugs)for- schung, Versuche mit biologischen und chemischen Kampfstoffen – das Spek- trum der von Ärzten durchgeführten Menschenversuche, bei denen der Tod der Probanden billigend in Kauf ge- nommen wurde, ließe sich noch um viele Beispiele erweitern. Diese men- schenverachtenden Experimente kann man nicht – dies geht aus den in Hei- delberg vorgestellten historischen For- schungsprojekten hervor – als isolier- te krankhafte Einzeltaten von Medizi- nern klassifizieren, son- dern sie waren verwo- ben in ein Geflecht von institutionalisierter For- schungsförderung sowie von Mitwisser- und Mit- täterschaft.
Aufgezeigt wurde aber auch, dass solche ver- werflichen Humanversu- che kein isoliertes Phä- nomen der deutschen NS-Vergangenheit dar- stellen, sondern dass es weltweit im 20. Jahrhun- dert immer wieder zu ei- ner missbräuchlichen Ausbeutung be- stimmter Bevölkerungsgruppen durch Ärzte kam. Ein Beispiel hierfür sind die groß angelegten Menschenversuche der japanischen Armee vor allem an chi- nesischen Kriegsgefangenen im Ver- lauf des chinesisch-japanischen Krieges (1937–1945). In den USA haben mitt- lerweile Berichte über die dort in den Jahren 1945 bis 1970 insbesondere an Strafgefangenen durchgeführten Strah- lenexperimente für großes Aufsehen gesorgt. Gleiches gilt für das „Tuskegee Syphilis Experiment“ in Alabama, in dessen Verlauf in den Jahren 1932 bis 1972 mehr als 400 US-Amerikanern afrikanischer Herkunft, die an Syphilis erkrankt waren, zu Studienzwecken jegliche medizinische Therapie vorent- halten wurde. Thomas Gerst P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 457. November 2003 AA2915
Geschichte der Medizin
Versuche an Menschen
Staatlich geförderter Forschungsmissbrauch des menschlichen Körpers war Thema einer Tagung in Heidelberg.
Tödliche Unterkühlungsversuche im KZ Dachau
Foto:dpa