A-630 (70) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 10, 8. März 1996 Die großen vielbejubelten
Tübinger Retrospektiven von Edgar Degas (1834 bis 1917) und Paul Cézanne (1839 bis 1906) haben jetzt auch den farbdurchglühten, heiteren Gemälden von Auguste Re- noir (1841 bis 1919) den Weg in die Kunsthalle der schwä- bischen Universitätsstadt gebahnt: Mit 104 Bildern – Leihgaben aus aller Welt – hat sich Kunsthallen-Direk- tor Götz Adriani der reizvol- len, wenngleich
auch etwas ris- kanten Heraus- forderung ge- stellt, dem scheinbar all- zu bekannten Werk des be- liebtesten unter den französi- schen Impres- sionisten neue Aspekte abzu- gewinnen.
„Unter fort- schrittlich ge- sinnten Kunst-
kennern gehört es heute vielfach zum guten Ton, sich über Renoir und seine im- pressionistischen Freunde zu mokieren“, erklärt Adriani im Ausstellungskatalog. „Zu viel Oberfläche, zu wenig Tiefgang wird vor allem von deutscher Seite moniert. Man vermißt Bekennertum und Innovation.“
Die Auswahl, die Adriani für die erste umfassen- de Renoir-Retrospektive in Deutschland traf, lenkt des- halb das Augenmerk auf das zwischen 1860 und 1885 entstandene Frühwerk und bricht erfolgreich mit dem Re- noir-Klischee süßlicher Ka- lenderbilder. Aus (Schweizer) Privatbesitz und aus amerika- nischen Museen stammen vie- le der Landschaftsbilder von außergewöhnlicher Schön- heit, die allein schon den Be- such der Ausstellung lohnen.
Paris mit seinen damals neu- geschaffenen „Großen Bou- levards“ – so heißt die be- kannteste Paris-Ansicht Re- noirs, aus dem Philadelphia Museum of Art stammend – ist ein seltenes Motiv zwi- schen den sonnigen Land- schaften, in denen Natur und Mensch malerisch verschmel- zen. Von einem 1860 entstan- denen, ungeschönt-realisti- schen Porträt der Mutter Renoirs bis zu einem späten
„Selbstbildnis mit weißem Hut“ von 1910 reicht die Reihe der eindrucksvollen Menschenbilder. Und natür- lich spielen, gemäß dem Ge- samtœuvre der über 6 000 (!) Gemälde, zwischen den Por- träts von Freunden und Kunsthändlern die Dar- stellung anmutiger junger Mädchen und Frauen eine wichtige Rolle.
Renoirs Spätwerk der prallen Akte wird in der Tü- binger Retrospektive nicht ausgespart, aber sehr dosiert vorgeführt.
Die Ausstellung ist bis 27.
Mai in der Kunsthalle in Tü- bingen zu sehen. Öffnungs- zeiten täglich (außer Mon- tag) von 10 bis 20 Uhr; Oster- montag und Pfingstmontag geöffnet. Der Katalog mit 328 Seiten kostet in der Aus- stellung 39 DM, im Buchhan- del 98 DM. Ruth Händler
V A R I A FEUILLETON
Auguste-Renoir-Ausstellung
Von der Sonnenseite des Lebens
Auguste Renoir: Claude Monet mit ihrem Sohn Jean im Garten von Argenteuil, 1874 Foto: Kunsthalle Tübingen