A670 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 14⏐⏐3. April 2009
K U LT U R
Vor dem Landgericht Dres- den mussten sich vom 16. Ju- ni bis 7. Juli 1947 19 Ärzte, Pfleger und Krankenschwes- tern der Anstalten Groß- schweidnitz und Pirna-Son- nenstein wegen Kranken- mordes in der NS-Zeit ver- antworten. Die Ärzte Prof.
Dr. Paul Nitsche und Dr.
Ernst Leonhardt wurden zum Tode, Dr. Günther Langer zu 15 Jahren Zuchthaus verur- teilt. Todesurteile ergingen auch gegen zwei Pfleger des
„Sonnensteins“, Hermann Felfe und Erhard Gäbler. Gegen weitere Angeklagte wurden (teils hohe) Zuchthausstrafen verhängt, eine Ärztin und ein Arzt sowie eine Schwester wurden mangels Bewei- sen freigesprochen. Ein weiterer Arzt hatte sich vor Prozessbeginn umgebracht. Leonhardt und Felfe begingen nach dem Prozess Suizid.
Die Todesurteile gegen Nitsche und Gäbler wurden im Innenhof des Landgerichts am Münchner Platz in Dresden am 25. März 1948 voll- streckt.
Die Angeklagten/Verur- teilten hatten aktiv bei der
„Aktion T4“ oder dem an- schließenden Krankenmord mittels Medikamenten mit- gemacht. Auf dem Sonnen- stein wurden während T4 die Patienten vergast und ver- brannt, Großschweidnitz fun- gierte als sogenannte Zwi- schenanstalt, das heißt Zu- bringer zum Sonnenstein, und nach dem Ende von T4 als Tötungsanstalt.
Der Dresdener Prozess gilt als einer der frühesten Versuche, dem NS-Krankenmord juristisch beizu- kommen. Er fand unter Oberhoheit der sowjetischen Besatzung statt, Rechtsgrundlage war das Kontroll- ratsgesetz Nr. 10, das unter anderem die Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit betraf. Auffallend an diesem Prozess ist, dass er vor einem deutschen Gericht, im gerade entstandenen (wenig später wieder kassierten) Land Sachsen ablief und sich die Akteure rechtsstaatlichen Normen verpflichtet fühlten. Den Angeklagten wurde somit ein fairer
Prozess gemacht (wenn auch die Ver- hängung der Todesstrafe aus heutiger Sicht zu verurteilen wäre).
Die von Boris Böhm und Gerald Hacke – der eine leitet die Gedenk- stätte Sonnenstein, der andere die am Münchener Platz – herausgege- bene Veröffentlichung beschreibt gut belegt, verständlich, ja geradezu vorbildlich den Prozess, dessen Vor- geschichte und Begleitumstände.
Detailliert geschildert werden der Prozessverlauf und die Biografien der Prozessbeteiligten, nicht nur, wie bei Gerichtsberichten sonst ver- breitet, der Angeklagten, sondern auch der Richter, Ankläger, Anwälte und medizinischen Gutachter.
Zwei ergänzende Beiträge be- handeln die juristische Aufarbei- tung der NS-„Euthanasie“ in West- deutschland (am Beispiel des Düs- seldorfer „Euthanasie“-Prozesses von 1948/1950) und Ostdeutschland – eine unbefriedigende Bilanz: Her- unterspielen der Schuld im Westen, zunehmende politische Instrumenta- lisierung im Osten. In Dresden kam es hingegen 1947 weder zu einem Schauprozess, wenn auch die öffent- liche Begleitmusik beträchtlich war, wie in einem der Buchbeiträge nach- zulesen ist, noch zum Reinwaschen der Mörder. Norbert Jachertz ZEITGESCHICHTE
Dresdener „Euthanasie“-Prozess
Boris Böhm, Gerald Hacke (Hrsg.): Funda- mentale Gebote der Sittlichkeit.Der „Eu- thanasie“-Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947. Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Band 14, Sandstein, Dresden 2008, 212 Seiten, kartoniert, 15 Euro
Die Fans von Johann Sebastian Bach bewegt seit Langem die Fra- ge nach dem Sinn seines späten Rätselwerks, des „Musicalischen Opfers“. Handelt es sich bei diesem 1747 von König Friedrich dem Großen angeregten Zyklus aus ei- ner Triosonate, kniffligen Fugen und artifiziellen Kanons um eine riesige Knobelaufgabe, gar um eine Demonstrationsshow aus Bachs ein- zigartiger kontrapunktischer Werk- statt? Gibt es einen unbekannten spirituellen Kern, von dem man bis- lang nur die Randbereiche identifi- ziert hat?
Hans-Eberhard Dentler, Arzt und Cellist zugleich, hat jetzt die gleichsam endokrine Steuerung des
Komponiervorgangs er- forscht und die Frage be- antwortet, was Bach hier hat sagen wollen. Bis- lang war es üblich, die originale Reihenfolge der Sätze wild zu ver- tauschen, als seien zere- brale Schichtaufnahmen neu zu sortieren. Falsch,
lehrt Dentler. Er baut für seine Bach-Analyse ein mächtiges geis- tesgeschichtliches Fundament auf, um nachzuweisen, dass der Thomas- kantor sein Werk in ein kopernika- nisches System stellte, in dem alles seinen interstellaren Platz hat;
Astronomie, Rhetorik und Mathe- matik sind die Trigger und Bezugs-
disziplinen gleichermaßen. Tatsäch- lich muss man sich klarmachen, dass Bach das Werk nicht nur aus Gehorsam schrieb, sondern auch aus Lust – für Lorenz Mizlers „So- cietät der akademischen Wissen- schaften“, eine elitäre Runde von Tüftelbrüdern; Friedrich selbst war ja ein gebildeter Mann, den das Denken ebenso vergnügte wie das Regieren.
Irdische Musik, kosmische Mu- sik, Sonne, Mond und sogar die Einleitungsrede als Rahmenpunkte, in der Mitte eine Symmetrieachse, um welche alles wie in einer Kathedrale gespiegelt ist: Ein solches Sudoku des Hochbarock konnte nur Bach einfallen. Der Preußenkönig, Herrscher vor Gott und Welt, hatte genau gewusst, warum er ihm den Auftrag gab.
Wolfram Goertz JOHANN SEBASTIAN BACH
Sudoku des Hochbarock
Hans-Eberhard Dentler:
Johann Sebastian Bachs „Musicalisches Opfer“.Musik als Abbild der Sphärenharmonie.
Schott Musikwissen- schaft. Schott Music, Mainz 2008, 207 Seiten, kartoniert, 39,95 Euro