Die Bürger von Calais (auf einem Gerüst in Meudon) 1889;
durch die ungewöhnliche Perspektive sowie die Umgebung tritt ein Ausdruck von Leichtigkeit und Bewegung hinzu
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
BUCHMAGAZIN
Auguste Rodin aus der Perspektive der Kamera
Maler sah, sondern was er wußte und dachte, führte Picasso allmählich zur zweidimensionalen Wie- dergabe des Körpers in sei- ner verkrampft wirkenden Haltung und grimassieren- der Form. Picasso stellte mit „dieser Verrückung der dinglichen Bezugssyste- me" das Verlangen nach einer neuen Definition des
„Wirklichen".
Mit genialem Einfallsreich- tum und leidenschaftlicher Schaffenskraft gestaltete der spanische Künstler sei- nen Stil bis zuletzt mit im- mer neuen Akzenten. — Un- verkennbar ist der Einfluß auf die Kunst des 20. Jahr- hunderts, die Picasso so- wohl mit der Vielfältigkeit des Werkes, aber auch durch seine vitale Persön- lichkeit entscheidend mit- bestimmt hat.
Der überschaubar geglie- derte Band mit seinem ver- ständlichen Text auf ho- hem wissenschaftlichen Niveau ermöglicht dem Le- ser, die einzelnen Phasen im Lebenswerk des Künst- lers anhand der zahlrei- chen, meist farbigen, und zum Teil bisher noch nicht veröffentlichten Abbildun- gen nachzuvollziehen.
Der außergewöhnlich groß- formatige Bildband, sorg- fältig mit bis zu sechs Far- ben gedruckt, enthält über- dies auch vier große, aus- klappbare Bildtafeln, die die beeindruckende Monu- mentalität von Picassos Bildern widerspiegeln.
Mehrere, den Abbildungen beigefügte Zitate Picassos lassen auch die Absicht des Künstlers bei der Inter- pretation des Werkes er- kennen.
Dieser Band eignet sich da- her hervorragend, einen umfassenden Aufschluß über das Gesamtwerk Pi- cassos vor seinem philoso- phischen Hintergrund zu vermitteln.
Ursula Friedrichs
Helene Pinet: Rodin, Der Künstler im Licht seiner Fo- tografen, Verlag Klett-Cot- ta, Stuttgart, 1986, 192 Sei- ten, 160 Abbildungen, Lei- nen mit Schutzumschlag, 78 DM
Der außergewöhnliche Fund von mehr als 7000 verschollenen Photos der Skulpturen von Auguste Rodin hat eine bislang völ- lig unbekannte Eigenheit im Schaffensprozeß des französischen Bildhauers aufgedeckt.
Im Gegensatz zu vielen sei- ner Kollegen, die in der noch in den Anfängen stek- kenden Photographie be- reits eine Konkurrenz zur bildenden Kunst witterten, hatte Auguste Rodin sie schon früh zweckmäßig für seine Arbeit einzusetzen gewußt.
Fasziniert von dem eigen- tümlichen Reiz und der Ästhetik einiger Photos, die er von einigen seiner Wer-
ke eigens anfertigen ließ, um sie 1896 in Genf auf ei-
ner Ausstellung zu präsen- tieren, arbeitete er im Ver- lauf der folgenden Jahre in- tensiv mit fünf verschiede- nen Photographen zusam- men, die — meist streng nach Anweisung des Künstlers — perspektivisch gekonnt photographierten.
Der Wahl der Beleuchtung unter Ausnutzung ver- schiedenster Lichtreflexe schenkte Rodin seine be- sondere Aufmerksamkeit, denn durch sorgfältig be- messene Lichtverhältnisse konnten auch die Fein- heiten der Modellierung ef- fektiv zur Geltung gebracht werden.
Der Wunsch nach Interpre- tation seiner Skulpturen mit immer neuen photogra- phischen Mitteln veranlaß- te Rodin schließlich sogar, die Platten und Photoabzü- ge so umzuarbeiten, daß die Plastik verfremdet, und das Photo durch besonde- re Effekte selbst zum ei- genständigen künstleri- schen Werk wurde.
Rodins produktivste Schaf- fensphase wurde sehr ge- nau mit der Kamera ver- folgt, der Entstehungspro- zeß mancher Skulpturen minuziös festgehalten. Für den Künstler war die Pho- tographie auch „ein Filter, der sich zwischen den Bild- hauer und sein Werk stellte und ihm erlaubte, seine Skulptur mit neuen Augen zu betrachten, und ihn zu mancherlei Verbesserun- gen und Veränderungen anregte".
Die sorgfältige Auswahl von Photos, die dem Bild- band zugrundeliegt, gibt einen umfassenden Ein- blick in das photographi- sche Werk, das sich paral- lel zur Bildhauerei ausbil- dete. Häläne Pinet, Leiterin der Abteilung Photogra- phie am Museum Rodin in Paris, erläutert dem Leser sachkundig die Wechsel- wirkung zwischen Skulptur und Photographie.
Ursula Friedrichs
3560 (66) Heft 50 vom 10. Dezember 1986 83. Jahrgang Ausgabe A