Die Motette von
Guillaume de Machaut bis
Johann Sebastian Bach
Von der
„verlorenen Generation“
zu
Palestrina
Die Generation nach Josquin
(„verlorene Generation“)
Die Generation nach Josquin
Bedeutende Komponisten zwischen der Josquin-Generation und Palestrina sind:
- Philippe Verdelot (1480/85-1530/32) - Jean L‘Héritier (ca. 1480-ca. 1561) - Nicolas Gombert (ca. 1495-1560) - Adrian Willaert (ca. 1490-1562)
- Clemens non Papa (1510-1555/56)
Die Generation nach Josquin
Die Generation zwischen Josquin und Palestrina bzw. Lasso wird deshalb
bisweilen die „verlorene Generation“
genannt, weil sie in der Rezeption signifikant weniger Beachtung fand, als die Generation Josquins und
Palestrinas.
Die Generation nach Josquin
In seinem 1556 erschienenen Traktat Practica musica kritisiert der
Musiktheoretiker Hermann Finck (c.1495-1558) die „nuditas“, die
„Nacktheit“ des Josquin-Stils.
Finck spielt damit auf die geringstim-
migen Abschnitte bei Josquin an, die
sich aus der Satztechnik ergeben.
Die Generation nach Josquin
„Floruit tunc etiam Iosquinus de Pratis, qui vere pater Musicorum dici potest, cui multum est attribuendum: antecellit enim multis in subtilitate & suavitate, sed in
compositione nudior, hoc est, quamvis inveniendis fugis est acutissimus, utitur tamen multis pausis.“
Hermann Finck, Practica musica,
Wittenberg 1556
Die Generation nach Josquin
Als Reaktion auf die durchbrochene
Gestalt des Satzes in der Josquin-Zeit komponiert die nachfolgende
Generation einen sehr dichten Satz.
Dabei wird das Moment der Imitation
nicht aufgegeben, vielmehr das bereits
bei Josquin erkennbare mosaikartige
Gestaltungsmuster zur Norm erhoben.
Die Generation nach Josquin
Diese Satztechnik findet sich bei Adrian Willaert wie Nicolas Gombert und
anderen Komponisten, in einer weniger dichten, eher mit der Tendenz zur
Regelmäßigkeit versehenen Faktur auch bei Giovanni Pierluigi da
Palestrina.
Bei Finck ist es vor allem Nicolas
Gombert, der hervorgehoben wird:
Die Generation nach Josquin
„Und doch gibt es in unserer Zeit neue schöpferische Menschen, zu denen auch Nicolas Gombert zählt, ein Schüler des in frommem
Andenken stehenden Josquins, der allen Musikern die Richtung, nein, vielmehr den genauen Weg zum
erstrebenswerten Imitationsstil und
der Verfeinerung zeigt.“
Die Generation nach Josquin
„Er komponiert Musik, die sich gänzlich vom Vorhergehenden
unterscheidet. Denn er vermeidet Pausen, und seine Komposition ist voller Harmonie [concordantia] und Kontrapunkt [fuga].“
Hermann Finck, Practica musica,
Wittenberg 1556
Adrian Willaert
- geb. um 1490 in den Niederlanden, vielleicht in Brügge oder Roeselare - gest. 7. Dezember 1562 in Venedig - Angeblich Schüler von Jean Mouton - 1515 in Rom, dann in Ferrara in den
Diensten Kardinals Ippolito I. d‘Este - 1520-1527 in Diensten des Herzogs
Alfonso d‘Este
- Ab 1527 Kapellmeister an San Marco in
Venedig
Adrian Willaert
- Bedeutend für die Entwicklung der Doppelchörigkeit, die in der Basilika
San Marco mit ihren Emporen effektvoll eingesetzt werden konnte
- Bedeutende Schüler Willaerts waren Die Komponisten Cipriano de Rore,
Constanzo Porta und Andrea Gabrieli
Die Musiktheoretiker Nicola Vicentino
und Gioseffo Zarlino
Adrian Willaert – Verbum bonum
Merkmale der Motette - sechsstimmig
- Zweiteilig
- Beide Partes stehen im Tempus imperfectum
- Tenor und Quintus bilden einen Kanon - In der Prima pars in der Oberquinte mit
eineinhalb Mensuren Abstand
Adrian Willaert – Verbum bonum
- In der Secunda pars in der Unterquinte – der Altus geht voran, mit zwei
Mensuren Abstand
- Grundlage des Kanons ist die
Mariensequenz „Verbum bonum et suave“
- Tenor bzw. Kanon und die freien
Stimmen haben denselben Text.
Adrian Willaert – Verbum bonum
- Der sechsstimmige Satz ist sehr dicht komponiert
- Die freien Stimmen orientieren sich vielfach am Kanonsoggetto
- Die Orientierung kann relativ eng sein, wie etwa bei „et suave“ Mens. 5ff
(nur der Bassus ab Mens. 4 weicht deut- licher ab)
- Oder der Soggetto wird auf vielfache
Weise variiert
Adrian Willaert – Verbum bonum
- So etwa bei „per quod Christi“ in Mens.
15ff, wo Altus und Bassus mit dem Terzfall relativ eng am
Kanonsoggetto /Choral sind
- Der Cantus übernimmt nur den Terzfall, fügt eine Punktierung und einen
Quartsprung hinzu
- Der Sextus geht ganz eigene Wege
Adrian Willaert – Verbum bonum
- So entsteht ein sehr kleingliederiger Satz, der keine größeren Zäsuren aufweist
- Kadenzen werden zumeist
„übersungen“, wie etwa in Mens. 10f:
Clausula cantizans im Cantus, basizans im Bassus
Die Altklausel ist im Sextus, dort aber in den melodischen Gang integriert und
nicht dessen Abschluss
Adrian Willaert – Verbum bonum
- Die Kanonstimmen nehmen keine
Notiz von der Kadenz, sondern bilden eine eigenständige Schicht
- Diese satztechnisch eigenständige Schicht wird jedoch durch den
kleingliederigen, dichten Kontrapunkt so in das Gesamtgefüge integriert,
dass die Eigenständigkeit des Kanons
deutlich relativiert wird.
Nicolas Gombert
- um 1495 bei Lille (?) geboren - gest. um 1560 in Tournai
- Schüler Josquins? (nach H. Finck)
- Spätestens ab 1526 in den Diensten des Kaisers Karl V.
- Ab 1529 „Maistre des enfants de la
chapelle“, damit für die Ausbildung der Chorknaben der Kaiserl. Kapelle
zuständig
Nicolas Gombert
- 1530 Reisen über Bologna, Mantua, Innsbruck, München, Augsburg; 1531 Regensburg mit Karl V., dann in
Spanien
- 1538 aufgrund eines Vergehens an einem Kapellknaben in Ungnade
gefallen
- Als Galeerensträfling (?) komponierte er seinen Schwanengesang
- Schließlich vom Kaiser begnadigt
Nicolas Gombert – Media vita
Merkmale der Motette - Sechsstimmig
- Einteilig
- Die Motette besitzt keinen Kanon,
- sondern ist eine Paraphrasierung der Offiziumsantiphon „Media vita in morte sumus“ (cao 3732)
- Die Antiphon bietet die Materialbasis,
gewissermaßen den Steinbruch für die
gesamte Motette.
Nicolas Gombert – Media vita
- Die Abschnitte des sechsstimmigen Satzes gehen dabei weitgehend
pausenlos ineinander über
- So wird vom Quartaufstieg des
Choralbeginns d-e-f-g mit folgendem Sekundschritt f-e in allen Stimmen nur der Quartaufstieg übernommen.
- Dann gehen die meisten Soggetti
andere Wege, auch in ihrem Verhältnis
zu einander
Nicolas Gombert – Media vita
- Von Folgeabschnitt „in morte sumus“
mit seinem prägnanten Quintsprung bleibt nur der Quintsprung und die Tendenz zum nachfolgenden
Sekundabstieg übrig
- Bisweilen kann dieser Partikel alleine stehen: Sextus Mens. 20f
- Im übrigen wird der dem Choral
entnommene Partikel im contrapunctus
floridus weitergeführt
Nicolas Gombert – Media vita
- Dabei relativiert Gombert, ähnlich
Willaert, die Bedeutung der Kadenzen - So wird etwa die Kadenz in Mens. 14f
mit Superiusklausel im Sextus,
Tenorklausel im Altus und Bassklausel im Bassus von Cantus und eigentlich auch vom Tenor „übersungen“
- Eine wirkliche Zäsurwirkung stellt sich
nicht ein.
Giovanni Pierluigi da Palestrina
- geb. zwischen 1514-1525 in Palestrina - gest. 1594 in Rom
- 1540 in Rom, Ausbildung bei Claude Goudimel
- 1544-1561 Organist in Palestrina - Dann „Magister puerorum“ an der
Peterskirche und noch 1551 Kapellmeister - Von Papst Julius III. in das
Sängerkollegium der Cappella Sistina
berufen
Giovanni Pierluigi da Palestrina
- Von Paul IV. entlassen, da Palestrina verheiratet und nicht im geistlichen
Stand war
- 1555 Kapellmeister an San Giovanni im Lateran
- 1561 an Santa Maria Maggiore - 1571 wieder Kapellmeister der
Päpstlichen Kapelle
- Umfangreiches Schaffen von über 100 Messen, dazu Motetten und einige
Madrigale
Palestrina – Super flumina babylonis
Merkmale der Motette
- vierstimmige Motette CATB über Ps 136,1.2 (Vg)
- Die Motette verwendet keinen Cantus prius factus, ist also frei komponiert
- Die Motette steht im authentischen Deuterus
- Dem Modus entsprechend sind die
Umfänge (Ambitus) der Einzelstimmen
gebildet
Palestrina – Super flumina babylonis
- Dabei bilden steht Tenor und Cantus sowie Bassus und Altus ein Paar
- Hier ist der Tenor authentisch, also
ebenso der Cantus und entsprechend das Bassus-Altus-Paar plagal
Tenor c e-e’ f’ authentisch Cantus c’ e’-e’’ authentisch Bassus A-c’ plagal
Altus a-a’ plagal
Palestrina – Super flumina babylonis
- Die einzelnen Verse bzw. Teilverse sind als Abschnitte klar abgegrenzt:
1a Mens. 1-14 1b Mens. 14-23 1c Mens. 24-39 2a Mens. 39-55 2b Mens. 55-71
- die jeweiligen Abschnitte sind durch eigene Soggetti bzw. Gestaltung
charakterisiert
Palestrina – Super flumina babylonis
Der Anfangssoggetto „Super flumina Babylonis“ kann in seiner Gestalt als exemplarisch für Palestrina gelten:
- Beginn mit Brevis-Semibrevis-Minima -> Beschleunigung zu
- Punktierung zum ersten Haltepunkt a hin + Superiusklausel
- Hervorheben des Hochtons c, zugleich
die Repercussa des III. Modus, durch
Synkope
Palestrina – Super flumina babylonis
- anschließend sekundweiser Abstieg zur Finalis e, die zugleich Finalis des
Modus ist
- Damit sind die entscheidenden
Strukturtöne a, c und e als solche hervorgehoben
- Zugleich ist der Soggetto nahe am Text entworfen
- Generell orientiert sich Palestrina eng an
den Betonungen des Lateinischen
Palestrina – Super flumina babylonis
- dies war vor ihm nicht notwendig bzw.
kaum der Fall
- Reinhold Schlötterer bezeichnet dieses Stilmerkmal Palestrinas als „Vocalità“
- Und spricht von „gestalthaftem Sprechen mit Melodie“ (Reinhold
Schlötterer, Der Komponist Palestrina,
Augsburg 2002, S. 26)
Palestrina – Super flumina babylonis
- Der bzw. die Soggetti werden in allen Stimmen durchgeführt
- Der Altus ist dabei stets die nachrangigste Stimme
- Sein Soggetto wird daher in Mens. 5 unterbrochen, der Kadenzschritt der Superiusklausel relativiert
- Vers 1b ist als deklamatorischer Block hervorgehoben, mit besonderer
Betonung des „sédimus“
Palestrina – Super flumina babylonis
- Der Lamento-Charakter der
Psalmvertonung kommt zum einen durch den phrygischen Modus zur Geltung
- Zum andern findet sich in Mens. 16 ein Querstand c-cis‘ zwischen Bassus und Altus
- In Mens. 17f zudem eine Kadenz in a-
mi, die als Ausdruck der Klage gilt
Palestrina – Super flumina babylonis
Palestrinas musikalischer Satz ist penibel durchgearbeitet und von
kontrapunktischer Konsequenz wie von großer Klarheit geprägt.
In Verbindung mit seiner Textnähe galt
daher der Kontrapunkt Palestrinas bald
als „schulmäßig“.
Palestrina – Super flumina babylonis
Spätestens seit dem Gradus ad
Parnassum von Johann Joseph Fux gilt Palestrinas musikalischer Satz als das Paradigma für Kontrapunkt
schlechthin.
Palestrina ist „vielleicht die erste Komponistenpersönlichkeit der
Musikgeschichte, die nach dem Tod nicht nur als ein bloßer Name in
Erinnerung blieb, vielmehr über die Jahrhunderte hinweg im
Musikleben und Musikdenken eine bemerkenswerte Rolle spielte“
Reinhold Schlötterer, Der Komponist Palestrina, S. 7