[84] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 22|
3. Juni 2011S C H L U S S P U N K T
KÖRPERBILDER: PAUL CÉZANNE (1839–1906)
Harmonie von Mensch und Natur
A
nfang des 20. Jahrhunderts trugen zwei Schwestern aus Baltimore eine der bedeutendsten Kunstsamm- lungen der Welt zusammen: die Cone Collection, heute Aushängeschild des Baltimore Museum of Art. Seit 1902 reisten Claribel und Etta Cone regelmäßig nach Paris und erwarben von damals noch wenig bekannten Künstlern Gemälde, die sie zu Hause in ihren Wohnungen aufhäng- ten. „Die Bilder bedeckten jeden freien Zentimeter an den Wänden, bis hin zum Badezimmer. Sie kauften nur, was sie wirklich mochten, und liebten jedes einzelne Werk, das sie erworben hatten“, erinnerte sich Edward T. Cone nach einem Besuch der mit Avantgardekunst voll gestopf- ten Apartments seiner Tanten.Zu den von den Baltimorer Damen mit bemerkens- wertem Sachverstand ausgewählten Arbeiten gehörten neben Bildern unter anderem von Matisse, Picasso und van Gogh auch „Die Badenden“ von Paul Cézanne, die dieser um 1900 gemalt hatte. Cézannes Akte galten da- mals gemeinhin als hässlich, unförmig, gar bestialisch.
Lediglich in Künstlerkreisen ahnte man schon die über- ragende Bedeutung des Kollegen, der durch seinen ex- perimentellen Umgang mit Abstraktion und Perspekti- ve zum Wegbereiter der Moderne werden sollte. In den
„Baigneurs“ stellte er nackte Körper in die arkadische Natur seiner Heimat Aix-en-Provence, deren Ge-
schlecht trotz des eindeutig männlichen Bildtitels am- bivalent ist. Es sind anonyme Einzelwesen ohne Per- sönlichkeit, deren formale Gestalt dem Maler wichtiger war als ihre Individualität. Denn Cézanne wollte auf der Leinwand ein harmonisches Gefüge aus Proportio- nen, Rhythmik und Farben schaffen und damit die sichtbare Welt mit den Mitteln der Kunst neu erfinden.
Von der traditionell-ästhetisierenden Abbildung realer Körper hatte sich der Rebell längst verabschiedet. Oh- nehin malte er diese meist aus der Erinnerung, da er die Konfrontation mit nackten Modellen scheute.
Seine androgynen, skulpturalen Gestalten erlauben aufgrund ihrer künstlerischen Perfektion anatomische Abweichungen und sind nicht gängigen Formeln von Schönheit unterworfen. Dieses Konzept verfolgte Cé- zanne bis zu seinem Tod mit unerbittlicher Konse- quenz: Circa 200 Versionen der Badenden schuf er in drei Jahrzehnten und verließ mit jedem neuen Bild mehr den Boden der Tradition. Sabine Schuchart
Paul Cézanne, „Les Baigneurs“, 1898–1900, Öl auf Leinwand, 27 × 46,1 cm: Figur und Landschaft verschmelzen zu einer Einheit, wenn Cézanne seine Badenden am Ufer eines Flusses zwischen Bäumen und Sträuchern gruppiert. Das transzendente, ins Violett gehende Blau des Himmels und das Ockergelb des Bodens bis hin zum lichten Grün der Blätter verwendet er auch zur Kolorierung der nackten Männerkörper. Die langgestreckten androgynen Leiber sind kaum von den hohen Stämmen der sich im Wind wiegenden Zypressen zu unterscheiden.
Die Szene drückt Harmonie und Ordnung aus, das Gleichgewicht von Mensch und Natur ist perfekt.
© The Baltimore Museum of Art: The Cone Collection; Foto: Mitro Hood
LITERATUR/DVD
1. Michael Doran (Hrsg.): „Gespräche mit Cézanne“, Taschenbuch, 288 Seiten, Diogenes, 1991, 9,90 Euro.
2. „Paul Cézanne“: 3 Dokumentarfilme, DVD, 108 Minuten, Absolut Medien/Arte Edition, Neuauflage: 1. Juli 2011, 14,90 Euro.
AUSSTELLUNG
„Matisse, Picasso, and the Parisian Avant-Garde“
The San Francisco Museum of Modern Art, 151 Third Street, San Francisco (USA);
www.sfmoma.org;
Mo./Di. und Fr.–Sa.
11–17.45 Uhr, Do. 11–21.45 Uhr;
bis 6. September 2011