Die Motette von
Guillaume de Machaut bis
Johann Sebastian Bach
Psalmmotetten II
Josquin
Domine, ne in furore tuo
Psalmmotetten II - Domine, ne in furore - Josquins Motette Domine, ne in furore
tuo umfasst sieben Psalmverse, keinen vollständigen Psalm.
- Die Motette verwendet keinen Tenor bzw. Cantus prius factus.
- Zum Ausgleich entwirft Josquin eine Struktur, die man mindestens in der Prima pars geradezu als „motivische Arbeit“ bezeichnen kann.
Psalmmotetten II - Domine, ne in furore
- So verwendet Josquin für die ersten beiden Verse ein Terz-Quint-Motiv, das mehrfach durchgeführt und
teilweise auch variiert wird.
- Der Folgevers setzt dem einen in Sekundschritten absteigenden
Quintgang entgegen.
- Der Schlussvers exponiert, dem
Textinhalt folgend, ein Lamentomotiv.
Psalmmotetten II - Domine, ne in furore
Prima pars A
Domine, ne in furore tuo arguas me, Ps 37,2.3 Terz-Quint-Motiv =
neque in ira tua corripias me. Hauptmotiv
Quoniam saggittae tua infixe sunt mihi,
et confirmasti super me manum tuam. var. Hauptmotiv B
Non est sanitas in carne mea facie irae tuae, Ps 37,4 Quintgang
non est pax ossibus meis „Exclamatio“ + var.
a facie peccatorum meorum. Hauptmotiv (B)
C
Miser factus sum
et curvatus sum usque in finem, Ps 37,7 Lamentomotiv tota die contristatus ingrediebar.
Psalmmotetten II - Domine, ne in furore
Psalmmotetten II - Domine, ne in furore
Psalmmotetten II - Domine, ne in furore
- Die Secunda pars wird vom Hauptmotiv in Umkehrung eröffnet.
- Auch die „Exclamatio“ (Ausruf) aus der Prima pars findet wieder Verwendung - Ebenso wird das Motiv von „salutis
meae“ variiert wieder aufgenommen - Anstelle einer Tenorkonzeption oder
einer Choralparaphrase setzt Josquin eine motivisch durchgearbeitete
Struktur
Paradigma (Durch-)Imitation
- In der älteren Forschung galt die Imitation als das Paradigma der Josquin-Zeit:
- Als ihr „Erfinder“ gilt Josquin, vgl. etwa Gustave Reese, Music in the
Renaissance, New York 1954, 249f.
- Insbesondere die „Durchimitation“ eines Soggetto durch alle Stimmen galt als
bedeutendes Merkmal der Epoche.
„Die Entwicklung von Imitationstechnik und Textausdeutung, sinnfälliger
Verknüpfung einander nachahmender Stimmen und sinnfälliger Darbietung ihrer Texte, gehören zu den
wesentlichen Errungenschaften jener Epoche, die wir nach ihrem größten Komponisten das Zeitalter Josquins Desprez nennen.“
Ludwig Finscher, Zum Verhältnis von Imitationstechnik und Textbehandlung im Zeitalter Josquins, in: Ders. (Hrsg.), Renaissance-Studien, FS Osthoff, Tutzing1979, S. 57.
Paradigma (Durch-)Imitation
- Als das paradigmatische Werk für die Technik der Durchimitation galt
Josquins Motette Ave Maria ... Virgo serena
- Josquins Ave Maria imitiert am Anfang und auch in späteren Teilen des
Werkes einen Soggetto durch alle Stimmen
- Als weiteres Element treten deklamatorische Blöcke hinzu
Paradigma (Durch-)Imitation
- Innerhalb des Motetten- und
Messenwerks von Josquin ist die
Satzstruktur des Ave Maria jedoch nicht die Regel (vgl. die bislang analysierten Motetten Domine, ne in furore tuo;
Memor esto etc.)
- Keineswegs als paradigmatisch kann diese Satzstruktur außerdem für die Zeitgenossen Josquins gelten.
Paradigma (Durch-)Imitation
- Die Paradigmatisierung der Durch- imitation wie des Ave Maria als der Josquin-Motette ergibt sich einerseits aus dem Renaissance-Bild der älteren Forschung,
- andererseits aus dem prominenten
Platz der Motette als Eröffnungsstück von Petruccis erstem Motettendruck Motetti A, Venedig 1502 und in der
Folge als Eröffnungsstück der Motetten in der alten Gesamtausgabe.
Paradigma (Durch-)Imitation
„Eine geradezu vollkommene Verschmelzung nordischer und italienischer Stilelemente gelang
Desprez in dem vierstimmigen ‚Ave
Maria, gratia plena ... Virgo serena‘, mit dem Petrucci den frühesten
Motettendruck, die ‚Motetti A. numero trentatre‘ (1502) eröffnete.“
Helmuth Osthoff, Josquin Desprez, Bd. 2, Tutzing 1965, S. 86.
Paradigma (Durch-)Imitation
- Petruccis Wahl der Motette als
Eröffnungsstück erhält so autoritatives Gewicht
- Als weitere Gewährsmänner nennt Osthoff Heinrich Glarean (Dodekachordon 1547) - und Ludwig Senfl aufgrund dessen
sechsstimmiger Bearbeitung
- Das Paradigmatische des Ave Maria
beruht daher mehr auf der Akzeptanz von Autoritäten, denn auf dem analytischem Vergleich mit anderen Motetten.
Hörbeispiel Josquin
Ave Maria ... virgo serena
Jean Mouton
Ave Maria ... virgo serena
Mouton – Ave Maria ... virgo serena
- Moutons Motette basiert auf derselben Sequenz „Ave Maria ... virgo serena“, wie die Motette Josquins
- Das Werk ist zweiteilig und fünfstimmig - Mouton benutzt den Choral in seiner
Funktion als Materiallieferant beinahe wie einen Steinbruch
- Stimmenblöcke treten hauptsächlich als Beginn (1ff) und als Schlussbildungen auf (Mens. 16ff, 82ff etc.)
Mouton – Ave Maria ... virgo serena
Moutons Verwendung der Imitation ist demjenigen der sog. „Durchimitation“
eher entgegengesetzt:
- Imitation ist kein wesentliches Element des Satzes
- Es wird nicht notwendig exakt imitiert, vielmehr ungenaue Imitation zu einem Strukturprinzip (unter anderen)
- Soggetti werden bisweilen nicht imitiert, sondern in kleinen Stimmenverbänden addiert
Mouton – Ave Maria ... virgo serena
Fehlende Imitation
- Soggetto T I (Choral) in Mens. 1ff Ungenaue Imitation
- Der Quartabstieg m. Terzsprung des Altus in Mens. 13ff wird vom Superius Mens. 12ff ungenau vorausimitiert, dieser nicht exakt vom Tenor I in Mens. 16 übernom-men
- Der Altus der Mens. 31ff imitiert den Soggetto der Mens. 22ff nur
andeutungsweise (Brevis->Semibrevis;
Terzgang aufwärts anstatt abwärts ...)
Mouton – Ave Maria ... virgo serena
- Altus und Superius in Mens. 36ff und 39ff führen den „Salvatoris“-Soggetto verändert und verkürzt weiter
Soggetto im kleinen Stimmenverband - Obgleich der Bassus den „Dominus“-
Soggetto des Tenor I in Mens. 8ff in der Unterquinte „imitiert“, werden die
Stimmen durch den Tenor II in Terzen zum Bass faktisch zu einem
Stimmenverband/Stimmenblock zusammengefasst
Kanon Josquin
Pater noster/Ave Maria
Kanontechnik
- Die Kanontechnik ist von großer Bedeutung für die Musik des 15. u. 16. Jh.
- Zwei oder drei, ggf. auch mehr Stimmen gleichen sich exakt in Diastematik und Rhythmus
- Sie folgen einander in einem festen
temporalen Abstand (etwa drei Breven)
- und in einem festen Intervallabstand, etwa als Oberquintkanon oder Oktavkanon etc.
- Vorsicht: In Tinctoris‘ Diffinitorium findet man die Beschreibung des Kanons unter
„Fuga“
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Motette zu sechs Stimmen
- Kanonstimmen sind Tenor und Altus - Der Altus folgt dem Tenor im Abstand
dreier Mensuren in der Oberquinte
(Prima pars) und im Einklang (Sec. p.) - Beide Kanonstimmen nehmen
andeutungsweise die Choralvorlagen auf - Das Pater noster die Oratio Domini A GT
812 in Umrissen, das Ave Maria nur die Anfangsnoten der Antiphon
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Der Grund liegt in der zwangsläufigen Anpassung der Vorlagen an die
Kanonstruktur
- Bei exakter Übernahme würden sich satztechnisch unmögliche
Fortschreitungen und Dissonanzen ergeben
- Beide Phänomene – Choralverwen-
dung im Kanon und Anpassung – sind die Regel
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Die Kanonstruktur verdoppelt den Tenor, damit das Tenorprinzip
- Mindestens zwei Stimmen sind durch den Kanon in ihrem Ablauf
determiniert
- Durch den unabänderlichen Verlauf des Kanons sind Kadenzen prinzipiell eher von sekundärer Bedeutung und können im Extremfall bis zum Ende entfallen
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Durch seinen festen Ablauf determiniert der Kanon auch die anderen Stimmen - Daher müssen sie sich doch dem
Kanonablauf anpassen
- Erklingen die Kanonsoggetti mit einem gewissen Abstand, besteht Freiraum für die nicht am Kanon beteiligten Stimmen - Folgen die Soggetti unmittelbar oder
überlappen sie, so in der zweiten Hälfte der Prima pars und in der Secunda pars, sind die übrigen Stimmen stark determiniert
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Josquin nutzt in der ersten Hälfte der Prima pars den Freiraum, indem er die übrigen Stimmen durch Imitation in das Kanongefüge mit einbezieht
- Der Superius wirkt dabei beinahe als dritte Kanonstimme
- In der zweiten Hälfte und im Ave Maria verlegt sich Josquin auf den Bau von Stimmblöcken (vgl. bes. ab Mens. 70) - Im Ave Maria sind diese Blöcke sehr
kleingliederig
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Die „freien“ Stimmen werden dem
Kanon damit so angepasst, dass dieser im Stimmengefüge „verschwindet“
- Der Satz nimmt einen stark
deklamatorischen, gebets- bzw.
litaneihaften und zum Ende beinahe ekstatischen Charakter an
- Damit nimmt Josquin die Gattung der
Vorlagen auf, die beide zentrale Gebete der (kath.) Kirche sind
Josquin – Pater noster/Ave Maria
- Die satztechnischen Zwänge werden so von Josquin zu einer Profilierung des
Gebetscharakters seiner Motette verwendet
Das Pater noster/Ave Maria ist eines der letzten Werke von Josquin. Er hat testamentarisch bestimmt, dass die
Motette nach seinem Tod als Bittgebet bei der alljährlichen Marienprozession vor seinem Haus aufgeführt werden solle.
Alternatimpraxis
Jacob Obrecht – Salve regina à 3
- In der liturgischen Praxis ab dem 15. Jh.
ist es Brauch, den Gregorianischen Choral abwechselnd einstimmig und mehrstimmig vorzutragen
- Dies nennt sich „Alternatim-Praxis“ (von lat. alternare – abwechseln)
- Das Beispiel von Jacob Obrecht zeigt eine eher einfache Satzstruktur
- Der Choral wird entweder in Pfundnoten vorgetragen („Salve“) oder
paraphrasiert („Vita, dulcedo“)
Jacob Obrecht – Salve regina à 3
- Die freien Stimmen folgen einander vielfach im vollen Satz in Dezim- oder Sextparallelen (vgl. Mens. 2, 9ff u.ö.) - oder imitieren sich (vgl. Mens. 34ff)
- Imitation findet dabei in der Regel nicht im vollen Satz statt
- Dieser eher einfach strukturierte Satz könnte auf Formen schriftlosen
Musizierens mit dem Choral als Basis zurückgehen („super librum cantare“)